Mit 68 ein Rückblick auf Mexiko 68

Im August 1966 waren wir in der mexikanischen Hauptstadt gelandet, Veronika als Studentin der Escuela Nacional de Antropología e Historia (ENAH), ich als DAAD-Lektor an der Facultad de Ciencias der Autonomen Nationaluniversität (UNAM). Wir hatten ein helles Appartement, nicht direkt im Nobelviertel, aber gut bürgerlich in der Colonia Nápoles. Die ersten eineinhalb Jahre waren, sagen wir mal, ruhig. Demos, vor allem an der Uni, gab es natürlich dauernd, dabei ging es um drohende Verletzungen der Universitätsautonomie, Verkehrsprobleme, Unterstützung für die ArbeiterInnen und ähnliches. Die gebräuchlichsten Kampfmethoden waren Straßensperren im Südteil der Stadt und Busentführungen. Auf dem Uniparkplatz standen manchmal bis zu dreißig Busse – ein Druckmittel, das manchmal zu einem winzigen Erfolg führte –, die dann auch noch wild bemalt wurden, etwa mit dem Bild von Genaro Vázquez, dem Guerrillaführer in Guerrero. Anfang des Jahres 1968 wurde es unruhiger. Die unterschiedlichen Polizeieinheiten machten Jagd auf StudentenführerInnen oder solche, die sie dafür halten wollten, und soweit sie nicht auf Nimmerwiedersehen verschwanden wurden die meisten ins Gefängnis Lecumberri oder das Campo Militar Número verschleppt. Praktisch das ganze Sommersemester hindurch wurde in der UNAM gestreikt, auch die Professoren unserer Fakultät fanden sich zu wöchentlichen Sitzungen zusammen, in denen die Lage und Maßnahmen diskutiert wurden: Einer unserer Wortführer war Ingeniero Heberto Castillo. Im Juni wurden Asambleas und Repression intensiviert, als die Granaderos mitten in der Stadt das Portal der Preparatoria (Voruniversität), hinter der sich streikende StudentInnen verschanzt hatten, mit einer Panzerfaust sprengten.

Es war auch die Zeit, in der verstärkt Jagd auf Ausländer gemacht wurde, denen die Schuld an den Unruhen in die Schuhe geschoben werden sollte. Von solchen Einflüssen blieb auch die Deutsche Botschaft nicht verschont: Bei einem Empfang, ich glaube für Rainer Barzel, erfuhr ich, dass ich einer dieser gefährlichen Rädelsführer sein sollte, die hinter den Unruhen standen. Zu viel der Ehre, denn sogar die Demonstrationen begleiteten wir höchstens in Nebenstraßen, um der Bewegung nicht zu schaden. Als mein Kollege von der Technischen Hochschule verhaftet wurde und seine Frau überall nach ihm suchte, hielt sich die Botschaft dezent zurück und versuchte durch Broschüren über Deutschland die entsprechenden Beamten zu bestechen, lehnte es außerdem ab, sich für eine Verlängerung unseres Visums einzusetzen. Später, während der Olympiade bei einem bayrischen Abend des Vorbereitungskomitees der Münchner Spiele von 1972, besprachen mein Kollege und ich mit einem Reporter des Spiegel die Lage. Da bat uns der Presseattaché zur Seite und wies darauf hin, dass die Botschaft es nicht gerne sähe, wenn wir dieses Druckorgan informierten. Obwohl ich kaum mehr über die entsprechenden Empfänge und Treffen benachrichtigt worden war, gelang es mir, mich mit meinem alten VW den Honoratioren aus der BRD als Dolmetscher und Führer anzudienen – das wurde sehr gut bezahlt. Und es interessierte die Herren, dass ich ihnen auf den Wegen zu den Sportstätten auch die Elendsviertel, die mit schön bunt bemalten Mauern frisch eingefriedet waren – überall der Slogan Todo es posible en la paz (Alles ist möglich im Frieden), dessen Wahrheitsgehalt durch das Massaker auf dem Platz der drei Kulturen schon hinreichend belegt war –, näher vor Augen brachte. Besonders offen für neue Eindrücke und tiefer gehende Diskussionen zeigte sich überraschenderweise Hans Klein von der CSU, der Pressesprecher bei Olympia und spätere Vizebundestagspräsident. Ich aß ein paarmal mit ihm eine comida corrida in einem der kleinen offenen Restaurants am Monumento de la Revolución und schilderte ihm die Hintergründe der Ereignisse aus meiner Sicht. Er äußerte kluge und fortschrittliche Meinungen, und es war für mich Jahre später eine politische Lehrstunde, als ich merkte, wie er für Macht und Einfluss ganz andere Einsichten und Absichten gewann und umsetzte.

Es fällt schwerer als gedacht, Eindrücke von damals wiederzufinden, sie sind durch spätere Informationen überlagert und die direkt erlebten historischen Augenblicke stellen sich häufig erst nachher als historisch heraus. Charakteristisch für den Sommer 68 waren die Versammlungen, etwa auf dem Platz vor der Bibliothek in der Universitätsstadt, mit zig Tausenden, wo Oscar Chávez seine mitreißenden Lieder sang, Reden gehalten wurden und Hubschrauber über der Menge kreisten, in deren offenen Türen Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag posierten. Auch die Demonstrationen, bei denen Hunderttausende – das ist keine Übertreibung – über den Paseo de la Reforma zogen, wurden von Helikoptern überwacht, die mit erhobenen Fäusten und dem wiederholten Ruf „¡Prensa vendida!, ¡Prensa vendida!“ (gekaufte Presse) begrüßt wurden. Da waren es nicht nur StudentInnen, sondern Gewerkschafter, ArbeiterInnen und Menschen vom Land, die um ihre demokratischen Rechte, eine Erhöhung des Mindestlohns, Legalisierung von Landbesetzungen und gegen die tagtägliche Repression kämpften. Die mexikanische Bewegung von 1968 war keine bloße StudentInnenrevolte, die Themen auf den Versammlungen kreisten ebenso um bäuerliche Produktion, Kampf gegen die Coyotes (Aufkäufer und Zwischenhändler), gegen die staatlich gelenkte korrupte Führung der Zentralgewerkschaft und natürlich nicht zuletzt gegen die PRI, die allmächtige institutionalisierte Revolutionspartei, die bis in die kleinsten Dörfer hinein alles bestimmte, beherrschte und daran verdiente. 

Von Bauernorganisationen und den Universitäten des ganzen Landes trafen bei den Mitines (Versammlungen) Delegationen mit Solidaritätsbotschaften ein, aber auch mit den Schilderungen ihrer eigenen Probleme. Es bildeten sich die ersten Brigaden, vor allem aus der Landwirtschaftsuniversität von Chapingo, die auf die Dörfer und in die Ejidos fuhren, um gegen Kreditbetrügereien durch die Banken und bei der Produktionsverbesserung zu helfen. Auch wenn die Presse – das Fernsehen spielte noch keine besondere Rolle, außer als Lieferant von Telenovelas – fast ausnahmslos durch Fehlinformation und Verdrehungen glänzte (La Jornada gab es noch nicht und Excelsior war ein reines Unternehmerblatt, allerdings gab es einen TV-Universitätskanal und Radio Universidad), entstand, wage ich zu behaupten, so etwas wie eine Art prärevolutionäre Unruhe und Stimmung. Es schien, als könnten sich die festgefahrenen Macht- und Abhängigkeitsstrukturen vielleicht doch aufweichen und verändern lassen. StudentInnen zogen zu Alphabetisierungskampagnen und politischem Straßentheater aufs Land, ArbeiterInnen organisierten sich abseits der zentralistischen Gewerkschaft und formulierten ihre Forderungen etwa für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz, das Gewaltmonopol der Regierung wurde in Frage gestellt, neue Corridos (Balladen) über Aufstandsbewegungen in Guerrero und Tabasco entstanden, Selbstverwaltungspläne in den Betrieben und an den Hochschulen wurden beschlossen. Es keimte die Hoffnung, Entscheidungen über die Zukunft des Landes würden nicht mehr ausschließlich vom Regierungsapparat durchgedrückt, sondern von den Menschen im gemeinsamen Dialog vorbereitet und zum Besten aller abgestimmt. 

Und wir dachten, durch die internationale Aufmerksamkeit der immer näher rückenden Olympischen Spiele würde es der Regierung unmöglich sein, die Repression weiter zu steigern und jede neue Bewegung zu ersticken. Kurzzeitig sah es wirklich so aus, denn Präsident Díaz Ordaz musste allem Anschein nach zurückrudern. Ich glaube von Guadalajara aus verkündete er, er wolle seine Hand zur Versöhnung ausstrecken – mi mano flota en el aire wurde zum Synonym einer beschwichtigenden und scheinbar friedenstiftenden Geste –, und es breitete sich beinahe hoffnungsvoller Optimismus aus, dass sich die Lage durch Gespräche und gegenseitiges Aufeinanderzugehen entspannen und eine demokratische Verständigung erreichen ließe.

In dieser Stimmung sollte das Mitin am 2. Oktober auf dem Platz der Drei Kulturen in Tlatelolco ein Fest des Volkes mit Theater, Musik, Reden und Tanz werden. Veronika und ich saßen artig zu Hause und verfolgten auf Radio Universidad das kulturelle Ereignis, als plötzlich Schüsse über den Platz hallten. Wir dachten natürlich erst, dass es Cohetes – Raketen – seien, wenn auch laut, so doch die übliche Freudenäußerung in Mexiko – aber der Reporter begann zu schreien: „Sie schießen, das Militär schießt mit Maschinengewehren, das Feuer wird von der anderen Seite, von den Hochhäusern aus erwidert. Aber wer schießt? Wer hat den Befehl gegeben? Panik bricht aus, die Menge steht mitten dazwischen und versucht in alle Richtungen zu fliehen. Mündungsfeuer von zwei Seiten.“ In den folgenden Stunden ergänzten und widersprachen sich die Nachrichten stündlich. Später in der Nacht flüchtete sich ein Freund, dessen Vater die deutsche Schule in Puebla leitete und Jahre später auf einem Spaziergang in Nayarit für immer spurlos verschwand, mit einem Compañero zu uns – wiederholt linsten sie durch die Vorhänge, ob sie auch nicht mehr verfolgt würden – und versuchten gemeinsam mit uns zu verstehen, was da eigentlich vorgefallen war. 

Immer wieder tauchte der Name Echeverría auf, damaliger Innenminister und späterer Präsident, der entweder seine Macht zeigen wollte oder von seinen Gegnern „verbrannt“ werden sollte. Aber so richtig konnte sich keiner einen Reim machen. Jedenfalls hatte das Militär wohl den Schusswechsel begonnen, der von den Polizeieinheiten des Innenministeriums erwidert wurde. Das war die Art Verständigung, die das Militär bevorzugte: Ruhe und Ordnung sollten der „Jugend der Welt“ sichere Olympische Spiele garantieren, wie es die internationale Öffentlichkeit von Mexiko erwartete. „Es herrscht wieder Frieden im Land“, sang Konstantin Wecker zehn Jahre später und die Soldaten bezogen in Tarnuniform und gut bewaffnet Stellung rund um die olympischen Stätten. Aber als zwei US-Athleten bei der Siegerehrung die schwarze Black-Panther-Faust in den Himmel reckten, regte sich die Weltpresse auf, was das für ein Skandal sei, dass ein rein sportliches Ereignis zu einer so geschmacklosen politischen Äußerung missbraucht würde, eine Schande!

Wir verließen im November das Land, aber die Ruhe kehrte nicht so schnell wieder ein und der Unterdrückungsapparat verstärkte seine Präsenz. Auch durch offiziell nicht existierende Sondereinheiten, die am 10. Juni 1971 ein weiteres Massaker an DemonstrantInnen verübten.