Heinz Ostrower, der während des Naziregimes nach Brasilien emigrierte und 1992 in Rio de Janeiro verstorben ist, hat bis zuletzt zwischen den Kulturen gelebt. 1913 in einem jüdischen Elternhaus in Niederschlesien geboren, wurde er im November 1934 als KPO-Mitglied (KPO – Kommunistische Partei Deutschlands – Opposition – antistalinistische Abspaltung der KPD) wegen seiner antifaschistischen Tätigkeit verhaftet und zu 2 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt. Um dem KZ zu entgehen, wanderte er nach Haftverbüßung 1937 nach Brasilien aus, wo er sich eine Existenz aufbaute und bis zu seinem Tode lebte. Bis an sein Lebensende fühlte er sich verbunden mit seinen alten Genossen aus der KPO, die inzwischen über verschiedene Länder und Kontinente verstreut waren, und hielt sowohl persönlich wie auch brieflich den Kontakt und die Freundschaft zu ihnen aufrecht. Auch wenn sich Heinz Ostrower in Brasilien in verschiedenster Weise politisch engagiert hat, so ist doch die alte KPO trotz reger Suche nach einer neuen Bindung in gewisser Weise immer seine politische und theoretische Heimat geblieben.
Mit dem Aufblühen der sozialen Bewegung in Brasilien gegen Ende der 70er Jahre, in der sich neben den unmittelbaren materiellen Forderungen auch der Widerstand gegen die Militärdiktatur formierte, fand Heinz Ostrower ein für ihn wichtiges Betätigungsfeld, das über die theoretische Arbeit und die Leitung von Diskussionszirkeln hinausging. Er engagierte sich bis zuletzt in einer kleinen NRO, die am Rande von Rio de Janeiro die Einwohnerbewegung in den Volksvierteln und Favelas unterstützt. Ihrer Wertschätzung Heinz Ostrowers und seines Engagements für die armen Bevölkerungsschichten gab die Präsidentin der Föderation der Einwohnervereinigungen Nova Iguaçus in einer langen Grabrede Ausdruck. Auch wenn sich Heinz Ostrower für eine dauerhafte Existenz in Brasilien entschied und dort integrierte, so verlief sein Leben doch bis zuletzt, wenn auch nicht äußerlich, so doch innerlich, zwischen den Kontinenten. Noch wenige Jahre vor seinem Tode besorgte er sich wieder einen deutschen Paß und setzte sich mit der Frage einer Rückkehr nach Deutschland auseinander, auch wenn diese Idee immer weit davon entfernt blieb, eine gewisse Umsetzbarkeit zu gewinnen.
Du bist 1937 als junger Mann und Verfolgter des Naziregimes nach Brasilien ausgewandert. Wie sah Deine Jugend in Deutschland aus?
Ich bin in einer Kleinstadt in Niederschlesien geboren. Jahrgang 1913. Ich absolvierte, wie das so schön heißt, das humanistische Gymnasium und siedelte 1932 nach Breslau über zum Studium auf der dortigen Universität. In Breslau ging ich zunächst in die Jugendbewegung, dann in die linke Jugendbewegung und von da aus sehr bald in die KPO. Die KPD verfolgte damals einen katastrophalen, ultralinken Kurs. Ich wandte mich deshalb sofort der KPO zu, die diesen Kurs bekämpfte und für eine Einheitsfront zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten eintrat, während die Kommunisten die berühmte Losung vom Sozialfaschismus als dem linken Flügel des Nationalsozialismus vertraten.
1933 kam die Machtergreifung, und wir gingen in die Illegalität. Ich hätte auch als Jude an sich noch auf der Universität bleiben können, da mein Vater Frontkämpfer gewesen war. Ich wußte aber, daß es am Ende keine Aussicht gäbe, das Studium zu beenden und zu promovieren. Meine Eltern wollten mich damals ins Ausland schicken, um mein Studium weiterzuführen, aber da ich bereits tief in der politischen Arbeit drinsteckte, habe ich das abgelehnt und bin stattdessen als Lehrling in eine Konfektionsfabrik (Lieferanten meines Vaters) eingetreten, aus der ich später unter großer Bestürzung aller Angestellten verhaftet wurde.
Meine Eltern besaßen ein großes Geschäft, das sie 1939 zwangsweise verkaufen mußten. Bis dahin hielten sie es noch aus, obwohl die Nazis Posten vor die Türen stellten, damit die Kunden nicht ins Geschäft kämen. Mit Glaserdiamanten wurden riesige Hakenkreuze in die Schaufenster geritzt. Neben dem Geschäft meiner Eltern war ein Aushängekasten, in dem die Nazis ihre Nachrichten und Aufrufe anbrachten. Nach meiner Verhaftung im November 1934 wurde da auch die Nachricht veröffentlicht, daß der Sohn von Max Ostrower wegen Vorbereitung zum Hochverrat verhaftet worden sei. Meine Eltern haben sich dabei sicher nicht sehr glücklich gefühlt.
Wie sah Deine Aktivität in der Illegalität aus, und wie kam es zur Verhaftung?
Die illegale Tätigkeit ging in zwei Richtungen: erstens Schulungsarbeit, zweitens Verteilen von Flugblättern und Versuche, mit den sozialdemokratischen Arbeitern und der sozialdemokratischen Jugend sowie auch mit der kommunistischen Jugend, die alle in der Illegalität waren, Verbindung aufzunehmen und gemeinsame Aktionen zu versuchen. Die Leitung ging nach Prag, und wir bekamen von dort Material. Ich selbst war zweimal in Prag, um die Verbindung aufrechtzuerhalten. Das war sehr einfach, denn Schlesien war von der Tschechoslowakei nur durch das Riesengebirge getrennt, und wir waren im Winter immer im Riesengebirge Ski gelaufen. Man konnte damals also noch ohne weiteres über die Grenze hin und zurück. Das wurde später anders.
Wir waren drei in der lokalen Leitung. Einer von uns wurde dann durch einen unglücklichen Zufall verhaftet. Er hat zunächst nichts gestanden, bis man seine Mutter holte und ihm androhte, sie zu foltern. Daraufhin hat er gestanden, so daß wir anderen zwei Leiter und auch ein Teil der Organisation, soweit sie ihm bekannt war, hochgingen. Er wurde dann öfter noch an verschiedene Straßenecken gestellt, um zu sehen, wer noch erwischt werden könnte.
Wir kamen dann in Untersuchungshaft. Im Haftbefehl hieß es übrigens, daß wir in Schutzhaft genommen wurden zum Schutze von Volk und Reich und zu unserem eigenen Schutze, d.h. es wurde vorausgesetzt, daß die SA-Leute uns auf der Straße totschlagen könnten, nehme ich an. Während der Untersuchungshaft wurde ich mehrmals zum Zahnarzt geführt. Ich bekam eine Brücke aus Edelstahl. Gold gab es nicht mehr. Als ich hier ankam und zum erstenmal zum Zahnarzt ging, schlug der die Hände über dem Kopf zusammen und wollte unbedingt eine Fotografie von dieser Brücke aus Edelstahl machen.
Wir wurden dann vor Gericht gestellt. Die Anklage lautete „Vorbereitung zum Hochverrat“. Wir bekamen verhältnismäßig milde Strafen: Ich wurde zu 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Ich kam nach Schweidnitz ins Gefängnis, und das war sehr merkwürdig. Mein Onkel und meine Tante lebten in Schweidnitz und hatten eine Wohnung im dritten Stock eines Mietshauses, dessen Fenster auf das Gefängnis hinausgingen. Wenn wir sie ab und zu an den Wochenenden besuchten, hatte ich mir als Junge oft das Gefängnis von der Gegenseite aus angesehen und nicht gewußt, daß ich eines Tages selbst da drinnen sitzen würde.
Konntest Du die Zeit im Gefängnis irgendwie für Dich nutzen?
Ja, ich konnte sie nutzen. Neben der Arbeit im Gefängnis – wir mußten Tarnnetze stricken für die Reichswehr, und ich habe mein Pensum nie geschafft – konnten wir in unserer Freizeit auch lesen. Im Untersuchungsgefängnis bekam ich Bücher von draußen. Ich habe gelesen, und das wird vielleicht verwundern: Hitler: Mein Kampf, Rosenberg: Der Mythos des 20. Jahrhunderts (das war der Theoretiker der Nazipartei) , die Bibel, was mich geschichtlich sehr interessierte, und dann was es sonst noch gab, natürlich auch Belletristik.
Wie kam es dazu, daß Du nach Brasilien ausgewandert bist?
Als 1937 meine Haftzeit zuende war, wurde ich von der Gestapo wieder in Schutzhaft genommen und mir wurde die Alternative gestellt: entweder auswandern nach Übersee (damals lief der spanische Bürgerkrieg, und man wollte nicht, daß wir nach Spanien gingen) oder Konzentrationslager. Diese Alternative bestand nur für eine kurze Zeit. Hitler stand damals auf dem Gipfel seiner Macht, und er konnte sich wahrscheinlich den Luxus leisten, geringer bestrafte politische Gefangene ins Ausland zu lassen. Thälmann wäre das nicht passiert.
Ich hatte einen Bruder, der zuvor schon nach Brasilien ausgewandert war. Das war ein Glück, denn es waren bereits alle Länder für Flüchtlinge, sogar für bestrafte Flüchtlinge, gesperrt. Selbst die Vereinigten Staaten hatten ein Quotensystem, das schon überfüllt war, und niemand konnte mehr dorthin. Auch in Brasilien waren bereits starke Beschränkungen eingeführt worden, und ich mußte offiziell als Landarbeiter einwandern, d.h. der notwendige Anforderungsbrief (carta de chamada) meines Bruders lautete auf Heinz Ostrower, Landarbeiter.
Ich kam mit 60 Mark in der Tasche an (10 Mark durfte man mitnehmen, und für weitere 50 Mark mußte man einen Sonderantrag stellen) und mit einer Leika als Wertgegenstand, um sie hier zu verkaufen. Leider war die Lage so, daß praktisch an jeder Straßenecke ein Emigrant stand und eine Leika verkaufen wollte, denn sie hatten alle Leikas mit. Ich hatte Glück, daß ich meinen Bruder hatte, bei dem ich zunächst einmal wohnen konnte, und daß ich in einer Buchhandlung unterkam. Der Besitzer war ein geborener Ungar und beschäftigte mehrere Emigranten. Ich arbeitete illegal. Brasilien hatte auch angefangen, sich gegen Emigranten zu wehren, und es war das sogenannte Zweidrittelgesetz erlassen worden, d.h. in jedem Betrieb mußten zwei Drittel Brasilianer sein. Da es sich aber bald herausstellte, daß die Emigranten die höheren Stellen besetzten und nicht etwa Arbeiter wurden, wurde das Gesetz insofern verschärft, als in jedem Beruf zwei Drittel Brasilianer sein mußten. Ich arbeitete also schwarz.
Bist Du hier als deutscher Staatsbürger eingereist?
Ja, ich bekam einen Paß mit einer Gültigkeitsdauer von 6 Monaten. Aber bereits am 31. August – ich kam im Mai hier an – las ich im „Argentinischen Tageblatt“ (deutschsprachige Tageszeitung, die in Buenos Aires erschien und dort heute noch als Wochenzeitung herauskommt – die Red.) auf der Ausbürgerungsliste 202 unter Nummer 36, daß ich meiner Staatsangehörigkeit verlustig erklärt wurde. Trotzdem, sozusagen nur, um zu beweisen, wie die Sachlage war, ging ich nach 6 Monaten aufs deutsche Konsulat, legte meinen Paß vor und verlangte eine Verlängerung. Der Beamte sah sich das an, ging ins Nebenzimmer – und da war wahrscheinlich die Liste –, kam zurück und sagte: „Sie können gehen“.
Du bist 1937 in Brasilien angekommen, also zur Zeit der Vargas-Diktatur. Welche politische Lage erwartete Dich?
In Brasilien gab es keinerlei legale linke Bewegung. Es existierten praktisch nur zwei Parteien. Die eine war die populistische Partei (PTB). Ihr Chef war der Diktator Getúlio Vargas. Dann gab es eine zweite Partei, die hauptsächlich konservativ und rechts war und die von seinem Schwiegersohn und seiner Tochter geleitet wurde. Vargas war wirklich ein Politiker, der es verstand, auf zwei Pferden zu sitzen, und ich muß sagen, daß ich in meinem Leben noch nie einen so geschickten Politiker erlebt habe wie ihn. Er sattelte rechtzeitig um (gemeint ist der Wechsel Brasiliens von der Zusammenarbeit mit den Nazis zum Kriegseintritt 1943 auf seiten der Alliierten – S.F).
Es gab eine illegale kommunistische Partei und eine illegale, deutsche Emigrantengruppe, Kommunisten, die sozusagen als Ausländerkontingent der KP angegliedert waren. Ich hatte zu beiden Verbindung und immer die heftigsten Diskussionen, besonders als Hitler anfing zu wackeln und Getúlio Vargas schleunigst umsprang auf die andere Seite. In Deutschland im Gefängnis durften die Leute von der KP nicht mit uns reden. Wir waren als Trotzkisten-Faschisten mit dem berühmten Bindestrich verschrien, und zu uns durfte man keinerlei Verbindung haben. Das stellte sich dann hier auch ein, als Brasilien sich auf die Seite der Alliierten schlug. Da wurde, hauptsächlich von dieser kommunistischen Gruppe, die Bewegung „Freies Deutschland“ (ursprünglich in Mexiko 1941 gegründete Bewegung, die v.a. von Exil-KPDlern getragen wurde, S.F.) ins Leben gerufen, vor allem in Rio, São Paulo und Porto Alegre. In ihr sammelten sich ein paar Kommunisten und auch Bürgerliche. Nur wir durften nicht dabei sein, wir waren sozusagen die Aussätzigen. In der illegalen Zeitung der brasilianischen Partei wurden z.B. Notizen veröffentlicht wie: „José da Silva, wohnhaft in der und der Straße Nummer soundso, ist ein gefährlicher Trotzkist. Wir warnen alle Genossen vor ihm.” Es war natürlich klar, daß am nächsten Tag diese Zeitung bei der Polizei war und am übernächsten die Polizei wahrscheinlich bei José da Silva. Nach dem 20. Kongreß kamen sie alle und haben sich bei mir entschuldigt wegen ihrer Dummheit damals. Ich bekam sogar Briefe von Kommunisten, die damals zurückgingen. Vor allem einer, ein Künstler, schrieb mir und bat mich sozusagen um Verzeihung.
Seit 1935 gab es eine Kollaboration zwischen Brasilien und den Nazis. Wie erging es Dir in Brasilien als Verfolgter des Naziregimes?
Es war bekannt, daß der deutsche Botschafter jede Woche mit dem Polizeichef Filinto Müller Karten spielte. Es war auch bekannt, daß die Gestapo Spezialisten herschickte, die bei Vernehmungen und bei Folter mit Rat und Tat der brasilianischen Polizei zur Seite standen. Es gab hier damals eine politische Polizei, den DOPS, der noch heute existiert. Die brasilianische kommunistische Bewegung war weitgehend desorganisiert. Es gab natürlich Untergrundgruppen, ab und zu auch eine Zeitung, die sofort bei der Polizei landete. Ich habe damals große Vorsicht geübt in meinen Verbindungen, denn ich wußte, daß die brasilianische Partei von Spitzeln durchsetzt war. Das war sie immer, ist sie heute sicher auch noch. Carlos Prestes und die ganze Leitung wurden seinerzeit verhaftet. Seine Frau, Olga Benario, wurde schwanger nach Deutschland abgeschoben und ist im Konzentrationslager umgekommen. Prestes hat überlebt.
Als Brasilien in den Krieg eintrat, wurde Prestes und die ganze leitende Gruppe aus dem Gefängnis entlassen, und er hat damals auf der Tribüne vor Tausenden von Versammelten Getúlio Vargas die Hand gedrückt und mit ihm sozusagen eine Volksfront gebildet. Das war damals die Politik der breitesten Volksfront, mit der ich gar nicht einverstanden war, genauso wie ich nicht mit dem einverstanden bin, was sie heute machen (Anspielung auf das Wahlbündnis zwischen der KP und Bürgerlichen 1986 in Rio de Janeiro, S.F.).
Wie sah es mit den Deutschen in Brasilien aus, als Du damals ankamst? Wo standen sie politisch?
Ich hatte natürlich nur mit Emigranten zu tun. Deutsche, die nicht Nazis waren, gab es. Aber es war für mich sehr schwer, sie zu erreichen. Alle deutschen Clubs, alle deutschen Vereinigungen waren absolut in Nazihänden. Diese Clubs waren die Zentren der Organisation. Es gab hier in Rio einen Club, der ein Gebäude „Germania“ mit 4 oder 5 Stockwerken an der Praia de Botafogo hatte. Es wurde später enteignet und der Studentenschaft übergeben. Darüberhinaus stellte auch die deutsche Schule ein starkes Zentrum dar. Ich bin sicher, daß auch eine nationalsozialistische Parteileitung, Ortsgruppe Rio, existierte, obwohl ich nie davon erfahren habe. Viele nationalsozialistisch eingestellte Deutsche haben ihre Unternehmen verkauft und sind im Sinne der Bewegung „Heim ins Reich“ nach Deutschland zurückgekehrt. Aber wie gesagt, es gab besonders in São Paulo und im Süden auch Deutsche, die nicht Nazis geworden sind. Allerdings war es sehr schwer, da bekannt zu werden. Ich konnte nicht extra nach Porto Alegre fahren, um dort Kontakte aufzunehmen.
Wie hat sich für Dich als Deutschen die Lage in Brasilien verändert, als Getúlio Vargas auf die Seite der Alliierten überschwenkte?
Da gehörte ich dem Feind an, und das sah so aus: Meine Frau z.B., die Polin ist, war Alliierte. Ich war Feind. Wenn ich den Bundesdistrikt (Rio de Janeiro war damals noch Bundeshauptstadt und bildete den Distrito Federal, S.F.) verlassen wollte, um nach São Paulo oder auch nur nach Niteroi zu fahren, wo der Bruder meiner Frau wohnte, mußte ich zur Polizei und mir einen Passierschein (salva conduto) holen. Das war nicht besonders angenehm. Einmal hat mir ein Beamter gesagt: „Siehst du, wir haben auch unsere Gestapo!“ Da habe ich geantwortet: „Glücklicherweise nicht.“
In einem Jahr wurde allen Deutschen verboten, während des Karnevals auf die Straße zu gehen. Wir waren mit einem Emigrantenehepaar befreundet, das dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund angehört hatte. Die haben nicht daran glauben wollen. Er war ungefähr 1,90 m groß und blond. Sie ist nicht viel kleiner. Die beiden sind doch auf die Straße gegangen, worauf sie prompt verhaftet wurden und 36 Stunden im Kittchen gesessen haben.
Ansonsten hat man uns ziemlich in Ruhe gelassen, d.h. meinen Eltern – es war uns gelungen, sie kurz vor Ausbruch des Krieges auch noch nach Brasilien zu holen – meinen Eltern, die eine winzige Ersparnis hatten, wurden genauso wie allen anderen Emigranten, die noch Sparkonten hatten und die noch Deutsche waren, alle Spargelder beschlagnahmt. Und genauso wie alle anderen haben meine Eltern nie einen Pfennig wiedergesehen. Deutsche Fabriken wurden auch beschlagnahmt, aber die wurden später zurückgegeben, denn soweit geht die Feindschaft wieder nicht.
Wie hat die brasilianische Bevölkerung reagiert?
Wir haben kaum Schwierigkeiten gehabt. Natürlich haben wir uns in all diesen Jahren gehütet, in der Öffentlichkeit deutsch zu sprechen. Das war selbstverständlich, denn andernfalls hätten wir Schwierigkeiten bekommen können. Es sind hier deutsche Geschäfte, darunter auch Nazigeschäfte, gesteinigt worden. Im Süden, wo sehr viele Japaner Landwirtschaft betrieben, hat man die Pflanzungen angezündet. Ich hätte mich nie irgendwie offiziell politisch betätigen können, auch in einer legalen Partei nicht, aber ich hatte auch kein Interesse daran.
Ich wollte jedoch noch etwas anderes erzählen. Wir wohnten bei einem alten Portugiesen in einem sehr schönen, alten Haus in Santa Tereza (Stadtteil von Rio de Janeiro, S.F.), als hier in Rio und in ganz Brasilien eine Spionenjagd ausbrach. Überall wurden deutsche Spione gesehen, nachdem die Deutschen verschiedene brasilianische Schiffe versenkt hatten. Die Scheinwerfer an der Christusstatue wurden abgestellt, weil das ein Orientierungszeichen für die deutschen U-Boote sei, und es ging eine wilde Jagd auf Spione los. Ich weiß z.B. von Bekannten, daß sie eines Tages zum Verhör befohlen wurden, weil ein Nachbar sie angezeigt hatte. Die Frau spielte Klavier, und er behauptete, mit diesem Klavier gäbe sie Zeichen an Deutsche. So weit ging das. Nun, unser Vermieter, dieser alte Portugiese, bekam es mit der Angst zu tun und hat uns vor die Tür gesetzt.
Hast Du je erwogen, nach dem Krieg nach Deutschland zurückzugehen?
Ich hatte die Absicht gehabt, nach Deutschland zurückzugehen, aber es ist ja bekannt, wie es dort nach dem Zusammenbruch aussah. Alle meine Freunde schrieben mir, daß es gar keinen Zweck hätte, unter diesen Umständen nach Deutschland zurückzukommen. Außerdem war mein Gesundheitszustand nach dem Krieg nicht der beste. Ich mußte noch immer eine TB behandeln lassen, die sich bei mir 1939 wahrscheinlich in Folge der Haft und der schlechten Verpflegung eingestellt hatte. Ein paar Jahre später wurden auch unsere beiden Kinder geboren. Wir hatten 1942 geheiratet.
Da ich aber nicht weiter staatenlos bleiben wollte, habe ich dann meine brasilianische Nationalisierung beantragt. Bei der Einbürgerung mußte ich auf die brasilianische Flagge schwören und wurde in die dritte Kategorie der Wehrpflichtigen eingeordnet zusammen mit den Krüppeln und Blinden. Das war 1951, noch von Getúlio Vargas unterschrieben.
Welche Gefühle hattest Du, als Du das erste Mal wieder nach Deutschland gekommen bist?
Ich bin Ende der 50er Jahre das erste Mal nach Deutschland gekommen. Ich war in Hamburg und in Nürnberg, das noch sehr zerstört war. Mein Gefühl war eigentlich, wie tragisch es gewesen war, daß 1933 die beiden Arbeiterparteien nicht eine Einheitsfront bilden konnten, um Hitlers Machtübernahme zu verhindern. Die KP hatte den Rotfrontkämpferbund, die Sozialdemokraten hatten den Reichsbanner, und beide hatten Waffen. Ein Teil der Polizei war auf Seiten der Sozialdemokratie. In Preußen war eine sozialdemokratische Regierung. Obwohl man diese Überlegung Wenn-Dann in der Geschichte nicht anstellen sollte, glaube ich, daß es möglich gewesen wäre, Hitlers Machtergreifung zu verhindern, selbst auf die Gefahr eines Bruderzwistes hin. Ich glaube, die Opfer wären geringer gewesen, als sie es nachher waren, sowohl für Deutschland als auch für die ganze Welt. Ich spürte auch ein Gefühl der Machtlosigkeit, denn wir hatten uns ja damals aufs äußerste bemüht, die KP zu einem richtigen Kurs zu bewegen. Aber die Politik der deutschen KP wurde in Moskau gemacht und nicht in Deutschland. Ich besuchte damals hauptsächlich die alten Genossen, denen es zum Teil gar nicht gut ging. Viele waren arbeitslos. Ich besuchte bei meiner ersten Reise auch Brandler. (Heinrich Brandler, neben August Thalheimer einer der Gründer der KPO – die Red.). Er lebte in Hamburg bei alten Genossen. Er war aber nicht sehr an Brasilien interessiert.
Du hast Dich in Brasilien nach dem Krieg weiterhin politisch betätigt. Wie sah Dein Engagement aus?
Die sogenannte Demokratie damals war eine sehr begrenzte. Die Kommunistische Partei war nur kurze Zeit legal und wurde dann wieder verboten. Alles wurde zerschlagen, und die Partei ging in die Illegalität. Auf der linken Seite gab es eigentlich nur die Vargas-Partei, das war eine Massenpartei, und es gab die Sozialistische Partei, mit der ich Verbindung aufnahm. Ich habe immer, seit ich einigermaßen bekannt war, Debatten geleitet und Arbeitsgemeinschaften geführt. Ich habe eine Gruppe von ungefähr 8-10 Leuten gebildet. Kurz vor 1964 hatten wir die erste Zusammenkunft mit der Sozialistischen Partei, um evtl. als Gruppe beizutreten, denn in Rio bewegte sich die Sozialistische Partei nach links. Aber dann kam der Putsch, und es war mit der Demokratie wieder aus. Es fing eine wirklich ganz massenhafte Verfolgung an. Während sie sich 1937/39 wesentlich auf die KP beschränkt hatte, erstreckte sie sich jetzt auf die Sozialistische Partei, auf Oppositionelle überhaupt, auf Intellektuelle, auf oppositionelle Militärs. Dann fing die Folter hier an. Inzwischen hatte man genügend gelernt, so daß Brasilien seinerseits in Uruguay und in Chile bei der Folter Hilfestellung leisten konnte.
Inwieweit hat die Repression, die in Brasilien nach dem Militärputsch einsetzte, Dich oder Deine Familie betroffen?
Meine Familie betraf die Militärdiktatur nur insofern, als meine Tochter verhaftet wurde. Persönlich habe ich keinerlei Verfolgung erlitten. Da ich bereits eine große Erfahrung im Leben unter Diktaturen hatte, in Deutschland und dann die Diktatur von Getúlio Vargas, habe ich mich entsprechend verhalten. Unsere Zusammenkünfte wurden immer konspirativer, und meine Bibliothek mußte ich einer gründlichen Reinigung unterziehen. 1977/78 haben wir verschiedentlich brasilianischen Illegalen, besonders Jugendlichen, geholfen, z. T. mit Geld, damit sie ins Ausland gehen konnten, z. T. durch die Beschaffung von Wohnungen, in denen sie einige Tage leben konnten. Wie gesagt, persönlich habe ich keinerlei Verfolgung erlitten, insofern als ich immer sehr vorsichtig gewesen war. Und vielleicht war es ein Glück, daß ich in der Opposition war und von allen offiziellen Gruppen sozusagen abgelehnt wurde. Was wir mitgemacht haben, war die Verfolgung von Freunden und von unserer Tochter.
Unsere Tochter studierte damals auf einer der hiesigen Universitäten Medizin. Wir wußten, daß an dieser Universität wie an allen Universitäten viele Grüppchen aktiv waren, und wir wußten auch, daß diese Grüppchen an unsere Tochter herangetreten waren. Einer der Jungs, der an sie herangetreten war, wurde verhaftet, und sie schlief schon einige Tage nicht mehr zu Hause. Eines Tages kam ich aus dem Büro zurück und fand 2 Polizeibeamte in unserer Wohnung vor, die das Zimmer unserer Tochter von oben bis unten durchwühlten. In dem Moment wußte ich, daß unsere Tochter verhaftet war. Ich fragte die Polizeibeamten – der Form halber, denn ich wußte, daß sie nicht die Wahrheit sagen würden – wo unsere Tochter sei. Ich sollte sie auf der politischen Polizei suchen. Sie nahmen 2 oder 3 Bücher mit, völlig unsinnig, weil ihnen der Titel verdächtig vorkam. Da kam das Wort „rot“ oder irgendetwas vor. Dann fing unsere Suche nach unserer Tochter an. Einem Politiker gelang es schließlich herauszufinden, wo sie war. Nach ungefähr 4 oder 5 Tagen wurde ich in die Armeekaserne gerufen. Ein Oberst zeigte mir dort ein langes Schema, wo die ganze Bewegung aufgezeichnet war, und ganz am Ende stand unsere Tochter. Da sie sehr wenig belastet war, wurde sie entlassen.
Wie sie uns dann erzählte, wurde sie vor allem der psychologischen Folter unterzogen, d.h. sie kam in eine stockdunkle Zelle, in der nichts war, keinerlei Einrichtungsgegenstände, nur der nackte Zementboden. Und nach einiger Zeit hörte sie plötzlich Schreie und Schüsse und bekam natürlich eine furchtbare Angst. Nach einiger Zeit aber wiederholten sich dieselben Schreie und Schüsse, und sie hat begriffen, daß das eine Aufnahme war. Dann wurde sie abwechselnd in eine andere Zelle gesperrt, den Kühlschrank (geladeira). Wände, Decke, Fußboden vollkommen weiß, ein grelles Licht und eine furchtbare Kälte. Ab und an kam ein Polizist und brüllte sie an, sie solle aussagen. Dann einer, der sich als Anwalt ausgab. Da sie sehr wenig belastet war, wurde sie nach 4 Tagen entlassen, hat aber noch lange Zeit unter einer Angstpsychose gelebt, besonders da die Polizeibeamten ihr gegenüber ohne Maske aufgetreten waren. Es ist ihr nachher dreimal passiert, daß sie Leute, die sie psychologisch gefoltert hatten, im Omnibus oder auf der Straße traf, was ihrer Angstpsychose natürlich nicht besonders gut bekommen ist.
Du hast inzwischen 3 Diktaturen miterlebt und bist nach wie vor ein politisch aktiver Mensch…
Ja, ich habe sehr viele Diskussionen und marxistische Arbeitsgemeinschaften geleitet, und ich habe diesen Freundeskreis von 8-10 Leuten, die mich heute sozusagen als einen äußerst wichtigen Einfluß in ihrem Leben bezeichnen. Aber das war natürlich sehr wenig. Deshalb war es außerordentlich wichtig für mich, daß Ende der 70er Jahre die Möglichkeit auftauchte, in Nova Iguaçú die Einwohnerbewegung zu unterstützen. Nova Iguaçú ist eine 1,5 Millionen Einwohner zählende Gemeinde vor den Toren Rio de Janeiros, die in den letzten Jahrzehnten explosiv gewachsen ist. Ihre ca. 400 Stadtteile, die fast ausschließlich von Migranten aus dem Landesinnern bewohnt werden, sind kolossal unterversorgt, was technische und soziale Infrastruktur anbelangt. Bis 1982 z.B. gab es kein einziges öffentliches Krankenhaus. Die Einwohnerbewegung tritt ein für die allerprimitivsten Bedürfnisse der Bevölkerung wie z.B. Trinkwasser, Kanalisation, öffentliche Verkehrsmittel, Schulen und Krankenhäuser. Seit 1977/78 habe ich in Nova Iguaçú im CEAC (Centro de Estudos e Ação Comunitária) mitgearbeitet, einer NRO, die die Einwohnerbewegung unterstützt und die von meiner Tochter mitbegründet wurde. Ich habe mich vor allem um finanzielle Fragen und die Dokumentation gekümmert, habe viele Filme und Fotos von Demonstrationen und Versammlungen gemacht, die dann von der Einwohnerbewegung genutzt wurden. Da ich noch im Büro arbeitete, war ich vor allem an den Wochenenden aktiv. Mehr war nicht möglich. Nach meiner Pensionierung 1983 wurde ich zum Präsidenten des CEAC gewählt.
Das CEAC umfaßt heute ungefähr 15 Leute. Wir sind eine Art Beratungs- und Unterstützungsgruppe (assessoria). Wir veranstalten Debatten, in den letzten Monaten z.B. über die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung, die gerade stattgefunden haben, führen Kurse für Frauen und werdende Mütter durch und unterstützen und beraten 15 von den Einwohnern selbst organisierte Kindergärten und Vorschulen. Wir arbeiten heute auch in Jacarepaguí, einem Vorort von Rio mit ungefähr 400 000 Einwohnern und 60 oder 70 Favelas. Dort ist eines der Hauptprobleme die Vertreibung von alteingesessenen Einwohnern in den Favelas durch Bodenspekulanten. Der Kampf geht hauptsächlich darum, diese Vertreibung zu verhindern. Oft heißt es schnell handeln, z.B. 50 Einwohner zusammen in eine Hütte, so daß es unmöglich ist, sie zu zerstören. Und vor allen Dingen sofort Schritte durch einen Anwalt einleiten. Wir haben befreundete Anwälte zur Verfügung, die uns in diesem Punkt behilflich sind. Sowohl in Rio als auch in Nova Iguacu hat das CEAC ein Büro mit Schreibmaschine, Telefon, Papier und Vervielfältigungsapparat, das den Einwohnern jederzeit zur Verfügung steht.
Wie würdest Du Deinen heutigen politischen Standpunkt beschreiben?
Ich würde mich heute, da die KPO nicht mehr existiert, als unabhängigen Marxisten betrachten. Der Marxismus hat sich inzwischen sehr viel weiterentwickelt, besonders in England, Frankreich, Italien, neben der offiziellen kommunistischen Bewegung, also in Opposition zu ihr. Ich würde sagen, daß ich mich diesen Bewegungen in gewisser Weise nahe fühle.
Du lebst nunmehr seit 50 Jahren in Brasilien. Inwieweit fühlst Du Dich noch in Deutschland verwurzelt?
Obwohl ich sehr stark in Brasilien verwurzelt bin, durch meine Kinder, durch meine Tätigkeit und meine Freunde – wir haben fast nur brasilianische Freunde – fühle ich immer noch, daß ich zwar nicht mit dem Fuß, aber doch mit dem großen Zeh immer noch in Deutschland bin. Mir fällt das Beispiel eines Baums ein, der in Deutschland Wurzeln schlug und aufwuchs und dann mit seinen Wurzeln ausgerissen und nach Brasilien verpflanzt wurde. Die Wurzeln und der Stamm sind noch dieselben, aber das neue Klima, der neue Boden hat zur Folge, daß die Blüten und die Blätter heute anders sind. Also ich würde sagen, daß meine Verwurzelung mit Deutschland – allerdings dem Deutschland von 1933, nicht dem Deutschland von heute, der Konsumgesellschaft – mit der deutschen Kultur, der deutschen Musik, der deutschen Literatur, vielen Freunden, die ich noch in Deutschland habe, stärker ist als 20%. Es ist überhaupt schwer, das in Prozent auszudrücken. Wenn, dann fühle ich mich vielleicht zu 65% als Brasilianer und zu 35% als Deutscher. Aber wie gesagt, diese Prozentsätze sind wenig ausdrucksvoll und besagen nicht, was sie ausdrücken sollen.
Ein Lebenswege-Interview mit seiner Frau Fayga Ostrower findet sich in der ila 197.