Ein jüngeres Beispiel für diese Konstellation ist die Auseinandersetzung um das Costanera Center im Zentrum Santiagos, das 2013 eingeweihte Megaprojekt des deutschstämmigen Einzelhandelsmagnaten und Eigners des Cencosudimperiums, Horst Paulmann. Das Projekt umfasst den (momentan) höchsten Wolkenkratzer Lateinamerikas, vier weitere Bürotürme und beherbergt des Weiteren eine der größten Malls des Kontinents. Aufgrund der zentralen Lage und schieren Größe des Projektes waren sich die ExpertInnen im Vorfeld einig, dass die Auswirkungen auf die benachbarten Viertel gravierend sein würden, insbesondere in Bezug auf die Verkehrssituation. Dennoch war es nicht möglich, sich mit Paulmann auf die gemeinsame Finanzierung der notwendigen Verkehrsinfrastruktur zu einigen. Auch gab es keine Transparenz im Planungsprozess, keine nennenswerten Beteiligungsprozesse und auch keine angemessene Umweltverträglichkeitsprüfung, was von verschiedenen städtischen NGO über Jahre hinweg thematisiert und kritisiert wurde. Für den Bauherrn Paulmann hingegen war diese Kritik nichts als Erbsenzählerei auf dem Weg zu Größerem: „Als in Frankreich der Eiffelturm gebaut wurde, waren auch alle dagegen. Heute ist er der Stolz von ganz Paris. Genau das wird mit dem Costanera Center passieren.” Während Paulmann für seine Aussagen von KritikerInnen beißenden Spott erntete, stand ihm Präsident Piñera zur Eröffnung zur Seite.
Ganz ähnliche Fälle, in denen überdimensionale Immobilienprojekte – häufig in Form von Shopping Centern – strategisch und symbolisch zentrale Orte der Stadt in Beschlag nehmen, können in den letzten Jahren auch in anderen Regionen Chiles beobachtet werden. In der Weltkulturerbestadt Valparaíso etwa wird an einer der wenigen frei zugänglichen Uferpromenaden gegen große Widerstände eine Mall errichtet und in Castro, Hauptstadt der Chiloé-Inselgruppe am Tor zu Patagonien, werden die ebenfalls zum Weltkulturerbe gehörenden typischen Holzkirchen nun von einem festungsartigen Einkaufszentrum im Big Box-Design auf dem höchsten Punkt der Stadt sprichwörtlich in den Schatten gestellt. In allen genannten Fällen gab es Diskussionen und Kritik am hermetischen Design der Projekte, an der intransparenten Planung, an der Rechtmäßigkeit der Verfahrensweisen, an den negativen Konsequenzen für die unmittelbaren Nachbarschaften wie auch für das Image der Städte insgesamt – am Ende wurden die Projekte aber jeweils durchgesetzt.
Die genannten Großprojekte sind nur der sichtbarste Ausdruck eines beeindruckenden Immobilienbooms in den Städten Chiles, insbesondere in Santiago. Hier bestätigt sich, was kritische Stadtforscher im Anschluss an die Arbeiten von Henri Lefebvre und David Harvey seit langem diagnostizieren, nämlich dass die Immobilien- und Infrastrukturproduktion zunehmend ins Zentrum der Wirtschaft rückt. So hat Santiago seit den frühen 90er-Jahren immense Investitionen erfahren und eine rapide Modernisierung durchlaufen: von einem Meer von Hochhaus- und Apartmentprojekten in den zentralen Stadtvierteln über Gated Communities (geschlossene Wohnanlagen) am Stadtrand mit jeweils bis zu 100 000 EinwohnerInnen bis zu einem hypermodernen Autobahnnetz, das die verschiedenen alten und neuen Subzentren verbindet. Hinter den Immobilien- und Infrastrukturprojekten stehen häufig einflussreiche ökonomische Gruppen und Familien des Landes, dazu Immobilien- und Pensionsfonds und – besonders im Bereich der Verkehrsinfrastruktur – transnationale Konglomerate. Die lokalen, regionalen und nationalen Regierungen unterstützen diese Entwicklung weitgehend bzw. machen sie durch entsprechende Pläne und Programme – und manchmal auch deren Abwesenheit – erst möglich.
Zunehmend steht dieses vom Immobiliensektor getriebene Wachstum im Widerspruch zur Wiederaneignung des öffentlichen Raums durch die verschiedensten zivilgesellschaftlichen Gruppen. In Santiago (und Chile insgesamt) herrscht eine Stimmung des Aufbruchs, wovon die weltweit bestaunte Studentenbewegung – mit ihrem vorläufigen Höhepunkt im Jahr 2011 – nur der prominenteste Ausdruck ist. Immer mehr Organisationen, Gruppen und lose Initiativen zeigen sich im öffentlichen Raum – auf den Straßen, Plätzen und Parks der Stadt, ebenso wie in den sozialen Medien – und reklamieren dabei, mal implizit und mal explizit, ihr Recht auf Stadt. Dabei geht es um die Förderung der Fahrradkultur und des nachhaltigen Transports, um Initiativen gegen Gentrifizierung, um öffentliche Picknicks und urbane Interventionen, um die Pflege des städtischen Kulturerbes, um die Verhinderung von spezifischen Großprojekten und – wie schon in den 50er-und 60er-Jahren – um das Recht auf Wohnraum für die Ärmsten. Das Spektrum ist so vielfältig, wie es die Problemlagen, Interessen und Bedürfnisse sind, deutlich wird in jedem Fall ein gewachsenes (Selbst-)Bewusstsein der BürgerInnen im Hinblick auf ihr Recht auf Stadt.
Der Beginn des (Wieder-)Erwachens der städtischen Zivilgesellschaft aus den düsteren Tagen der Repression durch die Militärdiktatur lässt sich auf die späten 90er-Jahre datieren und als Reaktion auf das in Santiago um sich greifende „Schwindelgefühl der unkontrollierten Modernisierung“ interpretieren, wie es der chilenische Philosoph Martín Hopenhayn in einem Essay beschrieben hat. Anstatt vom neoliberalen Modell der Chicago Boys abzurücken, vertiefte die Mitte-Links-Koalition der Concertación, die von 1990 bis 2010 kontinuierlich die Regierung stellte, noch die wirtschaftliche Öffnung und Liberalisierung. Mit allen wichtigen Blöcken der Weltwirtschaft wurden Freihandelsverträge abgeschlossen, für die Hauptstadt Santiago war dabei die Rolle des internationalen Kapitaldrehkreuzes und einer „Stadt von Weltklasse“ vorgesehen, wie es in Planungsdokumenten genannt wurde. Der Schlüssel dazu war das Ankurbeln der privaten Immobilienwirtschaft durch das Ausweisen von Wachstumsgebieten im Stadtzentrum und vor den Toren der Stadt sowie die Modernisierung der Transport- und Kommunikationsinfrastruktur.
Gleichzeitig wurden Probleme wie die extreme Luftverschmutzung durch den stark zunehmenden Autoverkehr, die wachsende soziale Ungleichheit oder das völlig fehlende Mitspracherecht der Bevölkerung immer deutlicher. So kam es beim Bau der ersten innerstädtischen Autobahn Costanera Norte, dem Vorzeigeprojekt der Regierung von Ricardo Lagos, ab 1997 zu erheblichen Protesten. Ganz im Stile des modernen Städtebaus sollte die geplante Ost-West-Autobahn mitten durch die historischen Viertel Bellavista und Pedro de Valdivia führen, ohne jedwede gestalterische Sensibilität gegenüber der unmittelbaren Umwelt und gegen den Willen einer großen Zahl von BürgerInnen. Aus den unterschiedlichsten sozialen Milieus formierte sich eine Regenbogenkoalition und nach Jahren der Mobilisierung konnte eine neue, umweltverträgliche (und in weiten Teilen als Tunnel realisierte) Route erstritten werden.
Über das spezifische Anliegen hinaus hatte die Mobilisierung rund um die Costanera Norte einerseits Signalwirkung für andere urbane Auseinandersetzungen und führte andererseits zur Konsolidierung eines Teiles der Widerstandsbewegung in der Organisation Ciudad Viva, heute eine der einflussreichsten NGO auf städtischer Ebene. Im Zentrum der Arbeit von Ciuadad Viva steht das Thema nachhaltiger Mobilität, wobei sie teilweise eng mit den zuständigen Ministerien zusammenarbeiten; die Organisation betreibt aber auch ein Nachbarschaftszentrum in Bellavista, in dem es um lokale Belange geht. Ebenfalls aus den Auseinandersetzungen in den späten 90er-Jahren hervorgegangen sind die stadtentwicklungspolitisch orientierten NRO Defendamos la Ciudad („Verteidigen wir die Stadt“) und Acción Ecológica (Ökologische Aktion), die immer wieder mit ätzender Kritik und scharfen Analysen, häufig in Leitartikeln in alternativen Medien, oder auch mit direkten Aktionen Sand ins Getriebe der immobilenwirtschaftlichen Wachstumsmaschine werfen und diese dabei zumindest ins Stottern bringen. So hat Defendamos la Ciudad eine ganze Reihe von größeren und kleineren Immobilienprojekten dadurch zum Teil erheblich verzögert und somit auch verteuert, dass bei dem Amt für Rechnungsprüfung formelle Beschwerden gegen verfahrensmäßige Mängel in den Planungsprozessen vorgebracht wurden.
Im Zuge dieser Entwicklungen ist es seit Mitte der 2000er-Jahre zu einem Boom von lokalen Initiativen gekommen, die sich häufig gegen immobilienfreundliche Planwerke der jeweiligen Bezirksregierungen richten. In sozial sehr unterschiedlichen Kommunen Santiagos wie etwa Ñuñoa, Quinta Normal, La Reina, Peñalolen, Vitacura und Pedro de Aguirre Cerda konnten die auf vertikales Wachstum und Verdichtung ausgerichteten Pläne gestoppt werden. Dabei haben einige dieser Mobilisierungen durchaus widersprüchlichen Charakter. In Vitacura etwa, der reichsten Kommune ganz Chiles, in der Teile der politischen und ökonomischen Elite des Landes leben, kann die Zurückweisung der Pläne zur Verdichtung auch als Besitzstandswahrung der herrschenden Klasse verstanden werden, als erfolgreiche Maßnahme, um soziale Durchmischung zu verhindern. Und dass es ausgerechnet in Vitacura zum ersten Plebiszit über lokale Planung und damit zu einer echten Innovation der Bürgerbeteiligung in Chile kam, hat sehr viel mit dem Einfluss und der medialen Agilität der mobilisierten Oberschicht zu tun.
Eine interessante neuere Entwicklung ist die Kooperation von verschiedenen territorialen Organisationen untereinander. So konnte etwa das Dorf Las Canteras, in der Kommune Colina vor der Stadt gelegen, in seiner Auseinandersetzung mit einem großen Landentwickler vom Know-how der innerstädtischen Organisation Defendamos el Barrio Yungay profitieren und wurde unter Gebietsschutz gestellt, was zumindest die Verhandlungsposition extrem gestärkt hat. Aber auch in Bezug auf übergreifende stadtentwicklungspolitische Themen vereinen die lokalen Organisationen zunehmend ihre Kräfte. Im Jahr 2011 schlossen sich fast 30 davon unter dem Namen Por un Santiago a Escala Humana (Für ein Santiago nach menschlichem Maß) zusammen und übergaben einen offenen Brief an Präsident Piñera, in dem sie sich gegen die neuerliche Ausweisung von Stadterweiterungsgebieten im Rahmen einer Modifizierung des Regionalen Flächennutzungsplanes (PRMS) aussprachen. In demselben Jahr gab es einen zivilgesellschaftlichen Kongress zum „Recht auf Stadt“ und es wurde die „Erklärung von Santiago für das Recht auf Stadt“ verabschiedet. Auch wenn es sich hierbei zunächst um symbolische Aktionen und Vernetzungsaktivitäten handelt, besteht doch kein Zweifel daran, dass sich die stadtpolitischen Akteurskonstellationen gerade stark wandeln.
Vom steigenden Einfluss der zivilgesellschaftlichen Akteure legt auch Zeugnis ab, dass der Präsident von Defendamos la Ciudad, Patricio Herman, 2012 lange als aussichtsreicher Kandidat für das Bezirksbürgermeisteramt in der Kommune Santiago gehandelt wurde und mit Josefa Errazuriz eine ehemalige Präsidentin von Ciudad Viva dieses Amt in der äußerst finanzstarken und zentralen Kommune Providencia ihrem erzkonservativen Vorgänger tatsächlich – und gegen alle Vorhersagen – entreißen konnte. Gleich nach ihrem Amtsantritt begann sie damit, Entwicklungspläne zu überarbeiten und dabei neue Formen der Bürgerbeteiligung zu implementieren. Wenn man so will, hat die zivilgesellschaftliche Bewegung für das „Recht auf Stadt“ nun den Marsch durch die Institutionen angetreten.
Selbst auf nationaler Ebene wurde nach vielen Jahren der Untätigkeit 2013 eine neue Nationale Stadtentwicklungspolitik verabschiedet, die sich durch eine neue Stoßrichtung auszeichnet. Etwa zur selben Zeit wurde aber auch der Regionale Flächennutzungsplan ein weiteres Mal so modifiziert, dass sich Santiago weiter in sein Umland fressen wird, ohne nennenswerte Bürgerpartizipation und gegen den breiten Widerstand aus Zivilgesellschaft sowie den zunehmend kritischer werdenden Expertenkreisen. Angesichts dieser realpolitischen Absurditäten auf höchster Ebene scheint die Arbeit der so unterschiedlichen Recht-auf-Stadt-Bewegungen in Chile wie bei Camus´ Sisyphos oft mühsam und mit Blick auf die großen Ziele bisweilen gar aussichtslos – die Mobilisierungen an sich und die vielen kleineren Etappensiege haben jedoch dazu beigetragen, dass in Santiago neben Kommerz und Modernisierung eine neue Kultur des öffentlichen Raums getreten ist.