Lateinamerika mehr Aufmerksamkeit zu schenken, ist auch sehr sinnvoll in einer Zeit, in der wir versuchen, unsere Wertschöpfungsketten zu diversifizieren und unsere übermäßigen Abhängigkeiten zu verringern“, sagte der EU-Außenbeauftragte, Josep Borrell, beim Brüsseler Gipfel. Zwischen den Zeilen steckt die eigentliche Mission der EU gegenüber Lateinamerika: der wirtschaftlichen Macht Chinas in der Region entgegenzuwirken und Rohstoffe für die europäische Industrie zu sichern. Auch in Deutschland reden Politiker*innen selten noch über Lateinamerika, ohne China zu erwähnen. Um China entgegenzutreten, müsse man schnell agieren und neue Freihandelsverträge abschließen. Dabei haben sich die wenigsten Politiker*innen hierzulande überhaupt mit den Inhalten dieser Verträge auseinandergesetzt. Hauptsache scheint zu sein, dass die EU ihren ökonomischen Einfluss in der Region vergrößert.
Verhandelt wird derzeit über die Ratifizierung des Abkommen zwischen der EU und der südamerikanischen Wirtschaftsorganisation Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay), das seit Juli 2019 fertig auf dem Tisch liegt. Das aktuell am häufigsten erwähnte Argument für das EU-Mercosur-Abkommen lautet: „Wenn wir nicht das Handelsabkommen abschließen, überlassen wir China die Region.“ Das ist aber ein Irrweg. Die EU braucht keine Handelsabkommen, um Handel mit Lateinamerika zu treiben. Brasilien ist zum Beispiel schon heute der zweitwichtigste Handelspartner der EU, wenn es um Agrarimporte geht. Die EU ist wiederum Brasiliens zweitwichtigste Handelspartnerin insgesamt. Das heißt: Die EU ist auch ohne Abkommen wie EU-Mercosur ein strategischer und unersetzlicher Handelspartner für die lateinamerikanischen Länder. Hinzu kommt: Wenn in der EU mehr Rindfleisch oder andere Agrarprodukte aus dem Mercosur gekauft werden, bedeutet das noch lange nicht, dass China im Gegenzug weniger kaufen wird. Die EU unterstützt Lateinamerika nur dann nachhaltig, wenn sie echte Partnerschaften auf Augenhöhe anbietet, zum Beispiel durch gemeinsame Projekte zu Agrarökologie und Waldschutz oder Technologietransfer für die Energiewende. Das EU-Mercosur-Abkommen macht all das jedoch nicht. Vielmehr konterkariert es diese Ziele.
Dasselbe gilt für andere Handelsabkommen wie EU-Chile und EU-Mexiko, die neben einem intensiveren Rohstoffabbau für den Export in die EU auch absurde Sonderklagerechte mittels intransparenter Schiedsgerichte für Investor*innen einführen. Mit Hilfe dieser als „Investor-to-State Dispute Settlement (ISDS)“ bezeichneten Klauseln können europäische Unternehmen Chile und Mexiko auf Schadenersatz verklagen, wenn neu getroffene politische Entscheidungen ihre erwarteten Gewinne schmälern. Es wird also mehr staatliches Geld für europäische Konzerne ausgegeben statt für öffentliche Dienstleistungen in Lateinamerika wie zum Beispiel im Bildungs- oder im Gesundheitsbereich.
Es ist offensichtlich: Wenn die EU-Kommission und andere politische Akteure in Europa die Geopolitik ins Zentrum ihrer Argumentation für diese Handelsabkommen rücken, benutzen sie gegenwärtige Konflikte, um etwas zu rechtfertigen, was sie schon seit Jahrzehnten ohne Erfolg versuchen durchzusetzen. In Wahrheit sind diese Verträge veraltet und nicht zeitgemäß. Das Verhandlungsmandat für das EU-Mercosur-Abkommen wurde in den 1990er-Jahren entworfen. Damals sah die Welt noch ganz anders aus.
Obwohl Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die im zuständigen Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz wirkende Staatssekretärin Franziska Brantner (Bündnis 90/Die Grünen) gerne ihre Zustimmung zu EU-Mercosur mit der Notwendigkeit von „Partnerschaften auf Augenhöhe“ mit Lateinamerika verbinden, verbirgt sich hinter diesen Freihandelsdeals das Gegenteil, die Fortsetzung neokolonialer Beziehungen. Denn Verträge wie das geplante EU-Mercosur-Abkommen zementieren ein Wirtschaftsmodell, das auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen in Lateinamerika zugunsten europäischer Konzerne basiert. Auf Kosten von Natur und Menschenrechten zielen diese Verträge darauf ab, Europa billig mit Rohstoffen aus dem arm gemachten Süden zu versorgen: Mineralien, Soja, Fleisch, Agrotreibstoffe, Holz.
In diesem Zusammenhang wurden die Verhandlungen um das EU-Mercosur-Abkommen dieses Jahr wieder intensiviert. Brasiliens Präsident Lula äußerte Sorgen, dass der Deal Brasilien weiter in die Abhängigkeit von Rohstoffexporten dränge und die Bedürfnisse Brasiliens nicht ausreichend berücksichtigt würden. In seiner ersten Amtsrede hat Lula erklärt, er sei nicht an Handelsdeals interessiert, die Brasilien zum ewigen Rohstofflieferanten machen.
Für die nationalen Wirtschaften könnte das Abkommen negative Folgen haben. Gewerkschaften aus Südamerika kritisieren, dass die geplante Zollsenkung für industrielle Importe aus der EU zu groß und zu schnell sei, als dass die lokale Industrie sich an den verstärkten Wettbewerb anpassen könnte. Der größere Wettbewerb gefährde Arbeitsplätze und erhöhe die Prekarität der Beschäftigungsverhältnisse im Mercosur, weshalb die Unterzeichnung des Abkommens „ein Todesurteil für unsere Industrien“ wäre, so die Gewerkschaften. In Argentinien wird geschätzt, dass fast 200 000 Menschen wegen des Abkommens ihren Job verlieren könnten.
Können diese Verträge zu einer Transformation der Wirtschaft auf beiden Seiten des Atlantiks beitragen? Ganz und gar nicht. Sie schaffen in Lateinamerika neue Absatzmärkte für europäische Produkte, die in der EU selbst aus Umwelt-, Klima- oder Gesundheitsgründen nicht mehr verkauft werden sollen, wie Verbrennerautos und giftige Pestizide. Durch den Zollabbau für den Export solcher schädlichen Produkte ermöglichen diese Deals, dass die europäische und deutsche Industrie ihre Produktionsmodelle trotzdem aufrechterhalten kann – verlagert in den Süden. Sie sind somit wahre Transformationshemmer.
Bieten diese Handelsdeals die Chance, die Natur in Lateinamerika zu schützen? Im Gegenteil. Das EU-Mercosur-Abkommen würde dazu führen, dass unter anderem Rindfleisch, Zuckerrohr, Futtersoja und Agrosprit aus dem Mercosur noch billiger und in noch größeren Mengen in die EU importiert werden können. Dabei tragen gerade diese Produkte zur Zerstörung von Wäldern und Ökosystemen bei, weil bei ihrer Produktion viel Anbaufläche benötigt wird, für die Regenwald gerodet wird. Für den Schutz der Wälder und der Natur gibt es bessere, wenn auch nicht perfekte Hebel, wie die EU-Verordnung für entwaldungsfreie Lieferketten und das Übereinkommen über die biologische Vielfalt.
Sind diese Handelsdeals hilfreich für die Energiewende und den Klimaschutz? Nein. Zu den größten Profiteuren des EU-Mercosur-Abkommens auf europäischer Seite gehören die Autoindustrie und Chemiekonzerne, weil sie durch den Zollabbau leichter Verbrennerautos und Pestizide verkaufen oder auch dort billig zusammenbauen beziehungsweise aus in Europa verbotenen chemischen Bestandteilen zusammenmischen können. Auf Seiten der Mercosur-Staaten profitiert die Agrarindustrie, allen voran die Rindfleischproduktion. Da all diese Produkte mit hohen CO2-Emissionen oder Umweltzerstörung verbunden sind, ist das Abkommen für den Klimaschutz nicht förderlich. Hinzu kommen mehr CO2-Emissionen durch den langen Transportweg von noch mehr Gütern über den Ozean.
Was es für die Energiewende und den Klimaschutz wirklich braucht, ist technologischer Transfer und eine grundsätzliche Reduktion des Ressourcenverbrauchs des reichen Nordens. Nur das kann zu weniger Rohstoffabbau und besserem Naturschutz führen. Mehr unfairer, asymmetrischer Handel von schädlichen Produkten, wie in den jetzigen und geplanten EU-Handelsabkommen mit Lateinamerika, ist absurd und kontraproduktiv. Es ist nicht zielführend, in der Zusammenarbeit einerseits auf Umwelt- und Klimaschutz zu setzen, aber gleichzeitig Handelsbeziehungen dergestalt auszubauen, dass sie genau diesen Zielen zuwiderlaufen.
Letztendlich muss die EU ihre koloniale Vergangenheit aufarbeiten und ihr auf einem asymmetrischen Machtverhältnis basierendes Wirtschaftsmodell überdenken. Als Zivilgesellschaft fordern wir und viele andere, dass die gemeinsame Zukunft zwischen der EU und Lateinamerika auf den Prinzipien von Solidarität, Gleichheit, Kooperation, Nachhaltigkeit und Demokratie aufgebaut wird. Die EU muss vom „EU first“-Gedanken wegkommen und Solidarität statt Ausbeutung praktizieren.