Hinter der renovierten Fassade des Borda herrscht das übliche Elend in heruntergekommenen Gebäuden. Das Borda wurde vor 150 Jahren gebaut, zeitweilig hatte es mehr als 3000 Insassen, heute leben hier 600 Männer, manche seit Jahrzehnten. Alberto zeigt mir die kleine Halle mit undichtem Dach, die ihnen das Krankenhaus für ihre Aktivitäten und die Lagerung ihrer Materialien zur Verfügung stellt. Und er betont sofort die Unabhängigkeit: „Wir arbeiten hier drinnen, aber wir gehören nicht zum Krankenhaus. Wir arbeiten alle ehrenamtlich und bekommen keinerlei finanzielle Unterstützung vom Krankenhaus. Die Räume haben wir nur, weil wir viel Druck gemacht haben. Sie müssen uns akzeptieren. Sie schmeißen uns nicht raus, weil das einen Skandal geben würde, weil wir dann auf die Straße gehen oder uns an die Presse wenden. Aber sie unterstützen uns nicht.“
Während der Diktatur stand das Borda unter der Verwaltung von Militärärzten. In einem inzwischen abgerissenen Gebäude betrieben die Militärs ein Folterzentrum. Mit der Rückkehr zur Demokratie sollten auch die brutalen Strukturen der Psychiatrie reformiert werden, das Borda wurde als Modellprojekt ausgewählt. Der Psychoanalytiker José Grandinetti lud Alberto Sava ein, sich zu beteiligen. „Er meinte damals zu mir: ‚Wenn du schon das Theater auf die Straße bringst, dann komm doch her und bring auch die Verrückten auf die Straße.‘ Ich bin zwar auch Sozialpsychologe, aber von Beruf Künstler. Ich habe in Rom und Paris gelebt, habe dort Performances und Straßentheater gemacht und dann in Buenos Aires eine Schule für Partizipatives Theater gegründet – Theater, das im öffentlichen Raum stattfindet, das keine Fiktion spielt, sondern sich in die Realität begibt, und in dem die Zuschauer*innen zu Teilnehmer*innen werden. Als ich 1984 ins Borda kam, sah ich, dass eine Menge Jungs im Park Gitarre spielten oder sangen, es gab Graffitis an den Wänden, Insassen schrieben Texte und Gedichte. Also schlug ich vor, hier drinnen eine Künstlergruppe aufzubauen.“
Im Gegensatz zur Kunsttherapie, bei der Therapeut*innen Informationen für die individuelle Therapie der Patient*innen gewinnen, sollten sich die Insassen als Künstler treffen, Werke mit künstlerischem Niveau schaffen und damit auf drei Ebenen Veränderungen erreichen: bei sich selbst, in der Institution und in der Gesellschaft draußen. „Die Kunst aus dem Borda außerhalb des Borda – das war unsere erste Parole. Auf einer Versammlung mit etwa 50 Insassen haben wir dieses Projekt vorgeschlagen und gemeinsam einen Namen gesucht. Ein Insasse hat Frente de Artistas del Borda vorgeschlagen und begründet: ‚Frente, weil wir nach vorne gehen, weil wir uns mit der Realität konfrontieren und sie verändern werden; Künstler, weil wir das sind und sein wollen; und Borda, weil wir aus dem Borda kommen und die Revolutionäre des Borda sein werden.‘ Um das Borda im Namen gab es allerdings immer wieder Diskussionen.“
Trotz der Bedenken, wegen des Borda stigmatisiert zu werden, wurde der Name Frente de Artistas del Borda (im Folgenden FAB) in der Abstimmung angenommen. Alberto erläutert die drei verschiedenen Ebenen der Veränderung: „Der erste Effekt der Kunst ist subjektiv, persönlich. Das gilt für alle, aber besonders für Patienten. Der Patient lebt an einem Ort, wo ihm ständig die eigenen Wünsche und der eigene Wille abgesprochen werden. Von einem denkenden, kreativen und sozialen Subjekt wird er zu einem ausgesonderten, verwahrten Objekt gemacht, dem die Seele genommen wurde, wie der hiesige Psychiatriekritiker Alfredo Moffatt es ausgedrückt hat. Die Kunst kann dazu dienen, all diese Möglichkeiten und Fähigkeiten wieder zu erlangen. Sie integriert den Menschen in eine Gruppe, in einen kreativen Prozess. Er bekommt wieder das Gefühl dafür, dass er denken kann, dass er fühlen und etwas schaffen kann. Dass er damit Veränderungen für sich selbst schafft, aber auch für die anderen. Das holt ihn aus der Rolle des Objektes heraus und macht ihn wieder zu einem Subjekt, zu einer Person. Und das ist nicht wenig. Der zweite Effekt bezieht sich auf die Institution. Für mich ist das hier ein Konzentrationslager. Hier werden sämtliche Menschenrechte verletzt. Es gibt körperliche und seelische Misshandlungen, Überdosierung von Medikamenten, Elektroschocks. Da hat sich zwar schon viel verbessert, aber all das gibt es noch. Dies ist eine geschlossene Institution, und die Verantwortlichen möchten, dass all das, was hier drinnen passiert, nicht nach außen dringt. In dem Moment, wo die Kunst hinausgeht, verlässt mit ihr auch der Insasse das Krankenhaus. Radio und Fernsehen interessieren sich für unsere Aktivitäten. Die zum Schweigen gebrachten Stimmen aus dem Irrenhaus werden draußen gehört, und das hat wiederum Auswirkungen hier drinnen, es schafft einen neuen Raum für Diskussion über die Widersprüche der Institution. So musste sich die Institution öffnen und bestimmte Dinge akzeptieren. Der dritte Effekt ist gesellschaftlich. Die Leute denken, dass es Irrenhäuser geben muss. Draußen herrscht ein finsteres Bild vom Irrenhaus und vom Verrücktsein. Wenn wir aber mit der Kunst nach draußen gehen und die Leute Kontakt zu uns bekommen, beginnen sie, ihr Bild zu ändern. Und zwar nicht in dem Sinne von ‚Ach, die Armen‘, sondern auf eine politischere Art, indem sie sich fragen, wofür Irrenhäuser eigentlich da sind.“
Der erste Ausflug 1984 ging auf die Plaza Constitución, wo sie Musik und Gedichte vortrugen, Flugblätter zur Situation im Borda verteilten und Schilder malten, mit denen sie dann rund um den Platz demonstrierten. Zum ersten Mal waren Insassen als Demonstranten auf der Straße. Im Jahr 1985 wurden mehrere Feste organisiert, drinnen und draußen vor dem Borda. Den Ausgang dafür musste sich die FAB mit einem Trick erkämpfen. Sie lud zwei Murga-Gruppen ein, die typischen Karnevalsgruppen aus Tänzer*innen mit Trommeln und Gesang. Diese zogen über alle Stationen und forderten die Insassen auf, mitzukommen. Als sie wieder am Eingang ankamen, tanzten 200 Insassen hinter ihnen her. Nachdem auch die feiernde Menge von draußen mit Unterstützung eines Unsichtbaren Theaters Druck gemacht hatte, gaben die wachhabenden Polizisten schließlich die Türen frei, und die Insassen konnten auch ohne Ausgangserlaubnis draußen feiern. „Heute haben wir keine Probleme mehr, Ausgang für die Aufführungen draußen zu bekommen, aber am Anfang schon. Nach dem Ende der Diktatur gab es noch viele Jahre lang Nachwirkungen, eine Kontinuität von altgedienten Ärzten oder solchen, die ideologisch der Diktatur näher standen als der Demokratie. Dann kamen jüngere Ärzte und Pfleger, die waren neuen Vorschlägen gegenüber offener und ließen mehr zu.“
In den ersten Jahren bekam die FAB viele Einladungen in andere Krankenhäuser. Sie unterstützte die Bildung ähnlicher Gruppen und angesichts der vielen Gruppen an verschiedenen Orten entstand die Idee, ein „Lateinamerikanisches Festival von in psychiatrischen Krankenhäusern internierten Künstlern“ zu organisieren. Als Alberto dies auf der Versammlung der FAB vorschlug, rief ein Insasse unter allgemeinem Gelächter ‚Der ist ja auch einer von uns!‘ Die Idee erschien einfach zu verrückt. Aber 1989 fand unter dem Titel „Ein Tor zur Freiheit“ tatsächlich das erste Festival mit 70 Teilnehmer*innen in einem Theater in Buenos Aires statt. Solche Festivalkongresse finden seitdem alle zwei Jahre statt. Die einwöchigen Zusammenkünfte bieten neben den Aufführungen auch viel Raum für Austausch und Diskussion. Für viele Insassen sind die gemeinsame Urlaubswoche, die weite Reise, die vielen Kontakte und die Vorstellungen vor großem Publikum ein ungeheuer spannendes Ereignis. Nicht wenige hatten vorher noch nie das Meer gesehen. Die Rückkehr in den tristen Anstaltsalltag führte bei manchen Teilnehmer*innen zu Krisen. Dies wird inzwischen bei der Vorbereitung in der Gruppe berücksichtigt und besprochen.
Im Jahr 2016, beim 14. Festival, waren in Mar del Plata 800 Teilnehmer*innen vor Ort, davon 600 aus der Psychiatrie. Für die Unterbringung und Verpflegung der in der Regel mittellosen Künstler*innen steht die staatliche Feriensiedlung in Chapadmalal zur Verfügung. Für die übrigen Kosten beantragen die Gruppen weitere Zuschüsse. Sie haben sich zu einem landesweiten Netzwerk Red Argentina de Arte y Salud Mental zusammengeschlossen, in dem die organisatorischen Aufgaben verteilt und regionale Veranstaltungen geplant werden.
Im Borda finden täglich Workshops statt: Partizipatives Theater, Zirkus, Malerei, Bildende Kunst, Musik, Fotografie, Tanz, Schriftstellerei, Pantomime und Wandmalerei. Außerdem gibt es eine Gruppe, in der über Konzepte und Wege der desmanicomialización diskutiert wird, und eine weitere zu Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit, die Artikel und Erklärungen verfasst, eine regelmäßige Sendung beim Radio der Mütter der Plaza de Mayo macht und eigene Zeitschriften herausgibt.[fn]Berühmt geworden ist „Radio Colifata“, das seit 1991 aus dem Borda berichtet, weil der Musiker Manu Chao den Titel-Jingle komponierte, im Jahr 2000 mit Musiker*innen aus Barcelona den Soli-Sampler „La Colifata: Siempre fui loco“ aufnahm und 2009 den Radiomachern ein Album widmete: Die Musik stammt von ihm, Samples, Jingles, Ausschnitte aus Sendungen der Bewohnern der Klinik: http://www.vivalacolifata.org/[/fn] 120 Insassen aus allen Abteilungen gehen zu den Workshops, an denen sich auch Leute von außen, ehemalige Insassen oder Student*innen beteiligen. Gegen die Hierarchie der Institution, in der die Insassen nichts zu sagen haben, setzt die FAB eine horizontale Struktur. Sämtliche Entscheidungen werden gemeinsam auf den Versammlungen getroffen, die alle zwei Wochen stattfinden. Die Beteiligung an der FAB bedeutet nicht nur künstlerische Entwicklung, sondern auch Politisierung – Demonstrationen für die eigenen Belange und Unterstützung anderer sozialer Bewegungen.
Die letzte Inszenierung der FAB, „Sin reserva“, hat Menschenrechtsverletzungen in der Diktatur und in der Psychiatrie zum Thema. Die Menschen, die zum Ende der Diktatur in der Psychiatrie interniert waren, wurden oft als „die anderen 30 000 Verschwundenen“ bezeichnet – nicht ermordet, aber hinter Mauern unsichtbar gemacht und zum Schweigen gebracht. Unter der Regie von Alberto wurde dieses Partizipative Theaterstück von allen Gruppen der FAB gemeinsam entwickelt. Ursprünglich sollte es im Ökologischen Reservat in der Nähe des Hafens aufgeführt werden: „Dort sind die ersten Körper von Verschwundenen aufgetaucht, die sie in den Río de la Plata geworfen hatten. Wir bekamen aber keine Genehmigung für die Aufführung. Angeblich, weil wir das ökologische Gleichgewicht stören würden, aber danach kam heraus, dass sie es aus ideologischen Gründen nicht wollten. Stattdessen haben sie uns das Ex Olimpo angeboten. Ein Konzentrationslager der Diktatur – das passte eigentlich noch besser zu der Idee.“ An dem Großprojekt waren 60 Künstler*innen beteiligt, die in 55 Szenen an verschiedenen Stellen des Geländes Vorkommnisse aus dem Alltag darstellten, aber auch Ereignisse wie den Tod von 45 Frauen, die während der Regierung Menem im psychiatrischen Krankenhaus Moyano verhungerten, oder die Repression auf dem Gelände des Borda im April 2013. Macri, damals Bürgermeister von Buenos Aires, wollte an der Stelle der Werkstätten, in denen Patienten Möbel bauen, einen Neubau der Stadtverwaltung errichten lassen. In einer Nachtaktion ließ er die Werkstätten abreißen, mit einem riesigen Aufgebot von Polizei, die gegen die protestierenden Beschäftigten und Insassen des Borda sowie herbeigeeilte Nachbar*innen mit Gummigeschossen und Tränengas vorging. Nach vielen Diskussionen über diesen Polizeieinsatz auf einem Klinikgelände wurde das Bauprojekt gerichtlich gestoppt. Als Präsident versucht Macri nun, das fortschrittliche Gesetz von 2010, das die Schließung der „Irrenhäuser“ in Argentinien bis 2020 vorsieht, zu kippen. Selbstverständlich hat sich die FAB dem landesweiten Bündnis zur Verteidigung des Gesetzes angeschlossen, denn nach wie vor gilt der alte Schwur: Kampf und Widerstand – bis die Mauern fallen.