Den Namen Peter-Paul Zahl hörte ich zum ersten Mal als 16jähriger 1976 oder 1977. Damals begann meine Politisierung in der katholischen Jugend und einer Schülerzeitung, und wir bekamen Plakate und Broschüren mit der Parole „Freiheit für Peter-Paul Zahl“. Das, was ich da las über den Drucker und Schriftsteller P.-P. Zahl, der als Terrorist zu 15 Jahren Knast verurteilt war, weil er sich seiner Verhaftung widersetzt hatte, gehörte zu den ersten Texten, die mein Vertrauen in den demokatischen Rechtsstaat zutiefst und dauerhaft erschütterten.
Du warst insgesamt 10 Jahre im Knast, wie waren die Bedingungen deiner Verhaftung und Verurteilung?
Ich war seit Ende der sechziger Jahre in Berlin Inhaber einer Druckerei und eines kleinen Verlages – wir druckten u. a. für die außerparlamentarische Linke. Die Druckerei hatte neun Ermittlungsverfahren am Hals, wir hatten massenhaft Razzien und ständig Ärger mit der Bullerei. Meine Frau war damals – 1971 – schwanger, ihr wurde eine Maschinenpistole an den Kopf gehalten von den Gangstern vom Staatsschutz. Sie wurde paranoid bis zum heutigen Tag, es kommen immmer noch ab und zu so Schübe, daß sie Angst hat vor Uniformen und eben Angst vor der Polizei.
Ich gehörte damals zu den Linken in Berlin, die nach Mao Zedong sagten, wenn der Feind uns verfolgt, ist das gut und nicht schlecht. Ich gehörte zum Sympathisantensumpf der „Bewegung 2. Juni“, viele vom 2. Juni waren meine Freunde. Die Razzien häuften sich, im Sommer 1972 war eine riesengroße Fahndung, nachdem die ersten RAF-Leute verhaftet worden waren. Meine Nachbarn, normale Berliner, die uns sympathisch fanden, weil wir arbeitende Menschen waren, rieten mir, ich solle nach Amsterdam oder Antwerpen gehen und dort auf einem Schiff nach Cuba anheuern. Ich sagte damals, soweit sind wir noch nicht. Als dann die großen Razzien stattfanden und es ernst wurde, habe ich mir eine Pistole und falsche Papiere besorgt, um bei einer eventuellen Überprüfung der Polizei so durch die Lappen zu gehen, wie es mal der Astrid Proll in Frankfurt gelungen war, also bei einer Kontrolle die Pistole zu ziehen und das Überraschungsmoment nutzen, um wegzulaufen.
1972 kam ich dann in so eine Kontrolle, und es wurde blutiger Ernst. Weil die Polizisten sofort ohne Rücksicht auf Verluste schossen, rannte ich um mein Leben und schoß ebenfalls, um meine Flucht abzusichern. Der Polizist, den ich dann traf und verletzte, sagte in meinem Prozeß, ich hätte Zickzack laufen müssen, weil sie auf mich geschossen hätten, während er schnell und geradeaus laufen konnte, und es könnte sein, daß er in die Kugel hereingelaufen sei. Bei der Wiederaufnahme wurde das dann auch erwiesen, daß ich im Winkel von 26° zweimal geschossen hatte, während die Anklage davon ausging, daß ich mich umgedreht und gezielt auf die Polizisten geschossen hätte. Im ersten Verfahren wurde ich wegen fortgesetzten schweren Widerstandes und wegen Körperverletzung zu vier Jahren Haft verurteilt. Die Staatsanwaltschaft ging in Revision, und in der Revisionsverhandlung, die unter ganz anderen Umständen stattfand, bekam ich dann 15 Jahre, mit der Begründung, das Strafmaß hätte auch drei Jahre lauten können, lautete aber 15 Jahre, weil ich ein Feind des Staates sei. Danach sind viele Leute, auch Liberale und Sozialdemokraten, für mich „auf die Barrikaden“ gegangen, weil sie das Urteil und seine Begründung unmöglich fanden. Es war ein Gesinnungsurteil, wie man es bis dahin nur aus der Nazizeit kannte. Der Richter, der mich damals zu den 15 Jahren verurteilt hat, war übrigens der Präsident einer großen Düsseldorfer Karnevalsgesellschaft.
Das zweite Mal, wo ich mich mit dir in gewisser Weise auseinandergesetzt habe, war Anfang der achtziger Jahre, als ich mit großer Begeisterung deinen Roman „Die Glücklichen“ las. Er gehört für mich zum Schönsten, was in den siebziger Jahren in Deutschland an Literatur geschrieben wurde. Du hast den Roman im Knast geschrieben, so weit ich weiß sogar in Isolationshaft. Hast du schon vor deiner Haftzeit geschrieben, oder kamst du erst im Knast zum Schreiben, und was hat das Schreiben für dich im Knast bedeutet?
Ich habe lange vor dem Knast geschrieben. Ich war ab 1964 Mitglied der „Gruppe 61“ – Literatur der Arbeitswelt – zusammen mit Max von der Grün, Günther Wallraff, F.C. Delius und anderen Leuten.
1965 hatte ich meine erste Lesung, 1968 wurde mein erster Erzählungsband veröffentlicht, 1970 erschien mein erster Roman. Im Knast habe ich dann weiter geschrieben. Wir hatten uns als Linke damit beschäftigt, irgendwann mal in den Knast gehen zu müssen. Wer Rosa Luxemburg und George Jackson usw. gelesen hatte, wußte, daß man sich körperlich und geistig fit halten sollte. Wir rieten generell allen Gefangenen, einen Beruf zu lernen oder Sprachen zu lernen, Schule nachzuholen oder eben künstlerischen Neigungen nachzugehen. Ich hatte für mich selbst ein sehr rigides Programm gemacht, um gegen die Atmosphäre im Knast praktisch anzuschreiben. Der Produktionsausstoß war ungeheuer hoch, obwohl ich nach und nach immer konzentrationsunfähiger war und für diesen Schelmenroman, Die Glücklichen, schließlich sechs Jahre brauchte, bis er fertig war.
Als ich den Roman zu schreiben begann, erlebte ich, daß die 68er schon anfingen, verlogen über die eigene Vergangenheit zu berichten. Einige Leute gingen zu den Jusos, ein paar zur DKP, und was sie über die APO-Zeit von sich gaben, waren gefälschte Geschichtserinnerungen. Wo ich dann sagte, die sollten lieber an die Lustmomente dieser Revolte denken. Rudi Dutschkes Lieblingsworte waren „militant und subersiv“. Die Subversivität, also eine Spaßguerilla zu machen, Gesetze zu umgehen, zu unterlaufen, Sachen zu machen, die nicht erwartet werden, unberechenbar zu sein und das eben zu verbinden mit der Lebensfreude generell, die von gewissen Typen in Kreuzberg gepflegt wurde.
Ich selber war damals ein junger Drucker, der auf der Flucht vor der Bundeswehr in Berlin gelandet war, wie so ungeheuer viele Bundeswehrflüchtlinge, die zur Radikalisierung der Revolte beigetragen hatten. „Studentenbewegung“ war von Anfang an ein vollkommen falscher Begriff. Bei den Springer-Unruhen 1968 wurden viel mehr junge Arbeiter und Lehrlinge verhaftet als Studenten. Wenn man dazu noch bedenkt, daß junge Arbeiter und Lehrlinge in so Straßenkampfgeschichten meistens cleverer sind als Studenten, ist die Dunkelziffer derer, die teilnahmen, viel höher. Ich jedenfalls war fast nur von Proleten umgeben oder von Gammlern, wie es früher hieß, d.h. von den Leuten, die keinen großen Bock hatten zu arbeiten, die Teilzeitarbeit machten, die rumjobten und viel reisten. Nach Nordafrika, in den nahen und fernen Orient bis hin nach Katmandu. Die erste Drogenerfahrungen machten, d.h. vor allem Marihuana rauchten, das sie aus Marokko und aus Katmandu mitbrachten. Diese Mischung aus der Drogenrevolte, der Rock n’ Roll-Revolte und der politischen Revolte, die beschreibe ich in dem Buch. Wie wir das erlebt haben. Ich bin auf die Demo gegangen gegen Moise Tschombé, dem Diktator aus dem Kongo, da waren wir damals 100 Männekes, einige von der FDJ Berlin, ein paar SDSler und eben so Antiautoritäre wie ich. Wir kriegten furchtbare Prügel wegen Verletzung der Bannmeile. Kurz darauf ging es dann zum Stones-Konzert auf der Waldbühne, wo es auch Putz gab. Das war so eine bunte Mischung, überall rebellierte es, das machte ungeheueren Spaß. Das drückte sich ja auch aus in der Popkultur, in den Texten der Rocksongs, in den Riesenveranstaltungen wie Woodstock in den USA und den großen Freiluftkonzerten, die es in Deutschland gab.
Dies alles habe ich in meinem Roman bewußt beschrieben, aus einer Perspektive von links unten, um die Szene etwas kritisch zu sehen, z.B. auch die marxistische Szene, und zwar aus Sicht des Lumpenproletariers, des Schelmen. Das ist ein Kunstgriff, der in der spanischen Literatur seit dem Barock berühmt war. Die alten spanischen Schelmenromane und die modernen lateinamerikanischen Romane dienten mir dabei als Vorbild.
Du kamst 1972 in den Knast. In den Jahren danach hat die linke Bewegung dieses subversive, kulturrevolutionäre Element zu großen Teilen verloren. Du hast schon erwähnt, daß viele zu den Jusos und der DKP gegangen waren, noch mehr gingen zu den K-Gruppen, wo von Spontaneität, Rebellion und Lebensfreude nicht mehr viel übrig war. Du hast diese Entwicklung, die du in dem Roman beschrieben bzw. karikiert hast, aus dem Knast heraus wahrgenommen. War das nicht eine sehr traurige Sache?
Den Beginn des Zerfalls habe ich noch erlebt vor der Knastzeit. Und deshalb sind ein paar Kapitel auch recht melancholisch, wo der Jörg, dieser Einbrecher, seiner Freundin Ilona, die vom Strich kommt, sagt, daß es ihm ein bißchen leid täte, ihr eine Bewegung im Zerfall zu zeigen. Aber auf der anderen Seite sagt er, „die schönsten Blumen blühen auf den Müllbergen“, und Berlin war damals so ein Müllberg, was dort entstand, war immer sehr interessant.
Die Perspektive des Auseinanderbrechens, des bösen Einflusses der K-Gruppen habe ich in dem Buch ja persifliert. Wie sich die Leute teilweise vom einen auf den anderen Tag wandelten, mit strammen ML-Parolen andere Leute zur Minna machten oder sagten: „Ab in die Fabrik!“, d. h. wie eine ungeheure Lustfeindlichkeit auftauchte. Ich als junger Prolet sagte mir, nichts als raus aus der Fabrik! Unsere Parole war damals dieses Lied von den Animals, von Eric Burdon „We’ve to get out of this place“. Das war praktisch die Parole einer ganzen Generation: Wir müssen aus der Scheiße hier raus. Meine privaten Perspektiven waren immer, entweder ein guter Fußballer zu werden, ein Rock n’ Roll-Star oder ein Schriftsteller.
Du wurdest nach 10 Jahren im Knast auf Bewährung entlassen. Im Unterschied zu den meisten sozialen Gefangenen wurden ja kaum politische Gefangene nach zwei Drittel Haftverbüßung entlassen, die meisten von ihnen mußten bzw müssen die ganze Strafe absitzen. Hat es dir in diesem Sinne etwas genutzt, daß du als Autor Bekanntheit erlangt hattest und es demzufolge für den Staat zunehmend peinlich war, dich weiter in Haft zu halten?
Es war praktisch anders herum. Meine Anwälte versuchten zusammen mit meinen Freunden von der „Initiativgruppe Peter-Paul Zahl“ in Frankfurt, Aufklärungsarbeit zu machen über meinen Fall und die Praktiken der deutschen Justiz. Sie legten Materialien zum Fall vor und sagten den Leuten, Ihr könnt lesen und schreiben, also bildet Euch bitte ein Urteil. Durch diese Arbeit sind Schriftstellerkollegen aus dem In- und Ausland staunend auf den Fall gestoßen, amnesty international hat sich darum gekümmert und andere Vereine, weil die Diskrepanz zwischen der Tat und dem Strafmaß alle empörte, auch weil klar war, daß ich nicht zur RAF gehörte.
Insofern war meine relative Bekanntheit als Autor natürlich nützlich. Aber vom Staat bzw. der Justiz wurde mir meine Schriftstellerei übelgenommen. Als meine beiden Anwälte damals zur Donnep, der Justizministerin von Nordrhein-Westfalen, gingen, um sie nur zu bewegen, einem dritten Prozeß zuzustimmen, der ein bißchen unvoreingenommener sein sollte, und die Donnep während des Gesprächs darauf aufmerksam machten, ich hätte im Knast einen Roman geschrieben, saß sie auf der Stuhlkante und sagte nur spitz: „Aber einen Schelmenroman!“ Das heißt, sie hat mir nicht verziehen, daß ich das System verspottet habe, daß ich es verarscht habe, daß ich nach wie vor antiautoritär geblieben war. Die erwarteten eine Unterwerfungsgeste.
Die erste Verbesserung kam für mich, als ich nach Berlin verlegt wurde, um überhaupt erstmal Normalvollzug zu kriegen. In Nordrhein-Westfalen bei den Sozialdemokraten unter Johannes Rau und Konsorten hatte ich niemals Normalvollzug, da hat das Landeskriminalamt bestimmt, was mit dem Gefangenen Zahl zu tun war. Das ist verfassungswidrig, darauf haben auch Richter hingewiesen. Erst als ich im Normalvollzug war, konnten Sozialarbeiter, Psychologen und normale Anstaltsleiter prüfen, ob ich nach zwei Dritteln der Haftzeit entlassen werden könnte, eine Entlassung nach der Hälfte der Strafe war wegen meiner „staatsfeindlichen Haltung“ abgelehnt worden.
Das dritte Mal bin ich 1983 auf den Namen Peter Paul Zahl gestoßen, als ich deine begeisterten Artikel über die Revolution in Grenada las, über deine Reise dorthin. Ich hatte damals gerade begonnen, mich in der ila etwas mit Grenada zu beschäftigen, und deine Artikel haben mich ziemlich mitgerissen und motiviert. Wie kamst du 1983 nach Grenada?
Im Knast war für mich und meine Freunde klar, daß ich nicht in Deutschland bleiben würde. Ich sagte mir, das Land, wo ich hingehen wollte, sollte im Süden liegen und englischsprachig sein. Australien und Neuseeland kamen für mich nicht in Betracht, da blieben ein paar Inselchen in der Südsee übrig und eben die Karibik.
Ich flog zunächst nach Trinidad. Durch Zufall hatte ich vorher Kontakt zur Grenada-Gruppe in Berlin. Als ich auf Trinidad in den ersten beiden Tagen unheimlich schlechte Erfahrungen machte, flog ich mit einem Standby-Ticket nach Grenada. Das war wie eine Zeitmaschine, wie bei H. G. Wells, wo du aus einer Zeit in die andere fliegst. Die Revolution, die „Beautiful Revolution“, gefiel mir sehr gut, und ich beschloß, mich da anzusiedeln.
Ich flog nach Berlin zurück und hatte vor, Ende 1983 ganz nach Grenada überzusiedeln. Da kam erst einmal der Putsch, wo man ungeheuer enttäuscht war. Ich hatte bei meinem Besuch, neben allen positiven Erlebnissen mit der Revolution und ihren Repräsentanten – ich hatte die Ministerin Jacqueline Creft kennengelernt, ich hatte Maurice Bishop, den Premierminister kurz getroffen – schon eine negative Erfahrungen mit den Stalinisten gehabt. Ich hatte mit Selwyn Strachan, dem Minister für Information und Nationale Mobilisierung, (einen der späteren Putschistenführer – die Red.) gesprochen. Der sprach schon gar nicht wie die Grenadiner, der hatte so eine bellende Ausdrucksweise, wie die KPD-AO-Leute[fn]KPD-AO – Kommunistische Partei Deutschlands – Aufbau Organisation (später nur noch KPD), Anfang der siebziger gegründete, äußerst rigide maoistische Partei, die eine sozialistische Revolution nach chinesischem Vorbild und einen „Befreiungsnationalismus“ proklamierte (Parolen: „Besatzer – raus aus Deutschland“, „Für ein wiedervereinigtes sozialistisches Deutschland“). Die KPD löste sich 1980 auf, viele ihrer Kader finden sich heute beim Realo-Flügel der Grünen.[/fn], das kannte ich von den Demos in Berlin her. Strachan hatte diese militant leninistischen Sprüche drauf, und in seinem Büro lagen auch die Schulungsbroschüren der Stalinisten herum.
Das war bei meinem Besuch aber die Ausnahme. Die anderen Leute aus der Regierung gefielen mir ungeheuer gut. Das war im Prinzip eine APO, eine Sammlungsbewegung aus ungeheuer vielen verschiedenen Grüppchen und Gruppierungen. Daß dann die OREL, diese Geheimorganisation von Bernhard Coard (stellv. Ministerpräsident und politischer Anführer der Putschisten – die Red.) so stark war und den Putsch anstrebte, haben wir nicht mitgekriegt.
Als der Putsch im Oktober 1983 stattfand und die besten Repräsentanten der Revolution ermordet wurden, hatte ich immer noch vor, nach Grenada zu gehen, weil ich davon ausging, daß die Putschisten früher oder später weg vom Fenster sein würden. Dann nahmen aber die Amis den Putsch als Anlaß, einige Tage später einzumarschieren. Das war tatsächlich nur ein Vorwand, denn sie hatten schon Monate zuvor Manöver in der Karibik gemacht, wo sie die Einnahme einer Insel trainierten. Nach der US-Invasion kam ich auf die schwarze Liste und konnte nicht mehr nach Grenada reisen.
Ich bin dann 1984/85 nach Nicaragua gegangen und zwar an die Atlantikküste, wo die Schwarzen wohnen. Nicaragua besteht ja praktisch aus zwei Ländern. Genauso wie Belize und Guatemala zwei Länder sind, sind die Atlantikküste und das übrige Nicaragua zwei Länder. Es gibt Rassen- und Klassenkonflikte zwischen Ost und West, abgesehen von den ganzen politischen Konflikten vor und während der sandinistischen Revolution. Die Politik der Sandinisten war, es zu machen wie in Südtirol, d.h. das Problem aus der Welt zu schaffen, indem man einfach genügend eigene Leute dorthin schickt. Mestizen aus dem Westen, um die Atlantikküste zu „hispanisieren“. Dagegen gab es aber massiven Widerstand seitens der Schwarzen und vor allem der Indígenas.
Ich hatte in Nicaragua große Probleme mit der Mentalität der Lateinamerikaner, also der Mischung aus Rassismus und Machismus. Da wäre ich doppelt bevorzugt gewesen, als Mann und als Weißer. Und da dachte ich mir, da kannst du dich nicht einmischen, und außerdem hatte ich auch Schwierigkeiten mit dem Staatsschutz in Bluefields.
Grenada, die Atlantikküste Nicaraguas und Jamaica sind alles Regionen, die afrikanisch geprägt sind. Was zog und zieht dich an der afroamerikanischen Kultur besonders an, die Tatsache, daß dort englisch gesprochen wird, kann es ja alleine nicht sein?
Ich habe ja von vornherein eine große Affinität zur schwarzen Musik, zur schwarzen Literatur, zu einer anderen Art mit dem Körper, mit der Sexualität, mit der Freizeit umzugehen. Es gibt bei Karl Marx diese schöne Geschichte aus dem gerade aus der Sklaverei befreiten Jamaica, wo er beschreibt, wie die Schwarzen in Hängematten den Weißen bei der Arbeit zugucken. Das habe ich in Bluefields auch selbst erlebt: dieses karibische Lebensgefühl, das eben ganz anders ist. Die Leute, die ständig auf dem Sprung sind, die ständig unterwegs sind, die weltoffen sind, die nicht so provinziell sind, die Wanderarbeiter sind, teilweise sicher aus der Not getrieben, teilweise aber auch, um die Welt kennenzulernen. Das ist so bis auf den heutigen Tag. Auf Jamaica wohnen 2 1/2 Millionen Leute und eine Million Jamaicaner leben im Ausland. Es ist ein ständiger Austausch von Leuten. Aus diesem Grunde sind die bei weitem nicht so provinziell wie die Leute in Mittelamerika. Managua kam mir ungeheuer provinziell vor. Die Selbstbezogenheit, das Dörfliche, dieses kaum Reflektieren des Weltmarktes, der allgemeinen Bedingungen. Die Schwarzen in Bluefields waren vor dem Krieg ständig unterwegs gewesen zwischen Puerto Limón in Costa Rica, Colón in Panama, Jamaica, Miami, Houston, Louisiana oder wo auch immer Verwandte lebten.
Was mir in der Karibik großen Spaß macht, ist diese Fusion der Kulturen. Egal welches Kolonialland regiert hat, ob es die Holländer waren, die Briten, die Franzosen oder die Spanier, die Schwarzen haben immer verschieden auf diese kolonialen Einflüsse reagiert und ihr Ding daraus gemacht. Das merkt man an der Musik, der Reggae auf Jamaica, der Calypso in Trinidad, der Merengue in der Dominikanischen Republik, der Rumba in Cuba. Das ist jedesmal anders, aber jedesmal ungeheuer afrikanisch geprägt.
Und es ist nicht nur in der Musik so, es ist im Tanz so, ebenso in der oralen Literatur. Es wird ungeheuer viel erzählt in der Karibik. Das ist auch etwas, was mir ganz toll gefällt, weil es mich an meine Kindheit in Mecklenburg erinnert. Da bin ich erzogen worden in der oralen Tradition, man hat mir sehr viele Märchen erzählt, und ich erzähle meinen Kindern in Jamaica auch viele Märchen und Geschichten usw. Dieser Austausch und diese verbale Kommunikation spielt eine viel größere Rolle. In den letzten Jahren fing es natürlich auch dort mit Video und Fernsehen an, aber das spielt lange nicht die Rolle wie hier. Vor allem die Kinder lauschen immer noch begeistert und fasziniert den Erzählungen und Geschichten. Von dem ungeheuer lebendigen, teilweise sehr affektiven und emotionalen Umgang miteinander konnte ich sehr viel lernen. Ich gebe zu, daß es für viele Leute schwierig sein würde, auf Jamaica zu leben, weil es ganz schön rauh, ganz schön hart da ist, ganz schön „ruff and taff“, wie die Jamaicaner sagen.
Darauf wollte ich noch einmal zurückkommen. Ich war gut vier Monate in Grenada gewesen. Ich hatte immer das Gefühl, ich könnte da nicht dauerhaft leben, weil ich mir als Weißer immer deplaziert vorkam und das Gefühl hatte, daß dort Gräben existierten, die mit Kolonialismus, Rassismus zu tun hatten, bei denen ich das Gefühl hatte, ich könne sie nicht überwinden. Hast du das Gefühl, daß du heute in Jamaica integriert bist, oder fühlst du dich nicht doch – zumindest manchmal – als Fremdkörper?
Als ich hinkam, war ich einer der vielen „Whities“, die hinkamen und sich in Land und Leute verliebten. Das ist den Leuten aber zuerst natürlich mal egal. Aber als sie merkten, daß ich dann im April 1986 heiratete, zwei Stieftöchter mit großzog, mich ansiedelte, in der Bürgerinitiative mitmachte, im Theater mitmischte und eben nicht reich war – das war sehr wichtig, daß ich kein reicher „Whitey“ war – da begannen sie, mich zu akzeptieren. Sie brachten mir sogar Mitleid entgegen, weil sie meinten, mit meiner Schriftstellerei würde ich es zu nichts bringen. Ich sollte lieber in „coconut and cattle“, also Kokosnüsse und Rindvieh investieren, weil das mehr Geld brächte. Außerdem stellte sich mit der Zeit raus, daß meine Knastzeit mir gute Karten gibt. Da spielte es eine sehr affektive Rolle, daß ein Weißer auch gelitten hat, daß sie sagen „he is one of us“. Das stimmt natürlich nicht objektiv, aber sie behaupten es eben.
Das Tolle ist, daß sie niemals verlangen, daß man sich assimiliert. Das gefällt mir am besten. Hier in Deutschland ist es ja so, daß die Türken und Jugoslawen der zweiten Generation sich total vergermanisieren sollen, am besten sollten sie am Schluß auch noch so aussehen wie Heino.
Auf Jamaica ist das Spannende einerseits eben das Bewahren der eigenen Kultur und dann aber auch die Tatsache, daß die Kulturen, die verschiedenen Bräuche und Sitten sich aneinander reiben und dann vielleicht eventuell etwas Drittes ergeben. Dafür ist ja gerade der Reggae ein ungeheuer gutes Beispiel: europäische Melodik und Harmonik und afrikanische Rhythmik mit speziell jamaicanischen Akzenten in der Taktverschiebung, statt zwei und vier wird eins und drei betont. Das heißt, daß man auf diese Art durch einen ganz langen Prozeß zu etwas Unverwechselbarem kommt. Genauso ist es in der jamaicanischen Literatur, da gibt es auch diese Mischung, daß die Erzählungspassagen in einem meist sehr guten Englisch geschrieben werden und in den Dialogen dieses ungeheuer lebendige Patois benutzt wird, der Dialekt, der in der Karibik verschieden ausgeformt ist und zu einer eigenen Sprache wurde.
Das ist überhaupt eine der größten Errungenschaften: die Erfindung von Sprachen. Die Schwarzen in Jamaica, die aus verschiedenen Stämmen, Völkern und Nationen kommen, hatten als kleinsten gemeinsamen Nenner das Englische, die Sprache der Sklavenbesitzer. Diese Sprache veränderten und benutzten sie aber so, daß die Sklavenbesitzer sie nicht mehr verstanden. Die Grammatik wurde afrikanisch, viele Wörter sind afrikanisch, und es entstand eine wunderschöne, melodische, klangreiche Sprache.
Ich habe erst angefangen, über Jamaica zu schreiben, als ich einen gewissen Teil der Spielregeln kapiert hatte. Es gibt ja diese oberflächlichen Spielregeln, und es gibt diese internen kleinen Geschichten, die einem ja erst helfen, sich zu vernetzen. Das ist mir ein bißchen mehr gelungen, als meine Tochter 1986 zur Welt kam und ich mit ihr zusammen das Patois richtig lernte, und zwar sozusagen perfekt von der Pike auf. Das ist sonst fast unmöglich, weil einen niemand korrigiert.
Mit dem Patois lernte ich auch die mit der Sprache verbundenen nichtformulierten Formen der Spielregeln, die darunter versteckt sind. In vielem z.B das magische Denken. In Jamaica glaubt man z.B. an schwarze Magie und weiße Magie, was sehr faszinierende Sachen für mich sind, die inzwischen in Europa auch schon wieder entdeckt werden. Wobei es für mich eben keine Hinwendung zum New Age ist, sondern einfach das bewußte Wahrnehmen von anderen Denkformen und Glaubensformen. Ich frage mich dann, was kann es den Leuten helfen und was kann es mir helfen und wie kann es z.B. auch Europäern helfen, von dem Irrweg, auf dem sie inzwischen sind, mit der Industrialisierung, ein bißchen runter zu kommen.
Du beziehst dich sehr positiv auf die jamaicanische Literatur. Du kannst aber als Autor mit den jamaicanischen Autorinnen und Autoren nur schwer in einen Austausch bzw. Dialog treten, weil du in Deutsch schreibst und sie deine Sachen nicht lesen können…
Das kommt drauf an, in der Poesie können sie das teilweise schon. Es gibt eine Gruppe in Kingston, die heißt „Poets in Action“; da werde ich demnächst auch mitmachen, zusammen mit einem Trommler aus Ghana, der bei uns im Ort wohnt, der ist Lehrer und Rasta, Lehrer auf der Rasta-Schule.
Es gibt die Dub-Poetry auf Jamaica, die zur Musik vorgetragene Lyrik, wo ich meine ins Englisch übertragenen Texte mit diesem Trommler zusammen machen werde. Das ist das eine. Das zweite ist, daß ich die Romane, die ich jetzt schreibe, ungeheuer intensiv mit der Familie und meinen Freunden diskutiere, sowohl im Ansatz, als auch einzelne Kapitel.
Natürlich habe ich den Blick des Fremden behalten, darum sage ich ja auch, daß ich ein jamaicanischer B. Traven[fn]B.Traven – Pseudonym des Anarchisten und Pazifisten Ret Marut, der im 1. Weltkrieg in München die antimilitaristische Zeitschrift „Der Ziegelbrenner“ herausgab. Während der Münchener Räterepublik war er Beauftragter der Räteregierung für das Pressewesen. Nach der Zerschlagung der Räterepublik durch rechte Freikorps konnte sich Marrut der Verhaftung und möglichen Hinrichtung durch Flucht entziehen. Ab Mitte der zwanziger publizierte er als B. Traven aus Mexico sozialkritische Romane und Erzählungen, die vor allem in der deutschen Arbeiterjugend viele LeserInnen fanden. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören „Das Totenschiff“, „Der Schatz der Sierra Madre“ und die „Rebellion der Gehenkten“. Der letztgenannte Titel ist das wichtigste Werk des sechsbändigen Caoba-Zyklus, der die elenden Lebensbedingungen der Indios in Chiapas im Vorfeld der mexikanischen Revolution darstellt und gleichzeitig als Parabel auf die faschistischen Konzentrationslager in Nazideutschland gelesen werden kann.[/fn] werden möchte. Als Fremder habe ich eben die Möglichkeit, vieles genauer, präziser zu sehen, was die Leute im Alltag gar nicht mehr entdecken, was erst wieder entdeckt wird, wenn man verreist oder lange genug in der Fremde gelebt hat, wie z.B. die jamaicanischen Gastarbeiter. Die sind viel größere jamaicanische „Patrioten“ als die Jamaicaner, die immer im Land gelebt haben, weil sie genau wissen, was sie in der Fremde vermissen. In meinen Kriminalromanen benutze ich den Trick, einen jamaicanischen Detektiv und einen Polizisten als Protagonisten auftreten zu lassen, die in England waren und bei Scotland Yard eine Ausbildung erhielten. Weil sie ihre positiven und negativen Erfahrungen aus England bzw. Europa mitbringen und reflektieren, haben sie einen etwas fremderen, kritischeren Blick auf die jamaicanische Gesellschaft.
Diese Perspektive gestattet es mir, meine Wahrnehmung der Realität in Jamaica auszudrücken: daß ich einerseits in der Fremde bleibe und auf Grund dessen den Blick des Fremden habe, auf der anderen Seite aber auch damit vermeide, Dinge exotisch zu sehen und zu schildern. Ich schildere sie aus dem Alltag heraus, und der Leser muß sich verdammt noch mal die Mühe machen zu akzeptieren, daß das, was ich beschreibe, anderswo spielt, wo andere Spielregeln gelten. Jetzt bei meiner Lesereise habe ich die Erfahrung gemacht, daß die Leute, die zugehört haben, teilweise unglaublich borniert sind, daß sie einfach nicht in der Lage sind, sich ein bißchen darauf einzustellen, daß woanders andere Spielregeln gelten.
Wird es für dich nicht auf Dauer schwierig, auf Deutsch zu schreiben, ohne eine Anbindung an den deutschen Sprachraum zu haben, und hast du in diesem Zusammenhang schon einmal darüber nachgedacht, in Englisch zu schreiben?
Erich Fried lebte 38 Jahre im Exil in London, schrieb aber immer auf Deutsch. Später hat er seinen Übersetzern geholfen, ihn ins Englische zu übersetzen, weil er inzwischen fantastisch Englisch sprach. Aber man bleibt in seiner Muttersprache. Mir geht es inzwischen so, daß ich fast zweisprachig bin. Wenn ich in Deutschland bin, träume ich auf Deutsch, bin ich einen Monat auf Jamaica, träume ich wieder Patois. Als ich anfing, auf Patois zu träumen, habe ich erst gemerkt, daß ich angekommen war. Das war eine ungeheuer wichtige Angelegenheit. Ich schreibe nach wie vor auf Deutsch und reibe mich auch an der deutschen Sprache. Ich finde es ganz angenehm, sogar manchmal ein bißchen Deutsch zu vergessen und dann nachzuschlagen, was dieses oder jenes Wort bedeutet, und dann finde ich im Deutschen mehrere Bedeutungen. Das heißt, ich bin von vornherein gezwungen, die deutsche Sprache neu zu hinterfragen, wie Erich Fried das gemacht hat, der sehr viel mit Sprache spielte und Sprache wörtlich nahm. Ich finde es spannend, daß man die Sprache eben auch wieder als etwas Fremderes betrachtet, was man kritisch untersuchen muß.
Früher hast du Romane geschrieben, Erzählungen, Gedichte, Essays, Theaterstücke. Jetzt hast du angefangen, Krimis zu schreiben. Was reizt dich an dieser Literaturgattung?
Ich bin ein sehr begeisterter Leser einer bestimmten Art von Krimis. Hammett, Chandler, Soziogramme, die ungeheuer präzise gute Schilderungen der US-amerikanischen Gesellschaft von den dreißiger bis zu den fünfziger Jahren geliefert haben. Ein guter Kriminalroman wirft ein Schlaglicht auf die Gesellschaft und ihre Brüche. Er beschreibt ihre innere Krisen, die emotionalen Prozesse und deren sozioökonomischen Hintergründe, d.h. die ökonomischen, ökologischen und sozialen Verhältnisse. Insofern gefällt mir solche Art von Literatur manchmal sogar mehr als die sogenannte Hochliteratur, die ja oft mehr berichtet von den Sorgen und Nöten der Mittelstandskaninchen, die mich nie interessiert haben.
Für mich ist es die Errungenschaft des modernen Romans, daß man ein Puzzle der Gesellschaft zusammensetzt, wo der Leser aktiv dabei sein muß, und dieses Puzzle sich erst nach und nach entschlüsselt, im besten Sinn des Wortes Unterhaltung und Belehrung bringt, wie es Literatur klassischerweise tun sollte. Das vermisse ich in der deutschen Literatur der letzten 20 Jahre mehr und mehr, der Aufklärungswert sinkt meines Erachtens enorm. Wenn nur geschrieben wird über Lebenskrisen von Literaten selber, finde ich das Müll, das interessiert mich nicht.
Ich danke dir für dieses Gespräch und wünsche dir weiterhin alles Gute.