Mitten im Elend

Nur knapp eine Minute bebte am Nachmittag des 12. Januar 2010 im Südosten Haitis die Erde. Port-au-Prince wurde zerstört, Hunderttausende starben, wurden schwer verletzt, verloren Angehörige, Freunde und das Wenige, was sie ihr Eigen nannten. Binnen einer Woche nach dem Beben hatten Regierungen aus aller Welt eine halbe Milliarde Dollar an Soforthilfe zur Verfügung gestellt, knapp 2000 Helfer von mehr als 40 Organisationen hatten sich auf den Weg nach Haiti gemacht. Angesichts der horrenden Zerstörungen, der vielen Opfer und der 1,5 Millionen Obdachlosen sprachen die UN bald von der größten urbanen Katastrophe der modernen Geschichte.

Eine der wichtigsten Autorinnen Haitis, Yanick Lahens, hat in einem aufrüttelnden Tagebuch festgehalten, wie sie das Desaster und die Stunden, Tage, Wochen und Monate danach erlebt hat. Gleich am 13. Januar 2010 hat sie ihre Chronik begonnen. Sie schildert die Momente, als plötzlich der Boden unter ihren Füßen in Wellenbewegungen zu schwanken begann, wie sie und die Nachbarn von Panik ergriffen ins Freie stürzten und auf der Straße Zuflucht suchten.

Danach sind die Menschen wie gelähmt, fallen in Apathie, trauen sich nicht in die halbzerstörten Häuser, schlafen, von Nachbeben terrorisiert, in ihren Autos. Gleich am Tag nach dem Beben macht sich Lahens auf in die Stadt, in das völlig zerstörte, unheimlich stille, bis ins Mark erschütterte, tödlich getroffene Port-au-Prince, eine Stadt, die es nicht mehr gibt, die sie trotz allem geliebt hatte, „trotz ihres Elends. Trotz des Todes, der saisonweise ganz unverhohlen durch ihre Straßen zieht. Skrupellos.“ Eine Stadt, die von ihren Bewohnern geliebt wurde, „weil sie überschäumte vor Energie…, wegen der Kinderscharen in Schuluniform, die sie jeden Mittag mit ihrer Lebensfreude ansteckten… Wegen des täglichen Zuviels, immer und überall… Wegen ihrer feurigen Männer und Frauen. Wegen…, wegen…“

Die Autorin fragt sich, wie sie überhaupt schreiben kann angesichts der Dimensionen des Unglücks, ohne dessen Folgen zu exotisieren, ohne den Voyeurismus zu bedienen, ohne sich den Gesetzen des Marktes unterzuordnen. Sie fragt sich, wie sie der erlebten und überlebten Apokalypse gerecht werden kann. Sie gibt sich selbst die Antwort, sie tut, was sie immer getan hat, sie schreibt, beschreibt, teilt sich mit. Indem sie aufschreibt, was sie erlebt hat, notiert, was sie sieht, fühlt, riecht, hört und schmeckt, indem sie festhält, was ihr durch den Kopf geht, gelingt es ihr, nach und nach das Trauma zu verarbeiten.

Yanick Lahens schreibt sich mit dem Tagebuch ihren Kummer von der Seele. Sie ist sich sicher, dass sie gerade jetzt Haiti nicht verlassen darf, weil sie Zeugnis ablegen will, gerade jetzt muss sie bleiben, darf nicht das Handtuch werfen und desertieren wie so viele andere, vor allem Fachkräfte, die das Land so dringend braucht.

Und weiter stellt sie sich und den LeserInnen quälende Fragen, sie will wissen, warum es immer Haiti trifft: „Schon wieder wir, immer wir. Als wären wir auf der Welt, um die Grenzen dessen auszuloten, was Menschen ertragen können. Die Grenzen der Armut, die des Leids.“ Wirkliche Antworten findet sie keine, sie macht eher eine Reihe von Zufällen aus, „die uns mitten ins Herz aller nur denkbaren Herausforderungen der modernen Welt katapultiert haben.“ Sie meint damit die unabänderlichen geologischen, geographischen und historischen Gegebenheiten der Insel. 

Die Geschichte Haitis wirft allerdings weitere Fragen auf: Die Selbstbefreiung von Kolonialismus und Sklaverei zu Beginn des 19. Jahrhunderts „geben Haiti das Recht, den Dialog mit dem Rest der Welt auf Augenhöhe zu führen…, hier und heute, angesichts dieser Katastrophe, die grundlegenden Fragen zu stellen.“ Sie meint damit die Nord-Süd-Beziehungen, die ungerechte Weltwirtschaft, Abhängigkeit und Ausbeutung einerseits sowie die bad governance der nationalen Führungselite andererseits, kurz all die Missstände, die einer nachhaltigen Entwicklung Haitis im Wege stehen. Sie setzt also die „tektonischen Verwerfungen“ in Beziehung zu den politischen, wirtschaftlichen und „sozialen Verwerfungen“ der Vergangenheit und Gegenwart Haitis.

Lahens stellt auch das Auftreten der internationalen Nichtregierungsorganisationen in Frage, das trotz oder gerade wegen der großen Dienste und vielen Hilfsgelder einer Entmündigung gleichkomme. Die Regierung habe darauf hingewiesen, dass sie keinerlei Kontrolle über die Nichtregierungsorganisationen habe, dass die groß angelegte Lebensmittelversorgung für die heimische Agrarproduktion eine Gefahr darstelle. Die Folgen seien unabsehbar. Haiti gelte, schreibt Lahens, mit bis zu 10 000 NRO als eines der Länder mit der höchsten NRO-Dichte weltweit. In der Folge stiegen die Mieten für Wohnraum und Büros, für Mietwagen, Benzin, Obst und Gemüse. Und: „Auf lange Sicht verdirbt, korrumpiert die Hilfe sowohl den, der sie gibt, als auch den, der sie annimmt.“ Haiti sei bereits dauerhaft süchtig geworden „nach Crack, das internationale Hilfe heißt“. Haiti ist aber auf Hilfe von außen angewiesen. Einen Ausweg aus diesem Dilemma weiß auch Lahens nicht.

Eine Rückkehr zur Normalität habe noch nicht stattgefunden, schreibt die Autorin ein halbes Jahr nach dem Beben. Doch es gebe erste Anzeichen. So habe die Fußballweltmeisterschaft das Land für einige Wochen die drängendsten Probleme vergessen lassen. Und in einer ganz normalen Totenwache und Bestattung sieht Yanick Lahens erleichtert eine Rückkehr ins Leben: „Einer der ersten Toten, die nicht sang- und klanglos von uns gingen… Das Leben nimmt wieder seinen Lauf, weil man die Toten wie üblich bestattet.“ (Siehe auch die Besprechung ihres Romans „Tanz der Ahnen“ in ila 282)

Yanick Lahens, Und plötzlich tut sich der Boden auf. Haiti, 12. Januar 2010, Rotpunktverlag, Zürich 2011, 160 Seiten, 18,50 Euro