Mexiko als Geliebte

In ihrer Dissertation, die im Transcript Verlag veröffentlicht worden ist, zeichnet Caroline Kodym die Mexikobilder deutschsprachiger Schriftsteller*innen nach. Von Humboldt zu den Aufklärern, vom Reiseroman zu Karl Mays Abenteuern, von der Exilliteratur zum modernen Kriminalroman – allen gemeinsam, so Kodym, ist die ungreifbare Idee von einem ursprünglicheren, echteren Fleck auf Erden, dem irdischen Paradies.

Als Karl May „Waldröschen“ oder seine „Satan und Ischariot“-Trilogie schreibt, hat er Mexiko und Lateinamerika nie betreten. Brauchte er auch nicht. Was er braucht: ein atmosphärisches Hintergrundbild, einen Hauch Abenteuer, einen Deut Gefahr oder: eine öde, weite Landschaft, in der das Abenteuer möglich wird, „da die Fesseln der Zivilisation hier überwunden werden können“, schreibt Kodym. Das Bild, das er von Mexiko zeichnet, nährt sich aus Überlieferungen der letzten Jahrhunderte. Karl Mays Bild der „Indianer“ schwankt zwischen „Barbaren“ (den Feinden) und den „edlen Wilden“, etwa dem Apatschenhäuptling Winnetou. Es zeigt sich jedoch immer als Bild des Menschen im Naturzustand: menschlicher und zufriedener als der zivilisationskranke Europäer, selbstbestimmt und gerecht, also letztlich immer als „edler Wilder“.

Dieses Bild setzt sich von der sogenannten „Eroberung“ Lateinamerikas durch die spanische Krone über die Aufklärung, die ersten Reiseromane, Unterhaltungsliteratur bis heute fort in Abenteuerromanen oder alltäglichen Romantisierungen von Indigenen, bis hin zu burlesken Karnevalsinszenierungen mit Federn und unartikuliertem Geschrei. Ein Bild, das eine Moderne für die Indigenität nicht vorsieht; sie bleibt verhaftet in einem angenommenen Urzustand. In der literarischen Conquista, so Caroline Kodym, findet die Eroberung, die Inbesitznahme des „Anderen“ über die Sprache statt. Mexiko tritt als „Geliebte“ auf, als passiver Gegenpart in der Beziehung, der fasziniert betrachtet wird, aber selbst nicht zu Wort kommt.

Kodym zeichnet den europäischen Umgang mit dem, was als „Fremde“ und in ihrem Beispiel als „Mexiko“ erlebt wird, zurück bis in die Antike nach. Die „Ursehnsüchte exotischer Art“ seien tief in der christlichen Tradition verwurzelt, aber bereits vorchristlich in dem Mythos von „Arkadien“ zu finden. Vergil verlegt seine Gedichte nach Arkadien, der Heimat der Arkadier, einem Hirtenvolk. Diese Gegend mit dem ältesten griechischen Volk wird in der Antike als zeitlose Ideallandschaft verstanden und später, in der Renaissance, als Ort des Goldenen Zeitalters verklärt, als verlorenes Paradies. Humboldt wird dieses Bild zur Beschreibung der Indigenen wieder aufgreifen. Auch bei Platon findet sich die Idee eines paradiesischen Inselstaats: „Atlantis“.

Später im Christentum bleibe, so Kodym, der selbstverschuldete Verlust des Paradieses „traumatisch“ und die Sehnsucht nach ihm ein treibender Motor für Seefahrer wie Kolumbus. „Die Entdeckung Amerikas musste passieren – nicht nur aus ökonomischen Gründen“. Kodym zitiert aus Kolumbus‘ Bordbuch, in dem er seine Suche nach dem „irdischen Paradies“ dokumentiert. Kolumbus‘ Grundüberzeugungen seien vor allem christlich geprägt. Er bezieht sich auf das Werk „Imago Mundi“ von Pierre d’Ailly, dem Bild eines irdischen Paradieses jenseits des Äquators. So tritt in Kolumbus‘ Beschreibungen „der fremde Mensch in den Hintergrund bzw. wird nicht als Mensch wahrgenommen. Für Kolumbus ist er Teil der Landschaft und rundet sein Paradiesbild ab“.

Der einheimische Mensch in Mexiko wird, so zeigt Kodym, im Laufe der Jahrhunderte immer wieder so beschrieben: als eingegossener, nackter Teil einer harmonischen, natürlichen, unberührten Umgebung, einem Eldorado. Die Annahme eines Bildes des Menschen, der von Natur aus gut sei, bringt den Philosophen Jean-Jacques Rousseau Anfang des 18. Jahrhunderts zu einer Kritik an der aktuellen europäischen Gesellschaft. Die Zivilisation sei es, die das „Böse“ im Menschen hervorbringe.

Den Aufklärern wie Hegel, Herder oder Kant dient die Aufteilung in wilde und zivilisierte Menschen zur Bestätigung des eigenen Humanitätsideals, in der das „Fremde“ mitunter als bildungsfern beschrieben wird: „Das Volk der Amerikaner nimmt keine Bildung an. Es hat keine Triebfedern; denn es fehlen ihm Affect und Leidenschaft“ (Kant). Europa und seine aufgeklärten Vertreter treten als Befreier aus der Unmündigkeit und einem Zustand erster Kindheit auf – und betreiben, so Kodym, ihren Disput im ständigen Vergleich, aber eigentlich „nicht über Amerika, sondern lediglich über sich selbst“.

Gelten die ersten Schriften zu Mexiko noch der Wirklichkeitswahrnehmung in Form von Zahlen und Tabellen, wandelt sich der Bericht in den folgenden Jahrzehnten zur Reiseliteratur, in die verstärkt individuelle Wahrnehmungen fließen. Alexander von Humboldt entwirft ein wissenschaftlich fundiertes Bild und versucht, Ansätze der präkolumbischen Zivilisationen zu analysieren, ohne dabei voreilig zu werten. Doch auch er, zeigt Kodym mit einem Blick in seine Aufzeichnungen, bedient sich Projektionen: „Je isolierter der Pachthof ist, desto besser gefällt er dem Gebirgsbewohner (…) er liebt die Einsamkeit, weil sie ihm seine alte Freiheit wieder schenkt. (…) Gleich den Arkadiern wohnen die aztekischen Völker gerne auf den Gipfeln und an dem Rande der schroffsten Gebirge“.

Die sogenannte wissenschaftliche Conquista geht einher mit einer vermeintlichen Erschließung eines geschichtslosen Landes und der Rechtfertigung seiner Ausbeutung. Die literarische komme dazu mit „epistemischer Gewalt“ und schreibe Machtansprüche über Beschreibungen, und damit Inbesitznahme des „Anderen“, fort. „Es geht dabei nicht um Mexiko, sondern wie so oft um Europa und seine Positionierungen und kulturellen Vorstellungen“, erklärt Kodym.

Je weiter die Welt Europa erschlossen scheint, desto weniger prinzipiell Fremdes gibt es für die Reisenden der folgenden Jahrhunderte zu entdecken. „Die Fremde wird künstlich hergestellt“, schreibt Kodym, „indem Aspekte willkürlich aus einer einheitlich werdenden Welt hervorgehoben und singularisiert werden. Es geht hier nicht mehr um einen Erkenntnisgewinn, sondern um die Befriedigung des Reizbedarfs, den die monotone Vereinheitlichung der Welt hervorgerufen hat.“

Die Reiseberichte des 19. Jahrhunderts sind gezeichnet von einem „Doppelcharakter“. Die Natur wird kategorisiert, systematisiert und handhabbar gemacht, verliert dabei aber gleichzeitig ihre „Unberührtheit“ – jenes Bild von der intakten Tropennatur, die als Übernatur und mystischer, zeitloser Raum die „Fremde“ spiegeln soll. Mit der Zeit weicht das Staunen in den Reiseberichten zunehmend einer Ernüchterung. Die Städte in Lateinamerika wachsen, Räume werden urban und die gefühlte Fremde rückt weiter in die Ferne. Die Wunschfantasie stößt auf eine komplexe Wirklichkeit. Urbane Lebensräume, hochtechnologisierte Städte passen nicht in das Bild der Fremde. Der Reiseschriftsteller Ernst von Hesse-Wartegg beschreibt 1884, wie er versucht, vor der drohenden touristischen Erschließung durch die Eisenbahn ein ursprüngliches Mexiko kennenzulernen. Doch „Mexiko Stadt kann seine Wunschvorstellungen nicht befriedigen, erscheint ihm die Stadt doch (…) zu westlich und nicht als das, was eine mexikanische Stadt für einen Europäer sein sollte.“ Nämlich „irgendwie“ anders.

Der deutsche Schriftsteller B. Traven emigrierte in den 1920er-Jahren nach Mexiko. In Werken wie „Die Baumwollpflückerin“ projiziert er soziale Wunschträume und die Idee eines Zusammenhalts der proletarischen Klassen auf seine neue Umwelt. Neben dem „ewig jungfräuliche(n) tropische(n) Busch“ werden die Mexikaner*innen als freiheitsliebendes, anarchisches Volk charakterisiert – ein „Sehnsuchtstraum eines europäischen Revolutionärs und Schriftstellers“, folgert Kodym. Mit der mexikanischen Revolution und in deren Folge entwickelt sich, so die Autorin, eine romantisierte, antiimperialistische Utopie von Mexiko als eine Art „Revolutionsparadies“ für die internationale Linke.

Realer Fluchtort wird Mexiko im Zweiten Weltkrieg, auch die Schriftstellerin Anna Seghers lebt 13 Jahre im mexikanischen Exil. Nach ihrer Rückkehr in das zerstörte Nachkriegsberlin sehnt sie sich nach „Eurer Wärme, Eurer Leidenschaft, Eurer Liebe und Eurer Menschlichkeit“ und spricht mit „Eurer“ die Mexikaner*innen an. Seghers, so Kodym, sah den romantischen Traum einer harmonisch im Volksleben verwurzelten Kunst in Mexiko verwirklicht. „Nur in Mexiko (…) könne eine reine, wahre und tatsächliche Kunst geschaffen werden“ – im Gegensatz zur europäischen Rationalität.

Bei Max Frisch tauchen im „Homo faber“ die „Indios“ auf als „viel zu sanft, zu friedlich, geradezu kindisch. Abende lang hocken sie in ihren weißen Strohhütten auf der Erde, reglos wie Pilze, zufrieden ohne Licht, still. Sonne und Mond sind ihnen Licht genug, ein weibisches Volk, unheimlich, dabei harmlos“. Weiblichkeit, Unschuld, Kindlichkeit – Bilder, die sich in Rassismen bis heute, ob gewollt oder nicht, wiederfinden.

Doch das Paradies wird erschüttert und zunehmend durch westliches Konsumdenken vergiftet – versinnbildlicht am Symbol der Coca-Cola, zeigt Kodym den Verlauf der literarischen Motive im 20. Jahrhundert. Im Reisebericht von Hans-Jürgen Heise und Annemarie Zornack mit dem Titel „Der Macho und der Kampfhahn“ von 1987 heißt es: „Die alten Bräuche werden durch Konsumdenken ersetzt. Und die jungen Leute, angelockt von den Versprechungen der Wohlstandsideologien, ziehen fort“. Das sei die zweite Seite der Paradiesprojektion, so Kodym: die Stilisierung als Opferland. Dort, wo die fortschreitende Zivilisation nach europäischem Verständnis Einzug in das literarische Mexikobild erhält, wird vor allem „die exotische und abenteuerliche Andersartigkeit des Landes“ stilisiert, „das nunmehr von Kriminalität und Korruption geprägt ist“. In dem Roman „Der König von Mexiko“ von Stefan Wimmer (2008) stehen die hässlichen urbanen Seiten des Landes und Mexiko-Stadt für eine „korrupte, inhumane und deformierende Zivilisation“, so Kodym, aber statt Zivilisationskritik auszulösen, diene es vielmehr als Kulisse für Abenteuer.

Caroline Kodym stellt ihrer Arbeit eine Einführung in die wichtigsten Denker*innen der postkolonialen Theorie voran, nimmt Bezug auf Edward Said, Homi K. Bhaba, Gayatri Spivak, aber auch auf den peruanischen Soziologen Aníbal Quijano, den argentinischen Philosophen Enrique Dussel oder den mexikanischen Schriftsteller Octavio Paz. Als wissenschaftliche Arbeit weist das Buch an einigen Stellen durchaus Längen auf; die grundlegenden Paradiesprojektionen werden bereits nach den ersten 100 Seiten deutlich. Doch gerade diese ausführliche Zusammenschau ist für alle diejenigen, die zu Lateinamerika schreiben und lesen, in ihrer Vielfalt und Aktualität erkenntnisreich, lassen sich Paradiesprojektionen subtil oder ganz offensichtlich nach wie vor in Literatur und Berichterstattung wiederfinden.

Inwiefern dies auf mexikanischer Seite kritisiert und behandelt wird, bleibt in der Arbeit offen. Ein Ausblick lohnt sich insofern auf den Literaturwissenschaftler Armando Antonio Pereira Llanos, der in seinem Buch „México en la imaginación europea del siglo XX“ aus dem Jahr 2017 in den literarischen Bildern europäischer Schriftsteller*innen eine gemeinsame Perspektive erkennt. Nämlich „die Illusion, in Mexiko das zu finden, was Europa ihnen nicht mehr geben konnte. (…) Sie alle sahen in Mexiko nicht das Land, das sie vor Augen hatten, sondern das, das sie sehen mussten. Und so blieb Mexiko in der europäischen Vorstellung ein buntgemischtes, widersprüchliches, unverständliches, von der Rationalität isoliertes Gebiet, das sie zu verstehen versuchten.“