Das Binom formelle/informelle Ökonomie ist eng mit der Entwicklungstheorie bzw. -ideologie verknüpft. Die weit verbreitete Annahme bestand darin, dass der große Sektor der informellen Arbeitsverhältnisse der mangelnden Entwicklung der Volkswirtschaften geschuldet sei und dass Formalisierung nach dem Vorbild der Metropolenländer zu wirtschaftlichem Aufschwung und zu allgemeinem Wohlstand führen würde. Gemäß der „trickle-down“-These wurde in der internationalen wie bilateralen Entwicklungshilfe während der ersten beiden Entwicklungsdekaden 1960-1970-1980 vor allem in Großprojekte und große Fertigungsstätten mit formellen Lohnarbeitsverträgen investiert. Von diesen Entwicklungspolen sollte der Wohlstand bringende Fortschritt auf die anderen Sektoren „heruntertröpfeln“. Dass diese Politik nicht den erwarteten Effekt hervorbringt, wurde in gewisser Weise von der Weltbank unter ihrem Präsidenten Robert McNamara im Laufe der zweiten Dekade anerkannt, indem man das Programm der „Investition in die Armen“ schuf.
Die Armen wurden in „absolut“ und „relativ“ Arme eingeteilt. Als relativ arm galten diejenigen, die noch über etwas verfügten, ein Stück Land oder eine kleine Handwerksstätte, in die investiert werden konnte – ein Schelm, der Böses dabei denkt? Leider sollte sich meine Analyse als zutreffend erweisen: Auf dem Rücken der sogenannt relativ Armen kann ungeniert akkumuliert werden. Die Armen wurden nun vor allem auf dem Land ausgemacht. Die Investition in die armen Kleinbauern und ländlichen Kleinstgewerbe diente dazu, sie weg von der Subsistenz hin zur kommerziellen Produktion zu bringen[fn]to draw farmers from subsistence to commercial agriculture, siehe meinen Artikel: Investition in die Armen, Zur Entwicklungsstrategie der Weltbank, in: Lateinamerika, Analysen und Berichte 4, Berlin 1980, S. 74-96[/fn], damit sie ein Einkommen erwirtschaften und so ein besseres Leben führen könnten.
Das Programm trug erheblich zur Ausweitung des informellen Sektors bei. Gleichzeitig erfuhr dieser Sektor dadurch eine entwicklungsideologische Aufwertung. Der Akzent hinsichtlich der Trennungslinie zwischen formellem und informellem Sektor verschob sich. Ausgehend ursprünglich von einem Begriff, der die Art der Lohnarbeitsverhältnisse zum ausschlaggebenden Kriterium nahm, verschob sich der Fokus nun von der Ware Arbeitskraft, d.h. ihrem Verkauf gegen Lohnzahlung, hin zur Ware und zur Kommerzialisierung allgemein. Bis dahin hatte jener Sektor als formal gegolten, der von der sogenannten modernen Lohnarbeit geprägt war, die per Vertrag, langfristig und mit Sozialleistungen abgesichert ist. Arbeits-, Produktions- und Austauschformen, die dieser Vorstellung von modernem Sektor nicht entsprachen, wurden pauschal dem informellen Sektor zugeordnet. Freilich gibt es, zumal im Zusammenhang empirischer Forschungen, Einteilungen in verschiedene Formen von Informalität. Ausgangspunkt aber bleibt die Definition ex negativo: Was nicht dem Bild entsprach, das man sich von entwickelten, formellen Produktionsverhältnissen machte, war informell. Die entsprechende, man könnte sagen „ausgrenzende“ Denkweise ist in Begriffen wie „traditioneller“ und „moderner Sektor“ längst angelegt, insbesondere in „entwickelt“ versus „unterentwickelt“, und setzt sich fort, etwa in der Marginalitätstheorie.[fn]Marginalität in Lateinamerika – eine Theoriekritik, in: Lateinamerika, Analysen und Berichte 3, Berlin 1979, 45-85; Marginalidad en América Latina. Una crítica de la teoría, in: Revista Mexicana de Sociología, Vol. XLIII, Nr. 4, 1981, 1505-1546[/fn]
Mit der Präsidentschaft von McNamara und vor allem im Anschluss an seine viel beachtete Rede vor dem Gouverneursrat der Weltbank von 1977 macht sich ein neuer Zungenschlag im entwicklungspolitischen Diskurs bemerkbar. Im bislang wertlosen traditionellen Sektor werden Potentiale der Wertschöpfung entdeckt. Das hat Auswirkungen auf das Verständnis von formellem und informellem Sektor. Ausgehend von der formellen Lohnarbeit verschob sich der Akzent nun auf bezahlt = formell versus unbezahlt = informell, Vermarktung = formell versus Selbstversorgung = informell. Das lief aber im Endeffekt auf dasselbe hinaus, denn die Investition in die armen Bauern, Landfrauen und HandwerkerInnen machte sie zu abhängigen StücklohnarbeiterInnen von Banken und Agrobusiness (triangulation), sowie von der modernen Form des Verlagswesens der Heimarbeit, z.B. in der Produktion von Ethnotextilien. Vermittelt über die Kommerzialisierung, indem nämlich ihre Ackerfrüchte und Handwerkserzeugnisse zu Waren auf dem großen nationalen und internationalen Markt wurden, verwandelten sich die HerstellerInnen in verdeckte, prekär und unsicher bezahlte Fast-LohnarbeiterInnen.
‘Das Ziel, die Zahl der Armen im Laufe der dritten Entwicklungsdekade zu halbieren, wurde, wie McNamara später bekannte, keineswegs erreicht, sondern weit verfehlt. Wie auch sollte es erreicht werden?! Ging man doch von solch ideologischen, wirklichkeitsfernen Annahmen aus, dass die Subsistenzwirtschaft quasi reine Autarkie der einzelnen Haushalte bedeuten würde, und zerstörte durch die neue, oktroyierte Form der Kommerzialisierung rücksichtslos bestehende lokale, regionale und nationale in der Subsistenzwirtschaft wurzelnde Markt- und Austauschsysteme.
Das Begriffspaar formell/informell ist und bleibt eine schillernde, unpräzise Kategorie. Nichtsdestotrotz wird sie weit verbreitet genutzt, denn man weiß nicht so recht, wie man die vielfältigen Phänomene sonst fassen sollte, die dem sogenannten modernen, will sagen „entwickelten“ Lohnarbeit-Kapital-Verhältnis nicht entsprechen. Obwohl sie dieses zahlenmäßig bei weitem übertrafen, wurden die anderen Arbeitsverhältnisse und Produktionsformen dennoch nicht in eigenen Termini, sozusagen positiv beschrieben und untersucht. Damit wird das Lohnarbeit-Kapital-Verhältnis, und das heißt die Arbeitskraft als Ware, weiter zum Maßstab zementiert, sozusagen als Wert an sich. Jeder andere wirtschaftliche Weg verschwindet aus dem Beobachtungsraster. Selbst als unübersehbar klar wird, dass sich der moderne Lohnarbeiterweg, nämlich der Industriefacharbeiterweg nicht einstellen will, wird an der Fiktion als Maßstab und Lösung festgehalten. Der schwammige Begriff formeller/informeller Sektor übertüncht die Ungereimtheiten der anders laufenden Wirklichkeit. Festzustehen scheint nur, dass die Einbindung in den Dollar-regierten Markt – in welcher Form auch immer – ökonomisch fortschrittlich und je enger die Einbindung, umso formeller sei.
Die späten 1970er-Jahre sind auch die Zeit der massiven Schaffung Freier Produktionszonen (FPZ), in denen vor allem junge Frauen, aus McNamaras Armen vom Land rekrutiert, teilweise kaserniert Lohnarbeit tun. Es ließe sich trefflich darüber streiten, ob die Arbeit „for one dollar a day“, wie die haitianische Regierung sie in internationalen Zeitungen den ausländischen Investoren in ihren FPZ offerierte, formell oder informell sei. Diese Debatte erübrigt sich aber in gewisser Weise mit der nun offen neoliberalen Aufwertung des informellen Sektors, die im Süden mit dem Namen des Peruaners Hernando de Soto verbunden ist.[fn]Hernando de Soto, El otro sendero, 1986, auf Deutsch: 1992, Marktwirtschaft von unten, 1992[/fn] In Bezug auf den Norden fällt die Informalisierung ganz allgemein unter die Rubrik „Deregulierung“. Nun geht es definitiv nicht mehr darum, „gute“, formelle Lohnarbeit zu schaffen, sondern die Ausweitung des (dollarregierten) Weltmarkts ist alles.
Wie im Süden der Welt stellt sich auch bei uns im Norden jene Wirtschaftsstruktur mit jenen Arbeitsverhältnissen her, die in den Bezeichnungen „Unterentwicklung – Entwicklung“, „in-formell – formell“ bereits intendiert ist. Der so genannte formelle Sektor dehnt sich immer mehr aus. Immer mehr Arbeit, gerade auch Subsistenzarbeit, wird/muss in Lohnarbeit geleistet werden. Die Zahl der Bauern und Bäuerinnen, der selbständigen kleinen Handwerker und Handwerkerinnen sowie der selbständigen Händler und Händlerinnen ist inzwischen verschwindend gering; ebenso schwindet die Zeit für die Subsistenzwirtschaft, nämlich für die hauswirtschaftliche Versorgung und für die nachbarschaftliche Hilfe. Die Erwerbsquote der Frauen hat die 50-Prozent-Marke erreicht. Arbeit gegen Geld wird immer unausweichlicher zur Überlebensbedingung: Geld oder Leben.[fn]Veronika Bennholdt-Thomsen, Geld oder Leben. Was uns wirklich reich macht, München: oekom 2010[/fn] Für dieses grundlegende, abhängige Arbeitsverhältnis haben wir keinen Begriff, so selbstverständlich erscheint es. Ich schlage vor, von „Geldscheinlohnarbeit“ (Geld-Schein-Lohnarbeit) zu sprechen.
Mit der wachsenden Abhängigkeit von der Lohnarbeit nimmt auch im Norden die Informalisierung rapide zu. Das, was als Prototyp des formellen Arbeitsverhältnisses verstanden wurde, das so genannte „Normalarbeitsverhältnis“ (NAV), die „stabile, sozial abgesicherte, abhängige Vollzeitbeschäftigung“ schwindet auch in Deutschland dahin. Erheblich mehr werden hingegen abhängige Arbeitsverhältnisse, wie die geringfügige Beschäftigung, Teilzeitarbeit, sozial schlecht gesicherte Arbeit, sogenannte Scheinselbständige, kurz befristete Zeitverträge usw. In diesen Verhältnissen arbeiten mehrheitlich Frauen, aber eben zunehmend auch Männer. Die Reallöhne sinken, genauso wie die Bereitschaft, für mehr Arbeit weniger Lohn zu akzeptieren. Die Ausnahmebedingungen, die in den FPZ für das Kapital geschaffen worden waren, damit es dort investiere, globalisieren sich auch im Norden.
Das Motto „Sicherung des Wirtschaftsstandortes“ wird politisch zu einem vorgeblich nationalen Anliegen aller stilisiert. Und auch geglaubt. Der Weg zu diesem weltanschaulichen Konsens ist mit Worten wie „Unterentwicklung“ und „informeller Sektor“ gepflastert. Sie enthalten implizit die Drohung: „Wenn Ihr Euch nicht den Spielregeln der Wachstumsökonomie beugt, werdet Ihr so arm werden wie jene.“ Die Entwicklungsideologie mit ihren Schlüsselworten ist und bleibt integraler Bestandteil des ökonomischen Wachstumsglaubens. Sein kultureller Nährboden ist der kolonialistische Rassismus der wirtschaftlich fähigen, hart arbeitenden Leute in den reichen Ländern, die die Menschen in den armen Ländern wahlweise geringschätzen oder ihnen helfen, oder beides gleichzeitig. Das Fazit lautet von daher: Mitgefangen, mitgehangen.