Moctezumas Trip auf Pilzen, Chili, Schokolade

Wenn man in einer der großen deutschen Buchhandelsketten einen sogenannten „historischen Roman“ in die Hände nimmt, weiß man, was eine*n erwartet. Als eine Gattung der Telenovela, hier des literarischen Betriebs, ist die Ansprache an die Zielgruppe bereits mit dem Umschlag gesetzt: Was früher der Nackenbeißer war, ist heute einer dieser Romane, die eine klare Handlung vor einer vermeintlich historischen Kulisse darlegen. Das Buchcover hat eine ebenso eindeutige wie austauschbare Gestaltung. Pastellfarben, ein paar Blumen und idealerweise ein weiter Horizont hinter dem blauen Ozean. Die Hauptfigur ist meistens weiblich und legt eine beeindruckende emanzipatorische Entwicklung an den Tag, allen patriarchalen Gegebenheiten zum Trotz. Obwohl man diese Ausnahmen von der regelhaften Unterdrückung (leider) nicht unbedingt ernst nehmen kann und wohl niemand hier eine historische Akkuratesse erwartet, sind Bücher dieser Gattung wahnsinnig erfolgreich. Sie versprechen eine kleine Flucht aus dem tristen Lohnarbeitsalltag, mit einer einfachen, romantischen Geschichte, die von den eigenen chaotischen Beziehungen und Situationships ablenkt.

Der mexikanisch-US-amerikanische Autor Álvaro Enrigue hat ebenfalls einen historischen Roman geschrieben, der jedoch wenig mit den Verwandten auf den Wühltischen gemein hat. Im Mittelpunkt steht die Ankunft der spanischen Konquistadoren im aztekischen Tenochtitlan und die ersten Begegnungen beim „Clash of Cultures“. Viele Romane und Spielfilme haben schon die gewaltsame Eroberung des aztekischen Reichs und die Intrigen der Spanier behandelt. Das interessiert Enrigue jedoch weniger. Was an seinem Buch besonders fasziniert, ist der Perspektivwechsel, ähnlich wie in Binets Roman „Eroberung“, in dem der Inka Atahualpa Europa kolonisiert. Einerseits gibt es bei Enrigue einen leicht wehmütigen Blick auf die architektonischen Wunderwerke der aztekischen Hauptstadt, andererseits wird hier nichts romantisiert. Ob der Stadtstaat wirklich so perfekt organisiert war, vom Hofstaat der Colhua bis zum Ständesystem der Mexica, und die Straßen im Vergleich zu den europäischen Großstädten ein Hort der Reinheit waren, ist Teil seiner dichterischen Freiheit.

Enrigues besondere Leistung ist hier nun aber die Eigenwahrnehmung der aztekischen Herrscherkaste, insbesondere Moctezumas ignorantes Innenleben und seine drogeninduzierte, psychotische Abwesenheit von der weltlichen Realität. Diese Eigenschaften schillern in ständigem Kontrast und Wechselspiel zu den neugierigen und ebenfalls maßlos arroganten Spaniern und werden durch die irritierten Übersetzer*innen, den befreiten Sklaven Gerónimo de Aquilar und die Nahua-Prinzessin Malinztin, der Lächerlichkeit preisgegeben.

Insbesondere Letztere ist die einzige Protagonistin, die mit der Empathie des Autors gewürdigt wird. In seinem Kammerspiel werden sehr unterschiedliche und kuriose Charaktere, wie der historisch verbürgte Bürgermeister Tlilpotonqui oder der erdachte kastilische Hauptmann Caldera, auf spannende Art und Weise in einer Arena drapiert und mit ihren Winkelzügen unaufhaltsam und shakespearesk in den Abgrund geführt. Wahrhaft unterhaltsam und bisweilen frustrierend sind Enrigues Schilderungen des absoluten Chaos hinter der sauberen Fassade des Stadtstaats. Die Priesterkaste und der Huei Tlatoani sind dauerbreit, ihre Mahlzeiten aus allen möglichen bewusstseinserweiternden Zutaten wie Pilzen, Peyote, Chilis oder Kakao sind ein Mittelpunkt der Handlung, um den sich die scheinbar Mächtigen wirr und haltlos drehen.

Ein romantisches Ende für sie wäre hier fehl am Platz. Enrigue ist wenig sentimental, was Sprache wie Handlung betrifft. Er schreibt elektiv und wenig larmoyant: Was brutal war, ist auch hier brutal, aber mit großen Schlachten oder (physischen) Kämpfen hält er sich nicht auf. Zum Finale hin wird es geradezu unübersichtlich, was aber ein großer Lesespaß ist. Trotz seiner ansonsten akkurat recherchierten Kulisse erlaubt der Autor sich dann einige Freiheiten, die beim Lesen trotz all des Wirrwarrs der Reflexion dienen: Wie genau unterschieden sich denn die hybriden wie feudalen Kulturen der Europäer*innen und Aztek*innen überhaupt und was war damals schon das Faszinosum an Lateinamerika, das selbst Konquistadoren zum Klassenverrat trieb?

Wer sich nach der Lektüre doch noch mehr Freiheit bei der Auswahl der Quellen wünscht und an den postmodernen Versatzstellen besonderen Spaß hatte, die mit ganz eigenen Deutungen und Positionierungen eindeutig auf das heutige Mexiko zielen, dem sei der vorherige Roman des Autors ans Herz gelegt: „Jetzt ergebe ich mich, und das ist alles.“ In dieser Tour de Force des Guerillakriegs der Apachen gegen alle und jede*n sind die Erzählstrukturen noch einmal ungestümer und freier. Beide historische Romane sind, wenig überraschend, keine leichte Kost, aber der Einblick, der sich hier in die noch nicht kolonisierten Gesellschaften Nordamerikas bietet, ist beeindruckend und sehr zu empfehlen.