Der Roman „Wakolda“ ist das dritte ins Deutsche übersetzte Buch der 1976 geborenen argentinischen Schriftstellerin Lucía Puenzo. Unter dem Titel „El médico alemán“ (Der deutsche Arzt) hat sie das Buch inzwischen auch verfilmt, wie 2009 ihren Roman „El Niño Pez“ (Das Fischkind) – denn Puenzo ist auch eine – übrigens preisgekrönte – Filmemacherin. 

Inhaltlich gesehen kann „Wakolda“ zwischen dem Genre Road Movie und einem Psychothriller in der Art von Patrick Süßkinds „Das Parfum“ eingeordnet werden. Im Argentinien der 60er-Jahre befindet sich José auf einer Reise quer durch das Land – von Buenos Aires in ein einsames Skigebiet in den Anden. Ihm begegnet eine Familie mit gleichem Reiseziel, die sein Interesse weckt. Trotz eines beständigen Misstrauens ihrereseits schafft er es, sich ihr anzuschließen. Schritt für Schritt manipuliert er sie genauso wie später andere Menschen auch. Mit geheimen Unterstützern gelingt es ihm, sie für seine wahnsinnigen Ideen zu missbrauchen. 

Durch einen allwissenden Erzähler werden den LeserInnen Gedankengänge, Emotionen und Lebenseinstellungen Josés vermittelt. Die Hauptfigur ist niemand geringerer als Josef Mengele, einer der grausamsten KZ-Ärzte des NS-Regimes. Seine Reise ist eine getarnte Flucht vor Nazi-Jägern und sein Ziel ist eine geheime Enklave deutscher Faschisten, die kleine Stadt Bariloche in der Provinz Río Negro. Die nach Argentinien geflohenen Nazis haben Netzwerke gebildet und am Ende wird offenbart, dass von hier aus der „nationalsozialistische Exilwiderstand“ geplant wurde.

Das Buch möchte nicht als interessanter Krimi unterhalten und ermöglicht daher den LeserInnen keine Distanz. Vielmehr entstehen verschiedenartige, atmosphärisch dichte ambivalente Bilder. Einige sind unterschwellig erotisch und zugleich hintergründig bösartig, sodass Entsetzen und Ekelgefühle entstehen. Andere wiederum schildern, wie aus Naivität, Kritiklosigkeit und Verführbarkeit Schuldverstrickungen entstehen. Für mich sind die individuellen Gedanken und Bilder, die durch den Subtext im Kopf des/r LeserIn erzeugt werden, das Stärkste dieser literarischen Arbeit. Hier erweist sich das Medium Buch dem Film überlegen. Vermutlich wird es LeserInnen ähnlich wie mir ergehen: Ich habe mich einige Male regelrecht ertappt gefühlt. Ich wurde von einer negativen Wendung der Handlung überrascht und mir wurde zugleich bewusst, dass dies mit weniger Naivität oder Nicht-genau-wissen-wollen vorhersehbar gewesen wäre. 

Dies alles zusammen eröffnet die Möglichkeit, auf ungewöhnliche Art etwas zu lernen. Durch diese literarische Form können wir das faschistoide Denken, Empfinden und Handeln auf der Gefühlsebene intensiver begreifen, als dies wahrscheinlich mit rein politischen oder soziologischen Erklärungen möglich wäre. Das kann unsere Wahrnehmung gegenüber latent faschistoiden gesellschaftlichen Phänomenen schärfen. Verwirrend ist leider die unterschiedliche Qualität der Übersetzung von Rike Bolte; immer wieder befinden sich zwischen leichten, fast schon poetischen Sätzen unübersichtliche Wortgefüge.

Anscheinend kommen nicht alle mit Puenzos Art zurecht. Die Umgangsweise einiger Deutscher mit ihrem Buch fand die Autorin unangemessen. In einem Interview berichtete sie, dass deutsche Forscher alle historischen Daten penibel überprüft hätten, obwohl es ein fiktionaler Roman sei. Bei der Drehbuchbesprechung für die geplante Verfilmung seien rund sechzig Leute gekommen, die ihr alle ihre Faschismustheorie als einzig richtige aufdrängen wollten. Sie waren der Meinung, dass sie sich als Argentinierin nicht damit befassen solle. „Da sehr viele Nazis bei uns eingewandert und in Kontakt mit Tausenden ArgentinierInnen gekommen sind, ist sie auch zu unserer Geschichte geworden. Es ist nicht nur die Geschichte der Deutschen.“ 

Sie findet dies beunruhigend und fragt sich nach deren Einfluss auf die heutige argentinische Gesellschaft. (Página 12, vom 13.6.2011) Auch besteht ein geschichtlicher Zusammenhang zum Peronismus, weil Juan Domingo Perón sich am italienischen Faschismus orientiert hatte und den deutschen Kriegsverbrechern Unterschlupf gewährte. In unterschiedlicher Form ist der Peronismus seit Jahrzehnten die wichtigste politische Kraft in Argentinien – der heutige wird von deutschen Politikwissenschaftlern „kirchneristischer Peronismus“ genannt. Während sich dieser als „links“ definiert, ist auch die peronistische Rechte und extreme Rechte im heutigen Argentinien präsent, sichtbar etwa in Buenos Aires durch Graffitis mit dem Symbol der Faschisten, dem schwarzen Hakenkreuz.

An dieser Stelle will ich mich zum Klappentext des deutschen Verlages äußern. Ich empfinde ihn nicht nur als unzutreffend und euphemistisch, sondern als richtiggehend inakzeptabel. Er lautet: „Gepeinigt von einem beängstigenden Perfektionswahn und auf der Flucht durch Argentinien bietet sich einem deutschen Arzt die Möglichkeit, seine alptraumhaften Ideen zu verwirklichen.“ Hier entsteht der Eindruck, als ob ein Individuum skurril und frankensteinartig im Mittelpunkt des Buches agiert und als ob jenes unter sich selbst litte („gepeinigt… vom Perfektionswahn“) und lediglich „Ideen… verwirklicht“. Tatsache aber ist, dass nicht nur von der ersten Seite an konkret faschistische Denkweisen und in beständigen Rückblenden Mengeles Morde und menschenverachtende Verstümmelungen geschildert werden, sondern dass auch ausführlich das Agieren von zahlreichen Nazis in Bariloche mit Hitlergruß und Horst-Wessel-Lied dargestellt wird.

In diesem Jahr ist auch eine Übersetzung des Romans in Polen erschienen. Dort lag das KZ Auschwitz, in dem Menschen den sadistischen Grausamkeiten von Mengele ausgeliefert waren. Diese Ausgabe hat den Titel Aniol Smierci (Todesengel). Das war Mengeles Name in Auschwitz gewesen. Der Klappentext und der Untertext des Titels drehen sich um die Ahnungslosigkeit der Familie, der suggeriert wird, dass ihnen José durch sein medizinisches Wissen helfen könnte, die stattdessen aber in die Hände eines der gefährlichsten Monster gerät. Das ist für mich gut nachvollziehbar, denn tatsächlich hatte sich Mengele als KZ-Arzt den noch unwissenden Gefangenen gegenüber zunächst sehr charmant verhalten, sodass er von einigen mit „Väterchen“ angesprochen wurde. 

Der Bezug zum heutigen Argentinien wird für viele LeserInnen vermutlich nicht erkennbar sein. Ein paar Hintergrundinformationen im Klappentext oder in einem kleinen Vorwort hätten dem Werk gut getan, so die Geschichte der letzten Militärdiktatur von 1976-1983 und des argentinazo 2001 – dem völligen wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch und Massenprotesten ungeheuren Ausmaßes. 

Ein weiteres zentrales Thema des Buches ist das Schicksal der UreinwohnerInnen nach der Staatsgründung im 19. Jahrhundert. Auf der Fahrt durch die Wüste begegnen den ProtagonistInnen Mapuche in desolaten Verhältnissen. Von mehreren Personen und Ereignissen wird ihre Ausrottung, ihre Vertreibung, ihre Ausbeutung und nicht zuletzt ihre Entwürdigung, die Zerstörung ihrer Familien und damit ihrer Identität thematisiert. Da dies stets begleitet wird von den inneren Monologen des rassistischen Mörders und Sadisten Mengele, wird darauf verwiesen, dass auch unter der oligarchisch ausgerichteten Scheindemokratie von Julio Argentino Roca Ende des 19. Jahrhunderts ein Völkermord verübt wurde. 

In der Tat bezeichnen sich heute weniger als 1,5 Prozent der Menschen in Argentinien selbst als Indigene. Ihren politischen Widerstand konnten die BürgerInnen Argentiniens 2010 erleben, als über 8000 Angehörige indigener Völker nach einem Marsch nach Buenos Aires sich vor dem Regierungspalast versammelten und erreichten, dass eine Gruppe von 30 indigenen Führern von der Staatspräsidentin empfangen wurde. Visuell erlebbar ist ein Umdenken in Teilen der argentinischen Bevölkerung beim Reiterstandbild von Julio Argentino Roca in Buenos Aires. Es verfällt, weil es nicht mehr renoviert wird, und ist von Farbkleksen übersät, hervorgerufen durch die Farbbeutel junger AktivistInnen, die so gegen die nach wie vor bestehende offizielle Würdigung Rocas protestieren. Der Historiker und Schriftsteller Osvaldo Bayer hat eine Initiative zur Ersetzung des Roca-Standbilds durch ein Denkmal für die indigenen Völker gestartet, die von vielen ArgentinierInnen unterstützt wird. (vgl. ila 355)

Ein weiteres Thema, wofür sich Puenzo engagiert und das wichtiger Teil der Handlung ist, ist die Medizinethik und Biopolitik. Ihr erster Film war 2004 die Lowbudget-Produktion „XXY“ mit dem Thema Intersexualität gewesen und in El Niño Pez klingt das ebenfalls an. In Wakolda werden Mengeles pseudomedizinische Hormonbehandlungen Teil der Handlung. Auch dies hat einen aktuellen Bezug. Gesellschaftlichen Gruppen in Argentinien ist es nicht nur gelungen, die liberalsten Gesetze weltweit für LGBTs (Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender) durchzusetzten, sondern auch solche zum Schutz von intersexuellen Menschen (besonders Babys) vor Operationen und Hormonbehandlungen. Dies würde ich mir auch für Deutschland wünschen – inklusive einer Aufarbeitung des Einflusses der Nazi-Medizin auf die heutige.

Lucía Puenzo: Wakolda, Wagenbach-Taschenbuch, Berlin. September 2013, 208 Seiten, 11,90 Euro