Schluss mit reichen Agenturen und armen Kurieren! Unter diesem Motto demonstrierten am 22. September vierhundert Kuriere mit S.I.Me.Ca. vor dem Arbeitsministerium. S.I.Me.Ca. organisiert eine Gruppe von Arbeitern, die eigentlich weder als Arbeiter noch als organisierbar gelten. Mehr als 50 000 Motorradkuriere sind in Buenos Aires unterwegs, als „Selbstständige“. Das bedeutet: Sie arbeiten ohne Arbeitsvertrag und Sozialversicherung und müssen sämtliche Kosten für ihr Motorrad, für Benzin, Autobahnmaut und Handy selbst bezahlen. Aber: Sie arbeiten in der Regel für Agenturen, und die streichen fünfzig Prozent von den Gebühren ein, die die Kunden bezahlen – selbst von den Erschwerniszulagen für Fahrten bei Regen oder mit sperrigen Paketen. Viele Fahrer arbeiten nur für eine einzige Agentur, tragen deren Uniform und erfüllen deren Arbeitszeiten. Trotzdem sind sie keine Angestellten, die meisten arbeiten schwarz, einige als Scheinselbständige. Unfälle sind Privatrisiko. Sich acht oder mehr Stunden mit dem Motorrad durch den Verkehr von Buenos Aires zu wühlen, immer unter Zeitdruck, ist ein gefährlicher und schlecht bezahlter Knochenjob – aber eine expandierende Branche in Zeiten von hoher Arbeitslosigkeit und schnellen Geschäften.
S.I.Me.Ca. wurde 2000 von ein paar motoqueros gegründet. Sie verteilten Flugblätter an Ampeln und malten Parolen mit ihren Forderungen: die Agenturen sollen die Kosten von Versicherung und Handy übernehmen und einen höheren Prozentsatz der Gebühren an die Fahrer weitergeben. An der ersten Demo zum Unternehmerverband der Agenturen nahmen bereits 500 motoqueros teil. Bei der zweiten Demo im November 2000 blockierten sie die Stadtautobahn mit 2000 Motorrädern, um gegen die hohen Gebühren zu protestieren. Da bei den Kurieren Schnelligkeit zählt, sind sie auf die Stadtautobahn angewiesen. Sie konnten schließlich eine Gebührensenkung für Motorräder durchsetzen (aber noch nicht die Gebührenfreiheit für Kuriere). Im Juli 2001 protestierten 800 motoqueros gegen die Verkehrssperrung im Bankenviertel der Innenstadt, in „ihrem Revier“, wo sie die meisten Aufträge bekommen. Nur Geldtransporter sollten hier noch fahren dürfen. Nach der Demo und der Drohung, das nächste Mal nicht nach Feierabend zu demonstrieren, sondern die Geldtransporte zu blockieren, gab die Regierung nach.
Bei dem Aufstand am 19./20. Dezember 2001 wurden die motoqueros zu Kurieren der Bewegung. Sie verteilten Informationen, Wasser, Zitronen und Steine, brachten Verletzte aus Gefahrenzonen und legten sich mit der Polizei an. Der 30-jährige motoquero Gastón Riva wurde von der Polizei erschossen. An den Jahrestagen des Aufstands, und anfangs am 20. jeden Monats, organisiert S.I.Me.Ca. gemeinsam mit anderen Gruppen Gedenkdemonstrationen für die ermordeten DemonstrantInnen. Durch den Aufstand sind die motoqueros und ihre kleine Gewerkschaft S.I.Me.Ca. in Buenos Aires zu einer bekannten Kraft geworden, die bei vielen Demonstrationen präsent ist. „Kavallerie des Volkes“ werden sie seitdem von einigen genannt. Bei der Polizei sind sie verhasst. Die nutzt jede Gelegenheit, bekannte motoqueros anzuhalten, Bußgelder zu verhängen und Motorräder zu beschlagnahmen. Jüngster Anlass ist die neue Helmpflicht. Die Jungs finden es cooler, ohne Helm zu fahren, aber die Helme, über die sie verfügen, wären im Falle eines Unfalls sowieso kaum ein Schutz. S.I.Me.Ca. fordert von der Stadt, die ständigen Kontrollen sein zu lassen und stattdessen vernünftige Helme zu finanzieren.
Die Aktivisten von S.I.Me.Ca. haben sich von Anfang an von dem auch in Argentinien üblichen Modell der staatstragenden und unternehmerfreundlichen Gewerkschaftsapparate abgesetzt. Gewerkschaftsfunktionäre (die im Volksmund nur als „die Bürokratie“ oder „die Dicken“ bezeichnet werden) können sie nicht leiden. Schon daran scheiterte ein Versuch der peronistischen CGT-Moyano, S.I.Me.Ca. in ihren Dachverband zu ziehen. Der abgesandte Funktionär wurde als erstes gefragt, wo er denn sein Motorrad hätte. Da er sich nicht als Arbeiter der Branche ausweisen konnte, war das Gespräch damit beendet.
S.I.Me.Ca. hat keinen bezahlten Funktionär, aber seit September letzten Jahres ein eigenes Lokal, mit Reparaturwerkstatt und Kantine. Die Prinzipien sind horizontale Organisierung, Basisdemokratie und Selbermachen. Wenn es in einer Agentur Konflikte gibt, halten sie Versammlungen mit den dort Beschäftigten ab, um gemeinsam das Vorgehen zu entscheiden. Eine übliche Aktionsform sieht so aus, dass eine Reihe von Aktivisten der Gewerkschaft gemeinsam mit Fahrern der Agentur in das Büro reintrampelt, sich vor dem Chef aufbaut und Forderungen stellt – womit sie schon manches durchsetzen konnten.
Trauriger Anlass für eine andere Aktion war im März 2002 der Tod des jungen Kuriers Jorge Rodas durch einen Verkehrs- bzw. Arbeitsunfall. Der Chef der Agentur, für die er regelmäßig arbeitete, eilte sofort zum Unfallort – um Jorge die Jacke mit dem Emblem der Agentur und das Handy abzunehmen und so jede Verbindung zu seinem Betrieb zu vertuschen. Der Mutter gegenüber behauptete er, er würde sich um alles kümmern und es wäre nichts Schlimmes passiert. Am nächsten Tag war Jorge tot. Eine Anzeige der Mutter brachte nichts. Sie wandte sich dann an S.I.Me.Ca., wo sie zusammen beschlossen, mit escraches gegen den Agenturchef Ríos vorzugehen, zuerst vor seinem Privathaus und dann vor der Agentur, wo sie sämtliche Kunden über den Vorfall informierten. Ríos verlor dadurch seine Kunden, diese wurden von seinen Fahrern übernommen, die heute als Kooperative arbeiten.
Escraches sind eine Aktionsform, die von H.I.J.O.S. entwickelt wurde, der Organisation von Nachkommen der Verschwundenen. Die Täter der Militärdiktatur, die nach wie vor in Argentinien weitgehend unbehelligt leben können, werden mit lautstarken Aktionen vor ihren Häusern öffentlich angeprangert. Seit dem Dezemberaufstand 2001 hat sich diese Aktionsform flächendeckend verbreitet, gegen Politiker aller Art, aber auch gegen Ausbeuter und andere Feinde. Den Aktivisten von S.I.Me.Ca. waren escraches schon vorher vertraut: einige von ihnen sind auch bei H.I.J.O.S. aktiv. Sie beziehen sich auf die guten Traditionen ihrer Vorfahren, wie die starke, unabhängige Arbeiterbewegung, die in Argentinien Ende der 60er Jahre entstand. Der Aufstand in Córdoba 1969 gilt als die lateinamerikanische Variante des Pariser Mai. In den folgenden Jahren kam es zu wilden Streiks und Fabrikbesetzungen. ArbeiteraktivistInnen setzten Versammlungen und Basisdemokratie gegen den Gewerkschaftsapparat durch. Diese Bewegung wurde von den Militärs in Blut erstickt.
„Der Geist der Siebziger kehrt heute zurück…“, behauptet die bekannte argentinische Rockband Ataque 77 auf ihrer letzten Platte, wobei sie sich auf Zanón beziehen. Ebendort haben sie am 22. September gespielt, im Hof der besetzten Kachelfabrik in Neuquén, vor mehr als 8000 Leuten. Ein großes Open-Air-Konzert, ohne Polizei oder Security-Firma, alles selbstorganisiert unter Arbeiterkontrolle. Die Arbeiter von Zanón waren die ersten, die nach dem Aufstand versucht haben, die kleinen neuen Ansätze von unabhängigen Arbeiterkämpfen zusammenzubringen. Die von ihnen initiierte Arbeiterzeitung Nuestra Lucha ist zu einem Forum für ArbeiterInnen geworden, die sich nicht mehr von Bürokraten bevormunden lassen wollen – und erinnert in historischen Artikeln an die Arbeiterkämpfe der siebziger Jahre. Nach drei großen Treffen, die von den besetzten Fabriken ausgingen, haben nun die Delegierten der Subte, der U-Bahn von Buenos Aires, die Initiative ergriffen. Nachdem sie im April einen Streik gegen den Willen der Gewerkschaftsführung für den 6-Stunden-Tag wegen gesundheitsgefährdender Arbeit durchsetzen konnten, haben sie zu Koordinationstreffen für eine Kampagne zur Arbeitszeitverkürzung aufgerufen. Hier versammeln sich VertreterInnen von Arbeitslosenbewegungen und besetzten Betrieben, Oppositionsdelegierte aus verschiedensten Bereichen, die Bergarbeiter von Río Turbio, die nach einem Bergwerksunglück mit vierzehn Toten im Juni den alten „bürokratischen“ Betriebsrat in einer Versammlung mit Tumult aus dem Amt gejagt haben, oder die Werftarbeiter von Astillero Río Santiago, die im Juli ebenfalls einen neuen Basisbetriebsrat durchsetzen konnten. Die Aktivisten von S.I.Me.Ca. stehen solchen Treffen skeptisch gegenüber – wegen der Präsenz von politischen Parteien, „die alles besser wissen“ und „Arbeiterführern“, was ihrem absoluten Prinzip horizontaler Organisierung widerspricht. Trotzdem haben sie beschlossen, sich an dieser antibürokratischen Koordination zu beteiligen.