In den letzten Monaten hat es in Chile eine Menge territorialer Versammlungen (asambleas) gegeben. Wo und warum bilden sie sich?
BürgerInnenversammlungen haben seit einigen Jahren kontinuierlich zugenommen. Seit 2011 geht deren Zunahme einher mit national bedeutsamer werdenden sozialen Bewegungen. Dazu gehören die ökologisch ausgerichtete Bewegung gegen Wasserkraftwerke in Aysén, die Studierendenbewegung für öffentliche, kostenlose, qualitativ gute Bildung, die Bewegung in der Statdt Freirina gegen den Agrosuper-Konzern[fn]Agrosuper ist ein chilenischer Nahrungsmittelkonzern mit einem Jahresumsatz von ca. zwei Milliarden US-Dollar und 16 500 Beschäftigten (2012). Mit seiner Marke Super Pollo ist der Konzern Marktführer bei Hühnchen mit einem Marktanteil von 55 Prozent. Sein Kerngeschäft hat Agrosuper in Chile, ist aber auch in Italien, den USA, Mexiko und Japan aktiv.[/fn], die Bewegung für die Mapuche-Rechte. Die meisten von ihnen – die etwa vergleichbar sind mit BürgerInneninitiativen – entstanden im Zuge der Studierendenbewegung 2011, die Chile politisch verändert hat.
Durch Mobilisierung auf der Straße bis hin zum Barrikadenbau lenken sie den Blick auf lokale Probleme. In Südchile, wie etwa in Coyhaique, bestehen die Bewegungen vielfach aus Fischern, aber auch Beamten oder Hausfrauen sind dort wie überall aktiv. Sie kämpfen für existentielle Bedürfnisse, eigentlich nicht gegen das System. Es geht um die Rechte der Fischer auf bestimmte Fangquoten, es geht gegen Preissteigerungen für Benzin und Holz und andere Alltagsprobleme. In dieser Bewegung sind verschiedene politische Strömungen zusammengekommen. Das hat sofort autoritäre Reaktionen der Regierung wie Polizeirepressionen hervorgerufen.
Gegen wen richtet sich diese Bewegung?
In allen Fällen gegen die Regierung. In Nordchile gibt es eine spannende Bewegung gegen eine Schweinefarm von Agrosuper mit mehreren Tausend Schweinen in Freirina. Das ist auch der Ort, wo die erste nationale Konferenz der Bürgerversammlungen stattfindet.
Die Schweinezucht bescherte der kleinen Stadt zwei große Probleme: den Gestank und die Verschmutzung des Flusswassers. Dagegen mobiliiserten die Leute von Tür zu Tür und organisierten sich. Ein Konflikt zwischen der Bevölkerung und dem Unternehmen brach aus. Die Regierung argumentierte mit der freien Marktwirtschaft und der Investitionsfreiheit; die Bevölkerung stellte dann die Gegenfrage der sozialen Verantwortung der Regierung, die zulässt, dass die Farm direkt neben den Feldern und Wohnhäusern errichtet wird. Obwohl die Regierung sich wegen der bestehenden gesetzlichen Niederlassungsfreiheit für nicht verantwortlich erklärte, musste sie sich schließlich doch damit befassen und reagierte mit unglaublich harter Repression.
In dieser Region gibt es wenige Arbeitsplätze, sodass Agrosuper den Ort fast gespalten hätte. Das Unternehmen war der einzige große Arbeitgeber der Region und hat Schulen und öffentliche Einrichtungen finanziert. Unter dem Druck der Bevölkerung musste sich Agrosuper jetzt zurückziehen, hat aber 10 000 tote Schweine zurückgelassen.
Neben Agrosuper stehen auch internationale Konzerne wie ENEL und ENDESA am Pranger.
Das Wasser ist in Chile 1989 von der so genannten Übergangsregierung privatisiert worden, etwa 60 Prozent der Anteile hält der spanische Konzern ENDESA. Der noch staatliche Anteil wurde vom jetzigen Präsidenten ebenfalls verkauft. Als „Nebeneffekt“ gibt es in der Kleinstadt Putaendo seit drei Jahren kein fließendes Wasser, die natürlichen Wasserquellen sind verseucht, auch Wassertoiletten gibt es nicht, eine Katastrophe. Wenn das in Santiago passierte, würden sich das die reichen Leute nicht gefallen lassen, aber den Armen mutet man das zu.
Wie laufen solche Organisierungsprozesse ab, gibt es ein gemeinsames Muster hinter solchen Prozessen von bisher nicht in Parteien organisierten Leuten?
Die Leute sind unzufrieden und denken über eine breite Gegenwehr nach. Diese Prozesse müssen systematisch dokumentiert und ausgetauscht werden. Im Rahmen des Sozialgipfels als Atltrenative zum EU-Lateinamerikagipfel Ende Januar haben wir einen Workshop mit VertreterInnen von BürgerInnenversammlungen aus Freirina, Puente Alto, Cochrane (Aysen), Cajón del Maipo, Valparaiso, Putaendo, San Bernardo, Ñuñoa und den Sekundarschulen der Kordilliere durchgeführt. Wir konnten viele Erfahrungen zusammentragen. Diese BürgerInnenbewegungen sind Ausdruck einer systematischen Repräsentationskrise und eines nichtpartizipativen Politikmodells, das wir von der Diktatur und der Verfassung von 1980 geerbt haben.
Die Bildungsbewegung von 2011und 2012 brachte BürgerInnenversammlungen hervor, die zuerst die Studierendenenkämpfe mit Transparenten, Kochtöpfen, Demomärschen oder Gefangenenhilfe direkt unterstützten, später dann soziale und territoriale Probleme aufgriffen. Dadurch experimentierten sie mit neuen Organisationsformen wie horizontalen Beziehungen, offener Kommunikation, Netzwerkarbeit, Rotation der VertreterInnen, gegenseitiger Hilfe. Die individuelle Würde und die direkte Repräsentation durch NachbarInnen ohne Delegation ist ein wichtiges mobilisierendes Element. Einige Versammlungen hatten nach dem Abflauen der Studierendenbewegung Schwierigkeiten und suchten neue Formen, um NachbarInnen zu informieren und zu Versammlungen einzuladen. Dazu gingen sie von Haus zu Haus, was die Beziehungen zu den Leuten im Viertel und zum Territorium enger werden ließ. Durch die gemeinsame Auseinandersetzung mit lokalen Problemen wurden ebebnsolche im Wirtschaftsmodell unseres Landes erkannt und die Suche nach Alternativen begann.
Du sagst, dass die Studierendenbewegung sehr viel ausgelöst hat. „Die Leute bewegen sich erst, wenn es drückt“, hieß es im Workshop. Haben sich Probleme aktuell erschärft oder sind eher Mut und Selbstbewusstsein gewachsen?
Das ist unterschiedlich. In den letzten Jahren gab es etwa viele Fälle von Gewalt gegen Frauen. Die Frage ist, ob die Gewalt gestiegen oder ob sich die Frauen mehr wehren und die Gewalt zur Anzeige bringen. Ich bin überzeugt, dass das Selbstbewusstsein gestiegen ist und Gewalt nicht mehr akzeptiert wird. Bei anderen Auseinandersetzungen ist es ähnlich. Die Leute haben vorher nicht die Möglichkeit zum Widerstand gesehen, das ist der Effekt der Studierendenbewegung.
Unterscheiden sich die Parteien der Rechten, der Concertación oder der KommunistInnen in ihrer Haltung zu solchen lokalen Konflikten?
Die Parteien sind überhaupt nicht lokal vertreten, sie haben keine Leute an der Basis, ihre Strukturen sind zentral organisiert. Vielleicht haben die neu organiserten Leute eher eine „linke Kultur“, sind aber weniger von Parteien beeinflusst. Parteien werden lokal eher abgelehnt.
Gibt es in der Verfassung oder gesetzlich Formen des Poder local, lokaler Macht?
In der Gemeinde gibt es sogenannte Konsultativrechte: man wird gefragt, aber der Bürgermeister entscheidet. Warum werde ich dann gefragt? Die Partizipation ist nicht entscheidend, sondern konsultativ, aber selbst die Konsultationen werden oft nicht durchgeführt. In Las Condes (reicher Stadtteil von Santiago) hat ein rechter Bürgermeister eine Konsultation wegen eines Straßenbaus durchgeführt, der Bau wurde von den Befragten abgelehnt, aber selbst dort wurde er trotzdem durchgeführt.
Auch in deinem Stadtteil Ñuñoa gibt es jetzt eine Asamblea ciudadana, was sind hier die Themen?
Unser zentrales Thema ist Demokratie und Partizipation. Wir haben festgestellt, dass die Bewohner wenig von den städtischen Bauvorhaben wissen. Hier soll eine neue U-Bahn gebaut werden. Die Linie verbraucht Flächen, wie hier die wunderschöne Plaza Ramón Cruz, die völlig verändert würde. Wir haben die BewohnerInnen eines Sonntags zum Gespräch eingeladen die Veränderungen besprochen und gemeinsam dann Aktionen geplant. Daraufhin haben sich die Leute organisiert. Zwei Wochen später gab es eine große Versammlung, da wurde entschieden, wie man vorgeht, und eine Organisation gegründet.
Welche Perspektive gibt es für solche Organisierungsprozesse?
Wir brauchen einen langen Atem. Das Leben ist hart, die Leute sind müde. Es gibt aber viele aktuelle Konflikte, um die Wasserversorgung, die Kontaminierung, die Bauspekulation. Vor 25 Jahren durfte man nicht in die Höhe bauen. Der Bürgermeister hat seinerseits nach Gutdünken Konzessionen für Hochhäuser vergeben. Jetzt wird wild in die Höhe gebaut, ohne Rücksicht auf die dort schon länger Wohnenden. Die Kommunalregierung macht, was sie will, da stehen die Interessen des Bausektors und der Immobilienbesitzer ganz oben. Auf dem Land haben Zugang zu Wasser, Bergbau- und Agroindustrie höchste Priorität. Dann kommt der Energiehunger der Bergbauindustrie dazu. Obwohl Sonnenenergie oder Vulkane als geothermische Energiequellen zur Verfügung stünden, wollen diese Industrien billige Energie seitens des Staates auf Kosten der Lebensbedingungen Tausender Menschen, statt in Erneuerbare zu investieren.
Welche Lösung siehst du für diese Konflikte?
Wir haben eine von den Militärs diktierte Verfassung, die im Kern Kapital- und Investitionsfreiheiten, aber keine BürgerInnenfreiheiten garantiert. Es gibt Ideen für Verfassungsänderungen, das ist aber ein langfristiger Prozess. Bis es dazu kommt, müssen wir in Massenbewegungen unsere alltäglichen Rechte verteidigen, etwa uns das Recht auf Wasser wieder zurückholen.