Otto, ihr habt hier in Schwabhausen eine Theaterinitiative, die sich „Unser Theater“ nennt. Was verbirgt sich hinter diesem Namen? Ist der Name eher zufällig gewählt oder steckt dahinter eine Lebens- oder Theaterphilosophie?
Das ist eine lange Geschichte, in der Liebe und Engagement steckt. „Unser Theater“ ist die Quintessenz einer ganzen Reihe von Begegnungen mit dem Leben selbst und mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen. „Unser Theater“ ist nicht ausschließlich ein Theaterprojekt, sondern auch ein Kulturzentrum, eine Kunstinitiative, deren Mittelpunkt eine Theaterwerkstatt, ein „Theaterlabor“, ist. Der Name ist nicht zufällig. Als mich ein Freund fragte: „Wenn du selbst ein Theater haben könntest, wie würdest du es nennen?“, lautete meine Antwort: „Unser Theater, deines, meines, das Theater von uns allen.“ Das ist für mich auch heute noch gültig. Unser Projekt gehört allen, die es mit uns teilen wollen, auf dem Niveau, das dafür erforderlich ist, mit der Ernsthaftigkeit und der Abenteuerlust, die man auch dafür braucht. Es ist ein Raum für Musik, Poesie, Literatur, Malerei, für kreative und spielerische Ausdrucksformen allgemein. Es ist eine offene Bühne für Deutsche und Nicht-Deutsche, die mit ihrer Kunst etwas auszudrücken versuchen, und gleichzeitig ist es ein neuer Raum für die Leute aus dem Dorf und der Umgebung, die unsere Arbeit mit uns teilen oder auch einfach nur mit uns über dieses und jenes reden wollen.
Das Haus, in dem „Unser Theater“ stattfindet, steht neben der Dorfkirche und gilt in der Gegend als Architekturdenkmal. Ein Teil des Gebäudes ist bewohnbar, den anderen Teil renovieren wir gerade. Das ist die eigentliche Herausforderung, die Restaurierung des Hauses fortzusetzen und parallel dazu ein Kulturprogramm auf die Beine zu stellen. Die Garage, der Stall und das Hofgelände sind die Aktionsräume. Die modeln wir für jede Aktivität um und schaffen für die Aufführungen, Konzerte oder Ausstellungen eine neue und ungewohnte Atmosphäre. Ich bezeichne das als ungewohnt, weil man in keinem Moment das Gefühl verliert, dass man sich auf einer Baustelle befindet, auf der man eine Arbeitspause macht, um etwas völlig Ungewöhnliches, etwas nicht Vertrautes zu machen. Im Fall des Theaters und unserer bisherigen Inszenierungen war dieser Ort selbst das Bühnenbild. Es geht allgemein darum, die Bedeutung der Dinge umzukehren, oder ihren gewohnten Gebrauch vor den Augen des Publikums und ohne irgendwelche Tricks zu verändern. Wir zeigen den ZuschauerInnen die Möglichkeiten des Geländes und setzen sie damit in Beziehung zu den SchauspielerInnen. So sind sie mittendrin in unserer „Baustelle“.
Dich hat es als Kolumbianer nach Bayern verschlagen. Ist Bayern für das schöpferische Tun besonders einladend, die Menschen besonders rezeptiv? Oder gibt es persönliche Gründe, dass du in Schwabhausen bist?
Während ich in der Slowakei Theaterregie studierte, bin ich gewöhnlich in den Sommermonaten nach Deutschland gefahren, um Arbeit zu suchen und mein knappes Stipendium aufzubessern. Bei einem dieser Aufenthalte lernte ich in München Burkard Weyer, einen Bauingenieur, kennen, der ein Zimmer in Schwabing vermietete. Mit der Zeit wurden wir gute Freunde. Eines Tages zeigte er mir sein Haus, einen Besitz gut 40 Kilometer von München entfernt, in einem Ort mit einem schwer auszusprechenden Namen: Schwabhausen in der Gemeinde Weil. Auch heute noch, mit einem Blick zurück, bleibt der inspirative Flair dieser drei Jahre alten Geschichte gewahrt. Einer der wichtigsten Beweggründe, die mich in dieses bayrische Dorf führten, war, einen Ort zu haben: Einen Ort, an dem man eigene Projekte verwirklichen und sich mit den Problemen auseinander setzen kann, die das Theatermachen und die Theaterforschung aufwerfen. Die Gelegenheit, einen eigenen Ort dafür zu haben, bietet sich heutzutage nur selten. Da kommt es weniger darauf an, wo sich dieser Ort befindet, als ganz einfach die Gelegenheit zu ergreifen. Es gibt nirgendwo auf der Welt einen Ort oder eine Region, die einfach so zum schöpferischen Tun anregen. Das schöpferische Schaffen ist das Ergebnis einer ganzen Reihe von Anreizen, die sich nicht unmittelbar mit einem allgemeinen geografischen Ort in Beziehung bringen lassen. Vielmehr ist es das Haus, dieser alte verlassene Hof, der uns als Ort inspiriert, und es ist das Ergebnis dieser Inspiration, die uns danach in Kontakt mit den DorfbewohnerInnen und der Region bringen.
Kannst du euer Theater beschreiben? Welche Stücke führt ihr auf? Inszeniert ihr nach bestimmten Methoden?
Über sich selbst zu sprechen, ist unmöglich, denn das eigene Ego kann einem leicht ein Bein stellen. „Unser Theater“ ist nicht darauf aus, viele Stücke zu inszenieren. Zur Zeit ist uns ein Stück im Jahr genug. Wir wollen mit unserer Arbeit mehr als nur Eintrittskarten an ein Publikum verkaufen. Von vornherein versuchen wir den SchauspielerInnen Eigenstudium und Recherche zu ermöglichen. Es geht nicht darum, schnell auf eine Premiere hinzuarbeiten. Wir wollen uns die notwendige Zeit nehmen für einen Prozess, der nicht oberflächlich und schnell, sondern intensiv ist, der bei den DarstellerInnen Fragen aufwirft und zu Antworten führt, die nie definitiv sein werden.
Was die Themen betrifft, die wir bearbeiten, so haben sie immer etwas mit dem Prozess zu tun, den wir erfahren, seitdem wir in diesem Haus und an diesem Ort leben. Das Haus war und ist von den Erinnerungen an zwei Weltkriege bewohnt. Das spürt man noch immer in seinen Mauern. Es ist als wenn sich darin bestimmte Kräfte rührten, die uns dazu verpflichten, eine andere Geschichte zu beginnen oder ein neues Kapitel aufzuschlagen. Für mich ist es kein Zufall, dass wir uns hier in die Geschichte dieses kleinen Dorfes einmischen. Ich hatte schon einige Jahre in Europa studiert und rüstete mich für die Rückkehr nach Lateinamerika. Da tauchte diese Gelegenheit auf, genau zu dem Zeitpunkt, als ich bereit zur Rückkehr war. Ich denke immer noch, dass es sich nicht um einen Zufall handelte. Die Beziehung zwischen diesem Projekt und dem Leben scheinen von den Prozessen und den Etappen des Seins und der Dinge geprägt zu sein. Wenn man will, kann man dabei von Dialektik reden.
Unser erstes Stück war „Don Quijote“, nach einer Version von Michael Bulgakov, das war das Sprungbrett. Das zweite Stück war „Quai Ouest“ von B. M. Koltès, und unsere jüngste Arbeit ist eine creación colectiva, eine Gemeinschaftsproduktion, und nennt sich „Die ersten sieben Tage“. Seit den utopischen Visionen von Cervantes über den Existentialismus des französischen Autors bis zu unserer letzten Inszenierung gibt es immer eine Mischung aus persönlicher Suche und einem Bedürfnis, auf unsere Weise auszudrücken, was in dem Haus in Schwabhausen passiert.
Die KollegInnen, die schon mit uns gearbeitet haben, hatten Gelegenheit, sehr unterschiedliche Menschen mit Interesse am Theatermachen kennen zu lernen. Nach jeder Aufführung werden im Hof um ein Feuer herum die Meinungen ausgetauscht. Diese Beziehung zum Zuschauer oder der Zuschauerin ist für den Schauspielenden mehr als ein unpersönlicher Applaus. Er oder sie kommt als Mensch zum Vorschein, kann von seinen Erfahrungen sprechen und den ZuschauerInnen Fragen stellen. Die Beziehung zwischen Beobachter und Beobachtetem wird überwunden, es geht darum, sich gegenseitig mitzuteilen.
Bedeutet das Theater für dich eine Möglichkeit, deine eigenen Wurzeln – die lateinamerikanische und die kolumbianische Lebenswelt, ihre Magie, die vitale Lebenskraft der Menschen und die Schattenseite, die zerstörerische Kraft der Gewalt – verständlich zu machen, oder spielt das keine Rolle? Das Theater hat ja auch einen universalen Ansatz und entsprechende Themen…
Das Theater ist eine der wichtigsten Formen, die Komplexität unserer lateinamerikanischen Welt und ihrer Wurzeln verständlich zu machen, die viel mit der Kunst zu tun haben. Die soziale Ungerechtigkeit hat unseren Kontinent an den Abgrund einer wirklich erschreckenden Realität geführt, die EuropäerInnen manchmal irreal vorkommt. Darin liegt der Erfolg des magischen Realismus von Gabriel García Márquez, der für die Leute hier so etwas wie die Kombination aus Fest und Sonne sein kann, vermischt mit dem geringen Wert, den wir schon fast gewohnheitshalber dem Leben selbst geben.
Wir müssen lernen, die Gewalt, die wir in uns tragen, zu kanalisieren, ihr eine Möglichkeit geben, sich irgendwie „auszuleben“ und Grenzen zu überschreiten, sie bis dahin zu einer Art „persönlichem Stil“ zu machen. Das hat nichts mit Resignation oder Rache oder dem viel beschworenen „Temperament“ der Latinos zu tun. Im Gegenteil, wir müssen die Gewalt zu einer Quelle machen, die uns ermöglicht, mittels des Theaters oder allgemein der Kunst die Würde des Menschen zu reklamieren. Zu erreichen, dass die Arbeit der lateinamerikanischen KünstlerInnen Anerkennung findet, bedeutet schon einen Schritt hin zur Universalisierung. Unsere Quellen sind in gleichem Maß reich an präkolumbianischer Geschichte wie seit über 500 Jahren von Tragik erfüllt.
Ziel ist, dass das Publikum alles nicht nur als bloße Aufführungen, Konzerte oder Ausstellungen erlebt, sondern „dahinter“ blickt und unsere Themen und auch unsere Probleme besser versteht. In dem Theaterlabor versuchen wir nicht, Gewalt neu zu schaffen, zu re-kreieren, sondern darüber hinaus zu gehen. Der polnische Regisseur Jerzy Grotowski würde sagen, „zu den Quellen zurückzukehren“. Um die einfache Arbeit an der Form zu lassen und darüber hinaus zu gehen, um den eigentlichen Sinn der Dinge zu entdecken, benutzen wir keine großartigen und reich geschmückten Bühnenbilder, pompöse Kostüme und raffinierte Lichteffekte. Wir schreiten sozusagen zurück, denn wir müssen den Menschen neu entdecken um zu verstehen, wozu er mit seinem Körper fähig ist. Wenn er wirklich von Natur aus ein gewalttätiges Wesen sein sollte, wollen wir zur Frage kommen: Warum ist das so? An diesem Punkt beginnt unsere Arbeit.
Zu euch kommen Leute aus aller Welt. Wie läuft der Austausch ab?
Unser Raum steht allen offen, in „Unser Theater“ waren schon afrikanische, asiatische, arabische und europäische KollegInnen. Im August hatten wir Besuch von lateinamerikanischen Künstlern, die in Deutschland leben. Die Gruppe Arbol Luz war mit ihrem „Latinokunstprojekt“ zugegen, einer kollektiven Aktion mit Komponenten von Malerei, Fotografie und Bildhauerei. Ricardo Villacis aus Ecuador, Alberto Jerez aus Kolumbien und Jaime Colán aus Peru bauten gemeinsam eine Installation mit dem Namen „GesichterInnenLeben“ in einem der Stallgebäude auf. Auch andere lateinamerikanische KünstlerInnen waren dieses Jahr mit Tanz, Theater und Musik bei uns.
Ein Wort zum Schluss?
Wir leben ja hier in Bayern in einem kleinen Ort, der einerseits reich an Bräuchen und Traditionen ist, in dem aber andererseits das kulturelle Angebot sehr eingeschränkt ist. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, den Leuten hier zu zeigen, dass Kunst kein Luxus, sondern eine Lebensnotwendigkeit ist. Und dass der Sinn von Kunst vor allem darin wurzelt, Menschen und Kulturen zu verstehen. Hier in der Provinz in einem Dorf, in dem weniger als tausend Menschen leben, bieten wir ein vielfältiges Kulturprogramm an, auch mit dem Ziel, das kulturelle Angebot zu dezentralisieren, das hier in der Region auf München und Augsburg konzentriert ist. Die Mittel, die wir dafür einsetzen, sind die Ruinen eines Hauses, auf dessen Hof wir die Möglichkeit bieten, das Feuer nicht ausgehen zu lassen und zu zeigen, dass die Wärme zwischen Menschen noch immer die beste Wärmequelle ist.