Nach 1960 agierten in den meisten Ländern Lateinamerikas revolutionäre Gruppen. Nach dem Vorbild der cubanischen Guerilla um Fidel Castro und Ernesto „Che“ Guevara wollten sie ausgehend von einem kleinen bewaffneten Fokus die Menschen durch „bewaffnete Propaganda“ zu revolutionärem Handeln mobilisieren. Die meisten dieser Gruppen wurden spätestens in den 70er-Jahren durch die jeweiligen Streitkräfte, unterstützt von US-Militärberatern, vollständig aufgerieben.
Die wichtigste Guerilla in Bolivien war das Nationale Befreiungsheer ELN. Die Organisation war 1964-66 von Guevara selbst mit logistischer Unterstützung der cubanischen Regierung aufgebaut worden. Die überwiegend aus Bolivianern und Cubanern bestehende Gruppe geriet militärisch schnell in die Defensive. Nach Ches Verhaftung und Ermordung am 9. Oktober 1967 war ihre Niederlage endgültig besiegelt. Nur fünf Mitglieder konnten sich durch eine spektakuläre Flucht über die Anden retten, darunter der Bolivianer „Inti“ Peredo, der bald darauf begann, das ELN zu reorganisieren. Ende der 60er-Jahre hatte es kurzzeitig stärkeren Zulauf, vor allem von jungen Aktivisti*innen aus dem studentischen Milieu, konnte sich aber nie unter den Bewohner*innen der Zonen, in denen es militärisch agierte, wirklich verankern. 1969 wurde „Inti“ Peredo erschossen. Das ELN bestand noch bis Mitte der 70er-Jahre, verlor aber zunehmend an Bedeutung.
Zu verschiedenen Zeitpunkten spielten zwei deutsche Frauen nicht unbedeutende Rollen im ELN: Tamara Bunke und Monika Ertl. Der biographische Hintergrund der beiden Gleichaltrigen, die sich nicht persönlich kannten (als Ertl 1969 zur Guerilla kam, war Bunke schon zwei Jahre tot), hätte unterschiedlicher kaum sein können.
Die 1937 in Buenos Aires geborene Tamara Bunke war die Tochter des deutschen Kommunisten Erich Bunke und der jüdisch-ukrainischen Kommunistin Nadja Bider, die zusammen 1935 aus Nazideutschland geflohen und nach Argentinien emigriert waren. Nach dem Krieg siedelte die Familie in die DDR über. 1961 ging Tamara Bunke nach Cuba, absolvierte dort eine militärische Ausbildung und kam 1964 nach Bolivien.
Monika Ertl wurde 1937 in München geboren. Ihr Vater, der Alpinist und Kameramann Hans Ertl, machte unter den Nazis Karriere. Eher kein überzeugter Faschist, gehörte er, wie der Südtiroler Luis Trenker, zu den Bergsteigern und Filmern, denen die Nazis großzügig Expeditionen und Projekte finanzierten, weil sie und ihre „Bergabenteuer“ ihnen ideologisch in den Kram passten und beim Publikum bestens ankamen. Nach dem Krieg bekam Ertl wegen seiner Nähe zum NS-Regime, er war auch zeitweilig Chefkameramann von Leni Riefenstahl, in Deutschland keine Aufträge mehr. Deswegen wanderte er 1948 nach Bolivien aus, wohin ihm seine Frau und die drei Töchter 1953 folgten.
Die Biographien Tamara Bunkes und Monika Ertls haben Autor*innen und Journalist*innen zu verschiedenen Büchern und Texten inspiriert.[fn]Zum Beispiel: Marta Rojas und Mirta Rodríguez Calderón: Tania la Guerrillera. Berlin (DDR) 1970, zahlreiche Neuauflagen, zuletzt 2007; José A. Friedl Zapata: Tania. Die Frau, die Che Guevara liebte. Berlin 1997, Jürgen Schreiber: Sie starb wie Che Guevara. Die Geschichte der Monika Ertl, Düsseldorf 2009; WDR-Hörspiel von Tom Noga: Monika la Guerrillera – Die Frau, die Che Guevara rächte, 2017
[/fn] Manches davon ist Kitsch, interessanterweise sowohl revolutionärer als auch antirevolutionärer Kitsch, in deren Zentrum oft die angeblichen Liebesverhältnisse mit den jeweiligen Comandantes standen, Tamara Bunke alias Tania mit Che, Monika Ertl mit Inti Peredo. Im ersten Fall wohl eine reine Männerphantasie, im zweiten möglicherweise zutreffend.
Diese lange historische Einleitung für eine Rezension eines belletristischen Buches ist sicher ungewöhnlich, aber meines Erachtens hilfreich, um den 2017 auf Deutsch erschienenen Roman „Die Affekte“ um Monika Ertl und ihre Familie besser einordnen zu können. Autor des Buches ist der 1981 geborene Rodrigo Hasbún, ein bolivianischer Autor palästinensischer Abstammung, der derzeit in den USA lebt und lehrt.
Hasbúns Roman fällt sicher nicht unter die Kategorie Kitsch. Ihm geht es nicht um das Verherrlichen oder Niedermachen einer revolutionären Ikone, sondern um eine Annäherung an Monika Ertl. Dabei interessierten ihn vor allem deren familiärer Hintergrund und die Identitätskonflikte, die die vom Vater verfügte Migration der 16-Jährigen aus Deutschland nach Bolivien für diese bedeuteten. Überwiegend lässt er ihre beiden Schwestern und ihren zeitweiligen Geliebten (und Bruder ihres Ehemannes) erzählen, was Monika Ertl in bestimmten Lebenssituationen getan, warum sie allem Anschein nach so gehandelt und – mitunter – was sie dabei empfunden hat.
Dabei spielt das komplizierte Verhältnis zum Vater eine zentrale Rolle. Einerseits buhlt sie um dessen Anerkennung, andererseits macht sie ihn für viele ihrer Probleme verantwortlich. Die vom Vater nicht autorisierte Ehe der gerade 20-Jährigen mit einem wohlhabenden, aber langweiligen Abkömmling der deutsch-bolivianischen Oberschicht scheint für sie vor allem dem Zweck zu dienen, sich von dem Alten abzunabeln. Der reagiert beleidigt und es kommt zum ersten vorläufigen Bruch.
Über Monikas politische Entwicklung erfahren wir dagegen wenig. Sie engagiert sich, wie viele Ehefrauen aus der Oberschicht, karitativ für die Armen, nimmt diese Tätigkeit aber sehr ernst und beginnt, nach den Ursachen der Armut zu fragen. Diese Tendenz wird durch ihre Beziehung mit ihrem Schwager, der in einer trotzkistischen Hochschulgruppe aktiv ist, gefördert.
Mehr Politik gibt es in dem Buch nicht. Trotzdem hat Hasbún keinen Zweifel, dass Monika Ertl im April 1971 in Hamburg das Attentat auf den damaligen bolivianischen Generalkonsul Roberto „Toto“ Quintanilla verübt hat. Die deutschen Ermittlungsbehörden waren sich da nicht so sicher, auch wenn vieles auf Ertl als Täterin hindeutete. In Hasbúns Roman erscheint das Attentat aber nicht als politische Handlung, sondern als persönlicher Racheakt für die Mittäterschaft Quintanillas bei der Ermordung Ches und Inti Peredos.
Vieles, was Hasbún schreibt, klingt schlüssig, er hat zweifellos sorgfältig und umfänglich recherchiert. Dennoch hat mich das Buch nicht überzeugt. Zunächst bleibt die Person Monika Ertl merkwürdig unscharf. Dies muss nicht zwangsläufig ein Defizit sein, denn der ganze Roman ist, wie schon gesagt, als Annäherung an ihre Person angelegt. Doch wenn er nur Bruchstücke zusammentragen wollte und der Phantasie der Leserin/dem Leser überlassen will, diese zu vervollständigen und zu interpretieren, durchbricht er diesen Anspruch selbst immer wieder. In manchen Situationen, vor allem im Vorfeld des Hamburger Attentats, weiß oder vielmehr imaginiert der Autor sehr genau, was seine Protagonistin gedacht und gefühlt hat. Das führt zu meinem zweiten Problem mit dem Text. Wenn sich ein Autor reale Personen als Protagonist*innen aussucht, die vor nicht allzu langer Zeit gelebt haben oder noch leben, finde ich es schwierig, ihnen Aussagen und Einschätzungen in den Mund zu legen, von denen man keineswegs weiß, ob sie den realen Personen gerecht werden. Hasbún stellt seinem Buch folgenden Satz voran: „Obwohl durch historische Personen und Ereignisse inspiriert, handelt es sich hier um ein Werk der Fiktion. Als solches ist und beabsichtigt es kein getreues Abbild irgendeines Mitglieds der Familie Ertl oder anderer in diesem Roman vorkommender Personen.“ Hätte der Autor einen Roman über eine Deutsche geschrieben, die in Bolivien zur Guerillera wurde, und hätte diese Frau viele Züge von Monika Ertl gehabt, wäre das alles okay gewesen. Umgekehrt wäre es auch sicher spannend und lohnend gewesen, endlich eine gute Biographie der toten Revolutionärin (sie wurde 1973 erschossen, möglicherweise vorher schwer gefoltert) vorzulegen. Aber Rodrigo Hasbún tat weder das eine noch das andere, sondern schrieb einen Roman, bei dem man nie weiß, was tatsächlich real ist (und das ist sicher vieles im Buch) und was reine Imagination des Autors ist.
Mein drittes, vielleicht größtes Problem mit dem Text habe ich oben bereits angerissen: Rodrigo Hasbún hat die Person der Monika Ertl weitgehend entpolitisiert. Es muss niemand einen politischen Roman schreiben. Komplizierte Eltern-Kind- und speziell Vater-Tochter-Beziehungen bieten sicherlich ein unendliches Repertoire für Geschichten mit dramatischen Konflikten, fatalen Abhängigkeiten, Liebe, Hass und Hassliebe. Darüber kann und soll man schreiben. Wir sich aber als Romanfigur eine der wichtigsten bolivianischen Revolutionär*innen des 20. Jahrhunderts aussucht, sollte sie als solche ernst nehmen und zumindest versuchen zu verstehen, warum und wofür sie gekämpft hat. Dabei kann man das, was Monika Ertl bewegte, richtig finden oder man kann es in Grund und Boden verdammen, aber es zu ignorieren, nimmt ihr ein zentrales Stück ihrer Würde. Und das sollte Literatur niemals tun.