Größter Gewinner unter den lateinamerikanischen Filmen auf der diesjährigen Berlinale war ohne Zweifel Una mujer fantástica (Chile/USA/Deutschland/Spanien 2017) von Sebastián Lelio. Er war nach Gloria (Chile/Spanien 2012) Lelios zweiter Film, der es in den Internationalen Wettbewerb der Berlinale geschafft hat, der wichtigsten Sektion des Festivals, innerhalb derer auch die Silbernen und Goldenen Bären verliehen werden. 2013 erhielt die Hauptdarstellerin von Gloria (Paulina García) den Silbernen Bären als Beste Schauspielerin (vgl. dazu ila 363). Und auch in diesem Jahr überzeugte Lelio mit einem starken Frauenportrait, das sowohl mit dem Silbernen Bären für das Beste Drehbuch als auch mit dem Teddy Award (dem bedeutendsten queeren Filmpreis der Welt) ausgezeichnet wurde. Außerdem erhielt der Film eine Lobende Erwähnung von der Ökumenischen Jury.
Der Film, der am 7. September 2017 in die deutschen Kinos kommt, erzählt die Geschichte der transsexuellen Außenseiterin Marina (grandios verkörpert von Daniela Vega). Nach dem plötzlichen Tod ihres 20 Jahre älteren Partners Orlando (Francisco Reyes) sieht sich Marina mit einer Menge Hass und Repressionen konfrontiert. Anstatt ihrer Trauer um den Menschen, der ihr offensichtlich Halt gegeben hat, nachzugehen, muss sie sich vor den Behörden und vor allem vor Orlandos Ex-Frau (hervorragend gespielt von Aline Kuppenheim) und deren Familie rechtfertigen. Lediglich Orlandos Bruder (gespielt von Luis Gnecco, der vielen als Neruda aus dem gleichnamigen Film von Pablo Larraín bekannt sein dürfte) zollt ihr ein wenig Respekt, wohingegen Bruno, Orlandos Sohn, sie mit fiesen Drohungen aus dem gemeinsamen Appartement vertreibt und schließlich auch Gewalt walten lässt.
Una mujer fantástica ist ein feinfühliges Portrait der sensiblen transsexuellen Frau und verhandelt die Skepsis und die Vorurteile, die Transsexuellen heute wohl überall entgegengebracht werden, auf ansprechende Art und Weise. Visuell und auf der Tonebene überzeugt Lelios Arbeit, sie ist ein Feuerwerk an tollen Bildern und Soundeindrücken. Großartig schafft es der Regisseur, ein vielseitiges Bild von seiner Hauptfigur zu zeichnen; vielschichtig allerdings ist es nicht. Man kann die Figur bis zum Schluss nicht recht greifen, und auch mit seinem Titel verspricht Lelio zu viel; fantastisch ist nicht die Figur, sondern die Darstellerin. Von daher schade, dass der Film nicht auch den Preis für die Beste Schauspielerin erhalten hat.
Der andere Wettbewerbsbeitrag aus Lateinamerika, Joaquim (Brasilien/Portugal 2017) von Marcelo Gomes, ist dagegen ein ganz anderer Film. Joaquim erzählt einerseits die Geschichte des ersten brasilianischen Nationalhelden Joaquim José da Silva Xavier alias Tiradentes und zeichnet andererseits ein Bild der portugiesischen Kolonie im 18. Jahrhundert. Joaquim (Júlio Machado) dient in der Armee von Königin Maria I. von Portugal, hat aber als Kreole keine Chance auf einen beruflichen Aufstieg und hadert sehr mit seiner gesellschaftlichen Zwischenposition zwischen den Reichen und Mächtigen einerseits und den SklavInnen, Indigenen und MestizInnen auf der anderen Seite. Zu dieser Seite gehört auch Zuaa (Isábel Zuaa), eine schwarze Sklavin, in die Joaquim verliebt ist und die er bei nächster Gelegenheit freikaufen will. Eine Expedition, die neue Goldadern aufspüren soll, bringt seine bereits angespannte Lage noch mehr durcheinander. Der Film, der überlieferte Momente aus dem Leben von Tiradentes mit fiktionalen Episoden mischt, erzählt vor allem von den Menschen und dem Alltag der Kolonie und macht deutlich, wie hart das Leben war. In seiner realistischen Herangehensweise geht es Gomes darum, nicht die üblichen Bilder eines Historienfilms auf die Leinwand zu werfen, sondern aus dem Leben zu erzählen – ungeschönt und authentisch und ganz anders als Vazante (Brasilien/Portugal 2017) von Daniela Thomas, der im Panorama gezeigt wurde.
Das Panorama ist die Publikumssektion des Festivals; hier wird auch der Publikumspreis im Spielfilm- wie auch im Dokumentarfilmbereich vergeben. Allein drei brasilianische Filme wurden in diesem Jahr in die Sektion eingeladen, die die Bandbreite der brasilianischen Spielfilme auf der Berlinale aufzeigen: Pendular (Argentinien/Brasilien/Frankreich) von Julia Murat erzählt in künstlerischer Form von der Beziehung zwischen zwei KünstlerInnen. Er ist Bildhauer (Rodrigo Bolzan), sie ist Tänzerin (Raquel Karro). Sie wagen einen mutigen Schritt, als sie sich dazu entscheiden, in eine alte Fabrikhalle einzuziehen und dort auch zu arbeiten. Gerecht teilen sie die Halle in zwei Teile, eine Seite Atelier, die andere Tanzstudio. Doch schnell geraten die beiden durch den Alltag als KünstlerInnen, ihr Kunstschaffen und auch durch Kleinigkeiten aneinander, bis sie sich schließlich mit der Zukunft ihrer Partnerschaft auseinandersetzen müssen. Murat gelingt es in überzeugender Weise, in Dramaturgie und Kamera den Künsten gerecht zu werden, weshalb Pendular auch den Preis der Filmkritik erhalten hat „für seine herausragende visuelle Qualität und seine erzählerische Kraft, die in einem präzisen Portrait zweier zeitgenössischer Künstler resultiert, sowie für seine ästhetische und dramaturgische Originalität“, so die Jury-Begründung.
In ganz anderer, eher realistischer Weise und bester Arthouse-Kino-Manier erzählt Laís Bodanzky Como nossos pais (Brasilien 2017) von der Krise einer knapp 40jährigen Frau, Rosa (Maria Ribeiro), die sowohl eine perfekte Mutter, Tochter, Ehefrau und Liebhaberin sein als auch im Beruf reüssieren will. Selbstverständlich gerät sie dabei an ihre Grenzen, verzweifelt an vielen Stellen, bricht aus und reißt sich wieder zusammen. Das Thema ist schon vielerorts verhandelt worden und Bodanzky fügt der Thematik Vereinbarkeit von Familie und Beruf keine allzu neuen Erkenntnisse hinzu. Der Film besticht jedoch durch seine wenig beschönigende, eben realistische Herangehensweise. Er zeigt das Leben beziehungsweise einen Ausschnitt davon, wie es ist, gibt keine Lösungen vor, weil es keine gibt, und beschert kein Happy end, und das ist auch gut so. Ein Film, der durchaus auch Chancen für einen Start in den hiesigen Kinos hätte.
Vazante verlegt seine Handlung ins 19. Jahrhundert und erzählt von der Sklaverei im Moment des Übergangs von der Minenausbeutung zur Viehwirtschaft, zumindest liest sich so die Filmbeschreibung. Und der Film setzt sich mit dem Thema Sklaverei auch am Rande auseinander, ebenso wie er die Geschlechterrollen im damaligen Brasilien beschreibt, doch werden beide Themen nicht sonderlich vertiefend behandelt. Die Geschichte braucht lange, bis sie sich entfaltet, und kreist dann um die zwölfjährige Nichte Beatriz (Luana Nastas) des Minenbesitzers Antonio, der gerade eben seine Frau im Kindsbett verloren hat. Nach einer depressiven Phase der Trauer nimmt Antonio (Adriano Carvalho) das Mädchen zur Frau; sie provoziert dies gar, wird sich dann aber schnell klar darüber, dass sie sich mit der Heirat und dem Auszug aus dem Elternhaus nicht unbedingt Freiheit eingehandelt hat. Aber noch ein Kind, ist sie schwer zu bändigen, und so ist schnell vorhersehbar, dass Beatriz über die Stränge schlagen wird. Das alles erzählt Vazante in imposanten Schwarz-Weiß-Bildern – und allein die sind es wert, sich den Film anzuschauen.
Im Dokumentarfilmbereich der Sektion „Panorama Dokumente“ beeindruckte vor allem der Film Chavela (USA 2017) von Catherine Gund und Daresha Kyi, der es auf den zweiten Platz des Panorama Publikumspreises Dokumentarfilm geschafft hat. Die Dokumentation zeichnet ein schönes, stilsicheres und umfassendes Bild des Werdegangs der Ranchera-Sängerin Chavela Vargas. Die Lebensgeschichte der Musikerin, die zeitlebens offen ihre Homosexualität lebte und viele Frauen bekannter Persönlichkeiten verführte, enthält aber auch dunkle, traurige Kapitel. Und der Film erfasst jeden Moment in kluger und offener Weise, indem er Chavela Vargas selbst und ihre Weggefährten, darunter Pedro Almodóvar, der maßgeblich an Vargas‘ Comeback beteiligt war, zu Wort kommen lässt und außerdem die Musikstücke elegant in Szene setzt. Die ZuschauerInnen erhalten durch den Verlauf des Films das Gefühl, die Künstlerin zu kennen, die mit ihrer Stimme und ihrem Pathos ihr Publikum weltweit begeisterte. So soll Dokumentarfilm sein!
João Moreira Salles‘ Filmessay No intenso agora (Brasilien 2017) dagegen ist weniger publikumswirksam, wenn auch nicht uninteressant. Der Film verknüpft verschiedene Momente des gesellschaftlichen Umbruchs der 1960er-Jahre an unterschiedlichen Orten der Welt. Die Aufnahmen einer Kulturreise seiner Mutter durch China im ersten Jahr der Kulturrevolution nimmt Moreira Salles zum Anlass für eine filmische Spurensuche, die sowohl den Militärputsch in Brasilien 1964 streift als auch die französische Studentenrevolte im Mai 1968 und deren Kultstar Daniel Cohn-Bendit sowie das Ende des Prager Frühlings ein paar Monate später unter die Lupe nimmt.
Die Dokumentation El pacto de Adriana (Chile 2017) ist der Debütfilm von Lissette Orozco, in dem sie die eigene Familiengeschichte erforscht und die filmische Spurensuche selbst thematisiert. Es geht um die Aufklärung der Vergangenheit ihrer Tante Adriana, die während eines Familienbesuchs in Chile 2007 überraschend verhaftet wird, weil sie unter Pinochet für die Geheimpolizei DINA gearbeitet haben soll. Der Film macht einmal mehr deutlich, dass die Pinochet-Diktatur nach wie vor eine Rolle im aktuellen Chile spielt und die Vergangenheitsbewältigung noch nicht abgeschlossen ist. Sehr persönlich, aber nicht weniger politisch. El pacto de Adriana wurde mit dem Friedensfilmpreis ausgezeichnet, der von der Friedensinitiative Zehlendorf, der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Weltfriedensdienst e.V. verliehen wird.
Das Internationale Forum wartet mit den eher experimentierfreudigen Produktionen auf, darunter unter anderem die argentinischen Beiträge Adios entusiasmo (Argentinien/Kolumbien 2017) von Vladimir Durán, Cuatreros (Argentinien 2016) von Albertina Carri und El teatro de la desaparición (Argentinien 2017) von Adrián Villar Rojas sowie die chilenische Produktion Casa Roshell (Chile/Mexiko 2017) von Camila José Donoso und der brasilianische Wüstenwestern Rifle (Brasilien/Deutschland 2016) von Davi Pretto. Bemerkenswert war die peruanische Produktion Río Verde. El tiempo de los Yakurunas (Peru 2017) von Alvaro und Diego Sarmiento, der mit fast ethnografischem Blick das Leben der Menschen im peruanischen Urwald dokumentiert. In unglaublich greifbaren Bildern beschreibt der Film den Urwald, seine BewohnerInnen, deren Alltag und Schwierigkeiten, bleibt allerdings unscharf, weil er immer wieder auch Aspekte des Lebens auslässt, sodass bei den ZuschauerInnen Fragen auftauchen.
Selten, aber doch immer wieder ist das Filmland Cuba auf der Berlinale vertreten. In diesem Jahr präsentierte Altmeister Fernando Pérez, bekannt für seine Filme La vida es silbar (Cuba/Spanien 1998) und Suite Habana (Cuba 2003), seine neueste Produktion Últimos días en la Habana (Cuba/Spanien 2016) in der Sektion Berlinale Spezial. Der Film ist eine Momentaufnahme aus Cuba, die wie viele aktuelle cubanische Filme den Status Quo anhand fiktiver Geschichten beschreibt und zeigt, wie schwer der Alltag in Havanna zu bewältigen ist. Pérez nimmt die Freundschaft zwischen Manuel (Patricio Wood) und Diego (Jorge Martínez) in den Fokus, die sich seit Schultagen kennen und gegenseitig stützen. Diego hat AIDS und ist, ans Bett gefesselt, auf mobile Hilfe angewiesen, Manuel hat nach seiner missglückten Flucht in die USA bei Diego Unterschlupf gefunden und wartet auf sein Visum. Während Diego ein lebensbejahender und optimistischer Mensch ist, zeigt sich Manuel verschlossen, wortkarg und gleichgültig; sein Lebenssinn gilt der sehnsuchtsvoll erwarteten Ausreise. Der Film spielt mit den Sympathien zu seinen Figuren, erzählt bedächtig, aber konsequent und besticht gerade dadurch. Am Charme des Verfallenen auf Cuba hat man sich zwar mittlerweile sattgesehen, aber hier stört er auch nicht, liegt doch der Fokus auf den liebevoll skizzierten Figuren.
Ebenfalls im Berlinale Spezial lief der Dokumentarfilm La libertad del diablo (Mexiko 2017) von Everardo González, der eindrücklich von den Auswirkungen des Drogenkriegs in Mexiko aus dem Blickwinkel der Betroffenen erzählt und dafür den Amnesty International Filmpreis erhielt. Durch Stoffmasken verhüllt (was dem Film leider, wenn sie auch sinnvoll sind, einen etwas allzu artifiziellen Tonus gibt), erzählen die Personen von ihrem Schicksal, dem Moment des Verschwindens, Verhaftet- oder Getötetwerdens ihrer engsten Familienmitglieder und davon, wie sie damit zurechtkommen oder daran scheitern. Der Film offenbart viel von dem, was Gewalt dem einzelnen und seiner Familie antun kann. Doch bleibt der Film allzu elliptisch, erzählt wenig von den Hintergründen, lässt die Figuren allein sprechen. Das mag intendiert sein, ist manchmal aber schade, weil man gerne mehr verstehen würde, hätte man mehr Informationen über die Situation im Norden Mexikos.
Auch der dokumentarische Kurzfilm Ensueño en la Pradera (Mexiko 2017) von Esteban Arrangoiz Julien erzählt von der Gewalt im Alltag Mexikos und wurde dafür gar mit dem Silbernen Bären der (Kurzfilm-)Jury ausgezeichnet; der argentinische Beitrag Centauro (Argentinien 2016) von Nicolás Suárez, ein griechisch-kreolischer Western in der argentinischen Pampa, wurde mit einer Lobenden Erwähnung bedacht. Und so waren es in diesem Jahr nicht dieHauptsektionen des Festivals, in denen die lateinamerikanischen Beiträge reüssierten, sondern die Kurzfilme, die erfolgreich waren und ausgezeichnet wurden.
Mit zwölf Filmen feierte Brasilien seinen Rekord auf der Berlinale. Ob das für die Qualität der Filme spricht, sei dahingestellt, oft sind es auch politische oder strategische Entscheidungen, die eine Filmauswahl bestimmen. Allerdings, die Masse an auch sehr unterschiedlichen Produktionen überzeugte auf jeden Fall, wobei die Komödie, die ebenso charakteristisch ist für das aktuelle Filmschaffen des Landes, bedauernswerterweise nicht vertreten war. Einen so herrlichen Film wie Que Horas Ela Volta? (Brasilien 2015 – vgl. ila 383) von Anna Muylaert aus dem Jahre 2015 hat man in diesem Jahr vermisst, wie übrigens überhaupt positive Filme. Es gab Probleme zu verhandeln, viele Filme waren düster, deprimierend, ohne Lösungen. Und vielleicht wurden gerade deshalb diese Filme ausgesucht, sind sie doch immer auch Abbild der Gesellschaft, die sie hervorbringt.
Zweitstärkster Lateinamerika-Vertreter auf den Filmfestspielen war Argentinien mit insgesamt neun Produktionen: fünf Spielfilme und vier Kurzfilme. Mexiko war mit vier Lang- und zwei Kurzfilmen vertreten und darüber hinaus unter dem Motto „Mexico in Focus“ Gastland auf dem diesjährigen Europäischen Filmmarkt, wo weitere Produktionen präsentiert wurden. Und auch Chile erregte mit seiner zwar kleinen, aber eben erfolgreichen Filmauswahl Aufsehen.
Viele Filme aus Lateinamerika fanden sich erneut in der Kinder- und Jugendsektion des Festivals, den Programmen Generation Kplus und Generation 14plus. Die Filme werden für die jüngsten ZuschauerInnen meist auf Deutsch eingesprochen, weil sie an das Querlesen von Untertiteln erst noch herangeführt werden müssen, und das funktioniert erstaunlich gut. Oft lässt sich das junge Publikum auch einfach überraschen und von den „anderen“ Filmbildern in andere Welten locken.
Besonders deutlich wurde dies in Tesoros (Mexiko 2017) von María Novaro, der einerseits die Geschichte einer Schatzsuche aus kindlichem Blickwinkel erzählt, andererseits Kulturstudie ist und das Leben eines Küstenortes am Pazifik beschreibt. Eine Familie zieht nach Barra de Potosí ins casa de la luna („Mondhaus“). Die Kinder, darunter der siebenjährige Dylan (Dylan Sutton Chávez) und seine ältere Schwester Andrea (Andrea Sutton Chávez), müssen sich erst in die neue Umgebung eingewöhnen; umso genauer ist der Blick auf die neuen MitschülerInnen und deren Alltag als Kinder von Biologen oder Fischern, Restaurant- und PensionsbesitzerInnen. Hier passieren viele Dinge, die europäischen Kindern fremd sein mögen, ihnen aber umso spannender erscheinen, und das ist nicht nur die Schule direkt am Meer. Als Dylan nachts ein Pirat, kein geringerer als Sir Francis Drake, erscheint, passt dies wunderbar in die neue Umgebung, als Abenteuer im Abenteuer sozusagen. Das alles zeigt Novaro in dokumentarischer Art und Weise und mit wunderbaren Musikstücken, die die Handlung unterbrechen – ein sehr gelungener Film.
Subtil und überzeugend erzählt Darío Mascambroni in Primero enero (Argentinien 2016) von einem Jungen, der mit der Trennung seiner Eltern zurechtkommen muss. In Soldado (Argentinien 2017) begleitet Manuel Abramovich einen jungen Rekruten beim Erwachsenwerden während seiner Ausbildung beim Militär. In Nahaufnahmen, die wenig von der Umgebung seiner Figur(en) preisgeben, porträtiert er den jungen Mann, der sich das Leben als Soldat doch anders vorgestellt hat.
Aus Brasilien liefen außerdem As duas Irenes (Brasilien 2017) von Fabio Meira in der Kindersektion und Mulher do pai (Brasilien/Uruguay 2016) von Cristiane Oliveira wie auch Não devore meu coração! (Brasilien/Niederlande/Frankreich 2017) von Felipe Bragança in der Jugendsektion des Festivals. Und wieder waren die LateinamerikanerInnen erfolgreich im Bereich Kurzfilm. So erhielt der Dokumentarfilm The Jungle Knows You Better Than You Do (Belgien/Kolumbien 2016) von Juanita Onzaga über die Suche zweier Geschwister nach den Geheimnissen ihrer Familie den Spezialpreis der Internationalen Jury von Generation 14plus, der von der Bundeszentrale für Politische Bildung gestiftet wird. Und auch hier war es das Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Gegenwart, das überzeugend aufgemacht wurde.
Mit der Präsentation der digitalisierten Version von Canoa (Mexiko 1976) von Felipe Cazals wurden die FreundInnen des Kinos der 1970er-Jahre in Mexiko erfreut. Der Film, der 1976 im Wettbewerb der Berlinale den Silbernen Bären Spezialpreis der Jury gewann, lief in der Sektion Berlinale Classics der Retrospektive. In restaurierten Bildern ist der Film über ein Massaker an fünf Universitätsangestellten im Dorf San Miguel Canoa unweit der Stadt Puebla aktueller denn je. Und so nutzte Cazals, der bei der Premiere anwesend war – wie übrigens viele der lateinamerikanischen FilmemacherInnen – die Einführung auch dafür, sich Luft zu machen angesichts der angespannten Situation zwischen Mexiko und den USA nach der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten. Die FilmemacherInnen äußerten sich größtenteils besorgt ob der geplanten Mauer zu Mexiko, sind doch viele Filmschaffende Grenzgänger zwischen den Filmnationen. So sagte auch Jurymitglied und Multitalent (Schauspieler, Regisseur und Produzent) Diego Luna während der Pressekonferenz der Internationalen Jury, er erlebe so viele Geschichten der Liebe, wenn er im Monat drei bis vier Mal die Grenze zwischen Mexiko und den USA überquere, da möchte er keine Mauer dazwischen kommen lassen: „Dafür werde ich kämpfen!“
Dennoch, so politisch wie angekündigt erschien die Berlinale am Ende nicht. Einzelne Filme waren es, die lateinamerikanischen vermutlich mehr als andere Filme, andere aber nicht. Aber das muss auch nicht unbedingt sein, eine gute Mischung macht’s und die lieferte die Berlinale wie in jedem Jahr. Wir freuen uns schon auf die nächste Ausgabe.