Jahrzehntelang hatte in Venezuela eine gesellschaftliche Gruppe regiert, die ziemlich genau dem entsprach, was André Gunder Frank als „Lumpenbourgeoisie“ bezeichnet hatte: eine parasitäre Klasse ohne gesellschaftsveränderndes Potenzial, die ihre eigene Unterwerfung unter die bestehenden Weltmarktverhältnisse beförderte und im Inneren durch Parteien repräsentiert wurde, die sich politisch nicht scharf voneinander abgrenzten, sich im Amt abwechselten und dafür sorgten, dass die Extraktion der Rohstoffe in den Norden reibungslos verlief, ohne die reichlichen Einnahmen aus dem Erdölgeschäft zur Industrialisierung Venezuelas zu nutzen. Einen guten Teil steckten sie in ihre eigene Tasche, einen kleinen Teil streuten sie unters Volk, um die Leute bei Laune zu halten.
Dann kam Chávez und fegte sie von der politischen Bühne und den Töpfen hinweg, um fortan ein ähnliches Modell zu betreiben, nur dass der Teil, der unter den Armen verteilt wurde, jetzt ungleich größer war, was auch durch die hohen Ölpreise möglich wurde. Begleitet wurde diese Umverteilung des Volkseinkommens zugunsten der einkommensschwachen Bevölkerungsschichten von einem sozialistischen Diskurs und einer Außenpolitik, die sich gegen die Dominanz der USA und des reichen Nordens wandte und stattdessen auf eine Allianz des armen Südens setzte, in erster Linie der Länder Lateinamerikas und der Karibik.
Es ist unklar, ob man den Chavismus als „links“ bezeichnen sollte. Schließlich ist seine wirtschaftliche Praxis, jenseits des Diskurses, nach wie vor kapitalistisch und extraktionistisch, und innerhalb des immer stärker werdenden militärischen Flügels gibt es ausgeprägte antikommunistische Tendenzen. Klar ist dagegen, dass der dominierende Teil der Opposition weit rechts steht: Anhänger*innen eines vollkommen unregulierten Marktes, die ihren Rassismus nur mühsam verstecken und die ranzigsten Figuren der internationalen Rechten hofieren. Ihr wilder Hass auf den Chavismus ist nicht nur daraus zu erklären, dass er ihnen die Henne mit den goldenen Eiern weggenommen hat, sondern auch, dass er die unteren Klassen aufgewertet und ihnen ein bis dato unvorstellbares Selbstbewusstsein gegeben hat.
Schon kurz vor Chávez‘ Tod 2013 begannen die Erdölpreise einzubrechen und die Inflation auszuufern. Die Subventionen für Nahrungsmittel, die einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dazu gebracht hatten, ihre bisherige Arbeit aufzugeben und sich dem lukrativeren Weiterverkauf von Nahrungsmitteln nach Kolumbien zu widmen, waren kaum noch zu finanzieren. Als Maduro das Ruder übernahm, verschlechterte sich die Situation zusehends. Eine Weile noch hielt die Treue zum verstorbenen „Ewigen Kommandanten“ die chavistische Basis bei der Stange, aber die zunehmende Verschlechterung der Lebensverhältnisse und die offensichtliche Unfähigkeit von Maduro, geeignete Maßnahmen zu deren Verbesserung zu treffen, ließ die Stimmung bald kippen. Im Frühjahr 2014 startete die Opposition ihren ersten Versuch, Maduro zu stürzen. Mit der Strategie der Guarimba, also der Sperrung von Straßen durch Barrikaden in den großen Städten und dem Ausrufen von „befreiten Zonen“ in Stadtteilen der Mittelschicht, beabsichtigte der ultrarechte Flügel der Opposition unter Leopoldo López und María Corina Machado, eine bürgerkriegsähnliche Situation zu provozieren. Vermutlich war das Kalkül, dass nach einer ausreichenden Zahl von Toten ausländische Kräfte intervenieren oder Teile der Streitkräfte die Seiten wechseln würden. Weder der eine noch der andere Fall traten ein. Die Regierung ließ die Guarimba wüten, unternahm fast nichts, um die „befreiten“ Stadtteile zurückzuerobern und ließ es in vielen Fällen sogar zu, dass Sicherheitskräfte und Sympathisant*innen beim Abräumen von Barrikaden erschossen wurden. Nach ein paar Monaten hatten die Aufständischen fast die ganze Gesellschaft gegen sich, weil sie die Barrikaden in Mautstellen verwandelten und Geld für das Betreten oder Verlassen der fraglichen Zonen verlangten, Passant*innen angriffen und die Barrikaden teilweise sogar an gewöhnliche Kriminelle vermieteten. Selbst hartgesottenste Oppositionelle waren irgendwann nur noch angewidert, und im Juni 2014 konnte die Guardia Nacional die Barrikaden ohne Gegenwehr abräumen.
Danach war für eine Zeit Ruhe. Die Opposition war von ihrer Führung enttäuscht, Maduro versuchte durchzustarten und lancierte eine Reihe von unsinnigen Maßnahmen, die die Situation nicht verbesserten, sondern im Gegenteil immer weiter verschlimmerten. Unfähig, die Ursachen seines Scheiterns zu begreifen, wiederholte er mechanisch alles, was Chávez schon gemacht hatte, allerdings unter anderen Bedingungen und mit einer damals prall gefüllten Kasse. Ein Jahr später war die Stimmung wieder am brodeln. Gegen Ende 2015 spürte die venezolanische Opposition Rückenwind. Die Parlamentswahlen rückten näher, der Ruf nach Veränderung war allgegenwärtig, und in einem bis dato unbekannten Anflug von Geschlossenheit verständigte man sich auf einheitliche Kandidaturen. Das Ergebnis war durchschlagend. Zum ersten Mal in 15 Jahren durchbrach die Opposition die Hegemonie des Chavismus und besetzte zwei Drittel der Sitze im Parlament. Eine neue Ära schien heraufzuziehen.
Aber es wurde nichts daraus. Der Chavismus reagierte entschlossen und ohne sich an die Spielregeln zu halten. In einer Nacht- und Nebelsitzung besetzte das scheidende Parlament den Obersten Gerichtshof mit Figuren aus ihren Reihen in einem illegalen Eilverfahren neu. Anfang Januar 2016 erklärte dieser Gerichtshof die Wahl von vier Abgeordneten für ungültig, wodurch die Opposition ihre absolute Mehrheit verlor. In Folge annullierte er fast ausnahmslos alle Beschlüsse, die die neue Nationalversammlung fasste. Die Regierung verhängte den „ökonomischen Ausnahmezustand“ und regiert seitdem per Sonderdekreten ohne das Parlament. Innerhalb eines knappen Jahres demontierte der Chavismus mit Hilfe der ihm gefügigen Institutionen den gesamten legalen Rahmen der Republik. Und die Opposition? In ihrem anfänglichen Siegestaumel schien sie die reale Situation komplett zu verkennen. Während mehrerer Monate stritten die Abgeordneten untereinander, nach welchem Verfahren man Maduro am besten aus dem Amt heben solle: mit vorgezogenen Neuwahlen (die verfassungsrechtlich nicht existieren); per Berufung auf den Verfassungsartikel 350, der die Nichtanerkennung eines autoritären Regimes vorsieht; mithilfe der Anfechtung der Nationalität des Präsidenten, der Venezolaner sein muss, um das Amt bekleiden zu können; oder durch das in der Verfassung vorgesehene Abwahlreferendum zur Hälfte der Amtszeit. Unfähig, sich auf eine gemeinsame Richtung zu einigen, wurden alle Verfahren ausprobiert, aber keines mit einer nachhaltigen Strategie konsequent zu Ende geführt.
Die einzig zweifelsfrei legale Methode, nämlich das Abwahlreferendum, war den meisten, die Maduro sofort loswerden wollen, zu langwierig und anstrengend und wurde daher erst Anfang Mai 2016 angegangen. Als der Antrag auf das Abwahlreferendum, dem seitens der Obersten Wahlbehörde unvorhergesehene, zusätzliche Auflagen in den Weg gelegt wurden, schließlich Erfolg hatte und die Unterschriftensammlung zu seiner Aktivierung in vollem Gange war, annullierten am 20. Oktober 2016 fünf lokale Gerichte die Aktion in ihren Bundesstaaten, ohne die juristische Kompetenz in diesem Bereich zu besitzen. Die Oberste Wahlbehörde ordnete sich absurderweise dem Urteil der Landesgerichte unter und damit war das Abwahlreferendum vom Tisch.
Auf dieses als Verfassungsbruch bewertete Manöver antwortete die Opposition mit landesweiten Protestmärschen (Toma de Venezuela) und dem Aufruf zu einer Großdemonstration ihrer Anhänger*innen vor dem Regierungssitz Miraflores Anfang November 2016. Die Stimmung im Land war auf dem Siedepunkt. Die Regierung schien ernsthaft bedroht.
Doch überraschenderweise sagte die Opposition kurz darauf auf Bitten des Vatikans die geplante Großdemonstration wieder ab, um sich erneut an den Verhandlungstisch mit der Regierung zu setzen. Politisch bedeutete das praktisch das Aus für das oppositionelle Wahlbündnis MUD. Ein großer Teil ihrer Basis empfand das als Verrat und wandte sich von ihm ab.
Die durch eine fehlende, einheitliche Strategie geschwächte Opposition war auch den Herausforderungen des Jahres 2017 nicht gewachsen, um so mehr als sich der Chavismus zunehmend jenseits der Verfassung oder in ihrer Grauzone liegender Methoden bediente. Der Stein des Anstoßes, der die Ereignisse ins Rollen brachte, waren zwei Urteilssprüche Ende März, in denen der Oberste Gerichtshof die Immunität der Parlamentarier*innen einschränkte und sich die Kompetenzen des venezolanischen Parlaments anmaßte, was zu einem öffentlichen Einspruch der Generalbundesanwältin vor laufenden Kameras gegen diesen Verfassungsbruch und einem nachfolgenden Scheingefecht zwischen den Gewalten führte, in dessen Verlauf die Inexistenz der Gewaltenteilung in Venezuela offensichtlich wurde.
Das wiederum verschaffte der Opposition Aufwind für die Wiederbelebung ihres Protestpotenzials und einen erweiterten Handlungsspielraum, um der „internationalen Gemeinschaft“ den illegitimen und zunehmend undemokratischen Charakter der venezolanischen Regierung nahezulegen. Die von Maduro am 1. Mai angekündigte Einberufung einer „Verfassunggebenden Versammlung“, die über „supra-konstitutionelle“ Kompetenzen verfügen und somit die de facto existierende Aufhebung der Gewaltenteilung in Venezuela und die Annullierung des Parlaments besiegeln würde, befeuerte die erneuten Straßenproteste und -aktionen der Opposition, die sich von April bis Juli 2017 hinzogen[fn]
Die Bilanz des Venezolanischen Observatoriums Sozialer Konflikte aus den Protestmonaten April bis Juli nannte 6729 Proteste im ganzen Land und 163 Tote.[/fn] mit dem erklärten Ziel, das Zustandekommen der Verfassunggebenden Versammlung um jeden Preis zu verhindern. Dennoch wurden am 30. Juli deren Mitglieder gewählt, die natürlich ausschließlich dem Regierungslager angehörten, da die Opposition die Wahl boykottierte, den Wahlvorgang nicht einmal kontrollierte und so die Regierung deren Ergebnisse nach Gutdünken manipulieren konnte.[fn]
Am 2. 8. 2017 gab Smartmatic, der Hersteller der Hard- und Software der Wahlmaschinen, Datenmanipulationen seitens der Obersten Wahlbehörde bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung bekannt und stellte seine Operationen in Venezuela im März 2018 ein.[/fn]
Mit dem Tag des Inkrafttretens der Verfassunggebenden Versammlung am 4. August fielen die Straßenaktionen in sich zusammen. Wieder einmal hatte die Opposition keine Antwort auf die neu geschaffenen Tatsachen.
Im Juli 2017 hatte das Parlament, als Reaktion auf die Beraubung seiner legalen Funktionen durch den Obersten Gerichtshof, 33 Richter*innen für die Konstituierung des sogenannten „Legitimen Obersten Gerichtshofes“ ernannt. Doch die meisten der frisch eingeschworenen Richter*innen setzten sich fast umgehend nach ihrer Berufung ins Ausland ab oder traten gleich von ihrem Amt zurück, nachdem der chavistische Oberste Gerichtshof ihre Ernennung als Hochverrat beurteilte und ihre Festnahme anordnete. Seitdem kommt der „Oberste Gerichtshof im Exil“ gelegentlich mit dem Ziel zusammen, die Demontage demokratischer Strukturen und die Verstöße gegen Menschenrechte seitens der venezolanischen Regierung der internationalen Gemeinschaft zu Gehör zu bringen und eine „legale“ juristische Instanz aufzubauen, auf die im Falle einer letztendlichen Auslandsintervention in Venezuela zurückgegriffen werden könnte.
Diese Art von Strategie, die sich im Grunde ausländischen Interessen andient und per Denunziation auf eine Militärintervention des Auslands setzt, stößt jedoch keinesfalls auf ungeteilte Sympathie im Lager der Opposition.
Der endgültige Todesstoß für die venezolanische Rechte aber war ihre Entscheidung, nicht an den Präsidentschaftswahlen im Mai 2018 teilzunehmen und stattdessen zum allgemeinen Wahlboykott aufzurufen. Hier ist die letzte Chance auf einen Wahlsieg wie derjenige der Parlamentswahlen vom Dezember 2015 verspielt worden. Ein einheitlicher Kandidat und eine massive Beteiligung der oppositionellen Wähler*innenbasis hätten, im Angesicht einer krisen- müden und veränderungshungrigen venezolanischen Bevölkerung, den Durchbruch schaffen können. Das venezolanische Wahlsystem ist so konstituiert, dass Betrug nicht möglich ist, sofern die dar- in enthaltenen Kontrollmechanismen wahrgenommen werden. Möglicherweise hätte der Chavismus wieder auf den ein oder an- deren pseudojuristischen Trick zurückgegriffen, um das Ergebnis nicht anzuerkennen. Aber die Opposition hätte dann über einen legitim gewählten Präsidenten verfügt und damit eine ganz neu Basis für den weiteren Kampf gehabt. So führte der Wahlboykott zur Konsolidierung von Maduros Macht.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die venezolanische Rechte dank des notorischen Fehlens einer einheitlichen Strategie und entschiedenen Durchsetzungsvermögens, weit davon entfernt ist, ihren politischen Gegner zu schwächen oder gar zu besiegen, diesen im Gegenteil sogar noch gestärkt hat. Dagegen hat das Regierungslager, besonders in den letzten drei Jahren, erfolgreich Methoden der Opposition übernommen, nämlich das Operieren am Rande bzw. jenseits der Verfassung und des Gesetzes. Ironischerweise hat die venezolanische Rechte durch ihren ungewollten Beitrag zur Konsolidierung der autoritären Regierung Maduro indirekt zum allgemeinen Rechtsruck in Lateinamerika beigetragen. Venezuela ist zum abschreckenden Beispiel der gesamten Region geworden. Überall zeigen die Neoliberalen mit den Fingern auf Venezuela, um die Alternativlosigkeit ihres eigenen Modells zu beschwören: „Da könnt ihr mal sehen, wohin der Sozialismus führt.“ Obwohl der venezolanische „Sozialismus“ zu keinem Zeitpunkt die Eckpfeiler des Kapitalismus – ökonomische Ausbeutung, politische Unterdrückung, soziale Diskriminierung und menschliche Entfremdung – überwunden hat, wird so wieder einmal ein Gesellschaftsmodell diskreditiert, das eine Alternative zur Ausbeutung des rückständigen Südens durch den reichen Norden darstellen könnte.