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Modernisiert und zurückgeblieben

„Der andere 11. September“ und seine Auswirkungen auf Chiles Gesellschaft und Ethik

Ein ganzer Sammelband zum 11. September in Chile – ist das nicht ein sehr spezielles Unterfangen, das Gefahr läuft, redundant zu sein? Mitnichten, vielmehr ergänzen sich die 16 Beiträge auf vortreffliche Weise. Natürlich durchziehen Themen wie die Vergangenheitspolitik oder die neoliberale Durchdringung aller Gesellschaftsbereiche den Band wie ein roter Faden. Auch aufgrund ihrer universellen Bedeutung kann und muss diesen übergeordneten Sujets ausreichend Raum gewährt werden. So weist Herausgeber Cristian Alvarado Leyton in der Einleitung darauf hin, dass die Kultur der Straflosigkeit und die damit einhergehende Verrohung der Gesellschaft Deutschland mit Chile verbinden.

In ihrem „Brief aus Santiago“ berichtet Johanna Viktorin von ihren Beobachtungen im Santiago von heute, vor allem von ihrer Arbeit im Museum der Erinnerung und der Menschenrechte in Santiago. In ihren Brief hat sie kurze testimonios, Zeugenberichte von verschiedenen Menschen eingeflochten, die nach dem Putsch in Chile grausame Erfahrungen machen mussten, die bis heute in ihnen fortwirken: „Ich traue mich nicht zu schlafen, da ich Dinge träume, an die ich mich nicht erinnere.“ (S. 42) Die Diktatur hat die Leute verändert, jeder konnte damals jedem gefährlich werden. Eine Kultur des Misstrauens hat sich dauerhaft etabliert, das soziale Miteinander verbleibt häufig auf einer unverbindlichen Ebene. „Der einzige Ort des wirklichen Vertrauens ist die Familie.“ (S. 39)

Ila-Redakteur Gert Eisenbürger ordnet den Putsch historisch und regional ein und zeichnet nach, wie der Putsch dazu diente, das neoliberale Wirtschaftsmodell in Chile – weltweit erstmalig – durchzusetzen. Brutale Unterdrückung von Gewerkschaften – durch Verbote, Inhaftierungen und Zwangsexil – und mehrheitlich niedrige Löhne sind die andere Seite der Medaille des chilenischen „Wirtschaftserfolges“. Im Beitrag von Urs Müller-Plantenberg zu den politischen Akteuren in Chile wird ebenso aufgezeigt, wie die chilenische Gewerkschaftsbewegung entmachtet wurde. Interessantes Detail der Geschichte: In einem Abkommen wurde beschlossen, dass die CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftung Schulungskurse für die neu eingesetzten Gewerkschafter anbieten konnte (S. 65).

Isidoro Bustos stellt dar, wie die Diktatur die von ihr geschaffene autoritäre und neoliberale Gesellschaftsordnung nachhaltig in Chile verankern konnte. Patricio Aylwin, der erste Präsident der Concertación, der Koalition von Christ- und Sozialdemokratenn betonte, dass „Gerechtigkeit nur im Rahmen des Möglichen“ (S. 76) hergestellt werden könne. Der rechtliche Rahmen ließ keinen Spielraum für eine politische Alternative – schließlich stammt die chilenische Verfassung noch aus der Diktatur und bis 1998 war Pinochet Oberbefehlshaber über die Armee und somit eine latente Bedrohung für die chilenische Gesellschaft. Auch Ingrid Wehr weist in ihrem Beitrag zur Vergangenheitspolitik darauf hin, dass die „Mächte der Vergangenheit (…) in den Herrschaftsstrukturen der Gegenwart“ fortwirken (S. 106). Durch eine Politik des Konsenses, die faktisch eine Ko-Regierung des rechten Blocks mit sich brachte (S. 85), kam es unter den vier Concertación-Regierungen zu keinen tiefgreifenden Reformen, etwa im Hinblick auf Sozialversicherung, Arbeitsrechte oder Bildung.

Die Verabschiedung des lange Jahre gültigen Bildungsgesetzes LOCE war die letzte Amtshandlung der Diktatur gewesen. Damit wurde die Bildungshoheit auf kommunale Ebene verlagert, Bildung wurde zum Geschäft. Gegen das zutiefst ungerechte und klassistische Bildungssystem wehren sich seit einigen Jahren die SchülerInnen und Jugendlichen, die damit eine der wichtigsten neueren sozialen Bewegungen Chiles darstellen, wie u.a. Jorge Rojas Hernández anerkennt. Seine exzellente Analyse bringt sehr gut auf den Punkt, warum Chile eine blockierte Gesellschaft ist, „zugleich modernisiert und zurückgeblieben, beherrscht von einem Modernisierungsdiskurs und einer halbfeudalen sozialen Praxis“ (S. 158).
Ein weiterer Beitrag mit Aha-Effekten stammt von Laura Glauser, die eine Kritik des neo-liberalen Konzepts „Unternehmer seiner selbst“ vornimmt. Diese Figur ist auch hierzulande allzu bekannt, ebenso ihr Gegenbild, der „Sozialschmarotzer“, der ja selbst Schuld an seinem sozialen Elend sei. (S.189)

In dem Buch versammeln sich vielfältige Herangehensweisen – neben wissenschaftlichen Aufsätzen und philosophischen Essays gibt es Raum für eine instruktive Analyse von chilenischen Dokumentarfilmen, für gleichermaßen prägnante wie beißende Kurzgeschichten des Schriftstellers Pedro Lemebel (siehe ila 305) oder auch für persönliche Formate wie die Reflexionen über die unterschiedlichen Lesarten des 11. September in Chile von Carla La Mura Flores oder die Aufzeichnungen von Tatiana La Mura Flores zum „Exil aus Kindersicht“, die gerade durch ihre unverstellten Einblicke berühren: „Besonders politisch engagierte Lehrer wiesen mir die Rolle der Expertin zu. (…) ‚Warum erzählst Du den anderen nicht, dass die Gefangenen mit aufgeschlitzten Bäuchen von Hubschraubern ins offene Meer geworfen wurden?’ Nur dass gerade dieses Thema ein Teil meiner Familiengeschichte war, worüber ich nicht sprechen wollte, hat dieser Lehrer nicht begriffen.“ (S. 145). 

Der gut zu lesende Band ist für AnfängerInnen wie Fortgeschrittene in Sachen Chile gleichermaßen zu empfehlen, nicht zuletzt wegen der Lehren, die über Chile hinausweisen: im Hinblick auf die Notwendigkeit zu erinnern und Gerechtigkeit herzustellen sowie hinsichtlich des so verdammt erfolgreichen Neoliberalismus’, der unser aller Leben ziemlich fest im Griff hat.

Cristian, Alvarado Leyton (Hrsg.), Der andere 11. September. Gesellschaft und Ethik nach dem Militärputsch in Chile, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2010, 24,90 Euro

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