Wer den Monte Albán einmal besucht hat, wird die Magie gespürt haben, die von ihm ausgeht. Millionen neugieriger Touristen aus aller Herren Länder haben ihren Fuß auf den Rasen des wie mit der Wasserwaage geebneten Plateaus gesetzt, die geplünderten Gräber unterhalb der verfallenen Tempel besichtigt, einen Blick in das Innere des nach exakten Berechnungen gebauten Observatoriums geworfen und sind anschließend noch auf die südlich gelegene Pyramide gestiegen, um die unendliche Weite der vor ihnen liegenden Täler zu genießen. Heute bleibt das Wahrzeichen Oaxacas weitestgehend verschont von den indiskreten Blicken Fremder, schaukeln nur noch selten vereinzelte Minibusse die kurvige Straße hinauf und vorbei an den z.T. armseligen Behausungen, die an den Hängen chaotisch gewachsen sind. Die Haupteinnahmequelle der Stadt und des Staates Oaxaca, der internationale Tourismus, droht zu versiegen. Reiseveranstalter meiden das Städtchen mit seiner etwas mehr als einer halben Million Einwohner, dessen kolonialer Baustil sich bis heute erhalten hat. Oder sie werden angehalten, es zu meiden, da man für die Sicherheit der Reisenden nicht garantieren könne.
Im vergangenen Herbst konnte der mit viel Phantasie und Kreativität geführte gewaltfreie Widerstand gegen die kalte Arroganz der Macht nicht bestehen. Wer die Bewegung allerdings für ein bereits abgeschlossenes Kapitel in der langen Geschichte der sozialen Bewegungen Mexikos gehalten hatte, wurde in den letzten Monaten eines Besseren belehrt. Nach einem halben Jahr intensiver Diskussionen über gemachte Fehler, über Möglichkeiten der Straffung der Organisation, über falsche Führungsansprüche und einer in die notwendige Breite gehenden Öffentlichkeitsarbeit, auch im Ausland, ist die APPO erneut in die Offensive gegangen. Am ersten Jahrestag der gewaltsamen Auflösung der Demonstration vom 14. Juni 2006 gingen in Oaxaca wieder 100 000 Menschen auf die Straße und forderten den sofortigen Rücktritt des korrupten und die Arroganz der Macht verkörpernden Gouverneurs, die Freilassung der noch inhaftierten Mitkämpfer und eine nachhaltige Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen an Schulen und Universitäten. Der Vorschlag, auch in diesem Jahr wieder eine Guelaguetza Popular[fn]Zapotekisches Wort für den wechselseitigen Austausch von Geschenken, Darbietungen etc. Die Guelaguetza Popular gehört zu den Feiern des Lunes del Cerro.[/fn] durchzuführen, stieß auf ungeteilte Zustimmung, ebenso wie das Vorhaben, die offiziellen Guelaguetza-Feiern in den letzten Julitagen zu boykottieren.
An den Auseinandersetzungen um die Ausrichtung der Guelaguetza lässt sich symbolhaft der Grundkonflikt, in dem sich die mexikanische Gesellschaft spätestens seit dem Aufstand der Zapatistischen Befreiungsarmee EZLN im Januar 1994 befindet, aufzeigen. Die Tatsache, dass eine politische Bewegung, die sich die Absetzung der politisch verfassten Macht zum Ziel gesetzt hat, auf dem Weg zur Erreichung dieses Ziels eine Folkloreveranstaltung in den Fokus nimmt, um damit ihre Diskurshoheit zu dokumentieren, bedarf der Erläuterung. Wie der für seine ebenso ausführliche wie einfühlende Berichterstattung über die Ereignisse in Chiapas bekannte mexikanische Journalist Hermann Bellinghausen in einem Artikel in der Tageszeitung La Jornada vom 23. Juli treffend beschreibt: „Der Disput um die Guelaguetza wurde zur Revolte des Symbolischen auf schmerzlich realem und konkretem Boden.“ Vor 76 Jahren im nachrevolutionären Oaxaca von oben als Beweis für die symbolische Wertschätzung des Staates gegenüber seinen indigenen Untertanen aus der Taufe gehoben, ist dieses Volksfest im Laufe der Jahrzehnte zu einem veritablen Kassenschlager für die hauptsächlich am Tourismus verdienende Bourgeoisie Oaxacas degeneriert. Von allen 16 in Oaxaca lebenden Ethnien (Zapoteken, Mixteken, Mixes, Mazateken, Huaves, Triquis, u.v.a.) werden Tänze und Trachten vorgeführt, musikalische Kostproben der zahlreichen Dorfkapellen (bandas filarmónicas) geboten, die Vielfalt der regionalen Gerichte demonstriert und feierliche Reden über die gelungene Integration der Indios gehalten.
Das aus rassistischem Geist geborene Spektakel hat jedoch nicht nur die vordergründigen Repräsentationsbedürfnisse der mestizischen Bourgeoisie befriedigt („Seht her, wir überlassen euch großzügig die Bühne. Nun tobt euch mal ordentlich aus! Danach kehrt ihr wieder zurück in eure Hütten.“), sondern auch dazu geführt, dass die beteiligten Akteure aus allen Landesteilen in stärkeren Austausch miteinander traten und sich über ähnlich gelagerte Probleme in ihren jeweiligen Dorfgemeinschaften austauschen konnten. So hat schon seit Mitte der 1980er Jahre – einen Wendepunkt markierte möglicherweise 1984 ein gigantisches Konzert von 3000 Musikern, die unter der Leitung des Dirigenten des nationalen Symphonieorchesters die landestypischen Weisen schmettern sollten, wobei die je spezifischen Merkmale ihrer eigenen Kompositionen vollends unter die Räder kamen – ein kaum merkbarer Wandlungsprozess eingesetzt. Den TeilnehmerInnen wurde immer klarer, dass sie als Feigenblatt für eine keineswegs gelungene Integration herhalten sollten, und die Veranstalter gingen immer skrupelloser dazu über, das Fest zu ihrem alleinigen Nutzen und Frommen zu vermarkten. Der gebotene kulturelle Reichtum ließ sich vorzüglich in klingende Münze für die Hotel-, Restaurant- und Ladenbesitzer verwandeln. Bei den internationalen Reisebüros gehörte ein Besuch beim Lunes del Cerro (so benannt nach dem Beginn des Spektakels, der immer auf den letzten Montag im Juli fällt) zum Standardangebot, ja selbst die polyglotten Ruinenführer auf dem Monte Albán profitierten von dem touristischen Andrang.
In diesem Jahr nun ist alles anders. Die geheimnisvollen Gestalten, die früher auf dem Ausgrabungsgelände plötzlich hinter einem Busch hervortraten und dem überraschten Touristen in gespielter Hektik eine garantiert echte Figur aus dem 15. Jhdt. für ein paar Dollars andrehen wollten, um danach wieder ebenso plötzlich hinter demselben zu verschwinden, hocken frustriert auf einem Felsen. Sie hadern mit den Göttern, denn die Kundschaft bleibt aus. Aber auch sie kennen die Ursache für die Flaute. Mit einem Großaufgebot an Polizei wurde am 16. Juli den wohlgemuten TeilnehmerInnen und BesucherInnen der Zugang zu dem oberhalb der Stadt gelegenen riesigen Amphitheater am Cerro Fortín verwehrt. Die Staatsgewalt wollte die Abhaltung einer Guelaguetza popular, einer selbst organisierten, nicht-kommerziellen Fiesta, zwei Wochen vor der offiziellen Veranstaltung mit allen Mitteln verhindern. Also flogen erneut Steine, wurde Tränengas eingesetzt, wurden willkürlich Leute festgenommen und gefoltert, ein Anwalt sogar in einer Weise malträtiert, dass er über Wochen im Koma lag. Tags darauf zogen zigtausende Anhänger der APPO in stummem Protest durch die Straßen Oaxacas.
Die offizielle Feier hingegen wurde 14 Tage später unter Hinzuziehung bezahlter Staatsangestellter und herbeigekarrter Dorfbewohner aus dem Umland mit peinlichen Huldigungen und Solidaritätsbezeugungen für den höchst umstrittenen Gouverneur durchgezogen. Zur gleichen Zeit zog ein weiteres Mal eine riesige Menschenmenge durch das Zentrum der Stadt. Beide Seiten feierten anschließend ihre Aktionen als Sieg über die jeweils andere. Da die APPO schon seit den Auseinandersetzungen im vergangenen November jeglichen Dialog mit dem für die Repression verantwortlichen Gouverneur ablehnt und stattdessen die Zuständigkeit der Bundesregierung einklagt und von dieser entsprechende Maßnahmen zur Abberufung des verhassten Tyrannen fordert, hat die Auseinandersetzung schon lange eine nationale Dimension, die auch nicht durch passives Aussitzen bereinigt werden kann.
Wenn auch der Bundesregierung der äußerst unbeliebte Gouverneur zunehmend zur Last wird, warum lässt sie ihn dann nicht einfach fallen? Der Fall Oaxaca macht deutlich, dass die zu Beginn
dieses Millenniums sehnlichst erwartete grundlegende politische Wende in Mexiko noch längst nicht vollzogen ist. Mit der damaligen Abwahl der seit über sieben Jahrzehnten unangefochten regierenden „Revolutionär Institutionellen Partei“ PRI sind die in dieser Zeit gewachsenen staatlichen Klientelstrukturen natürlich nicht abgeschafft. Der mit einem ansehnlichen Popularitätsbonus an die Macht gewählte Vicente Fox, von der konservativen PAN auf den Schild gehoben, ließ bald nach seinem Amtsantritt erkennen, dass ihm die Partei, die ihm zum Wahlsieg verholfen hatte, lediglich als Mittel zum Zweck des Machterhalts diente. Er wollte als Präsident des gesamten mexikanischen Volkes nach seinen Vorstellungen regieren, sich nicht von mittelmäßigen Parteichargen dreinreden lassen, ganz so, wie er es aus seiner Zeit als leitender Manager der Coca-Cola-Filiale in Guanajuato gewohnt war. Das Land galt ihm als Unternehmen, das einer straffen Führung bedurfte und in dem kluge Ideengeber dafür sorgen sollten, dass neue Märkte erschlossen, vorhandene Produktlinien ausgebaut und so die Wettbewerbsfähigkeit Mexikos auf dem Weltmarkt gestärkt werden könnten.
Wie wenig er von der sozialen Wirklichkeit des Landes verstanden hatte, zeigte schon seine im Wahlkampf hingeworfene Bemerkung: „Die Probleme in Chiapas und mit der EZLN löse ich in einem Gespräch mit dem Subcomandante Marcos in 15 Minuten.“ Gewissermaßen im Smalltalk zwischen Managern, so dachte er. Auch die Besetzung seiner Kabinettsposten mit z. T. parteilosen Intellektuellen erwies sich in einigen Fällen schnell als wenig hilfreich. Der kurzzeitige Außenminister Jorge Castañeda – eine frühere Galionsfigur der Linken, sein Buch „La utopía desarmada“ war in den späten 90er Jahren ein Klassiker – musste nach etlichen diplomatischen Fehltritten in Cuba vorzeitig den Hut nehmen, da er nicht mehr als Repräsentant eines Landes tragbar war, das sich über Jahrzehnte durch eine kluge Cuba-Politik sehr viel Respekt in der Welt verschafft hatte. Im Hintergrund zogen die nach wie vor sehr einflussreichen „Dinosaurier“ der PRI um den ehemaligen Präsidenten Carlos Salinas de Gortari die Strippen in der nationalen und internationalen Politik, jenen Salinas, der ohne den zapatistischen Aufstand im Januar 94 mit großer Wahrscheinlichkeit der erste Direktor der WTO geworden wäre.
Die mentale Nähe zu dem großen Nachbarn im Norden – der Texaner Bush und der Unternehmer und Viehzüchter Fox galten als gute Freunde – ermöglichte überdies günstige Geschäftsabschlüsse, die das katastrophale Management des Staates wirkungsvoll zu überdecken vermochten. Vollends in die Hose ging die einst beachtliche Reputation des hemdsärmeligen Präsidenten seit der Eheschließung mit der ehrgeizigen Präsidentenberaterin Marta, die fortan zumindest gleichberechtigt an vielen Entscheidungen des Präsidentenpalastes beteiligt war. Ein Präsident, dem die eigene Partei zutiefst misstraute, der sich durch zu ostentative Nähe zu den USA zunehmend unbeliebt machte und der darüber hinaus auch noch als „Präsident unter Einfluss“ (seiner Gattin) galt, war ein gefundenes Fressen für die alte PRI-Garde. Systematisch baute sie ihre Einflusszonen wieder aus, taktierte geschickt mit der linken PRD-Opposition, deren wichtigste Führer ja allesamt aus den PRI-Reihen stammen, und etablierte sich so als stabile Kraft der Mitte.
Ein wahrhaft diabolisches Spiel, das da gespielt wird und das nun auf dem Rücken der betrogenen mexikanischen Bevölkerung – und hier insbesondere der Völker von Oaxaca – ausgetragen wird.
In letzter Instanz geht es um die neoliberale Modernisierung des Landes, d.h. um die bereits in den 80er Jahren eingeleitete und von Salinas de Gortari (1988-94) systematisch vorangetriebene Entstaatlichung zentraler Säulen der mexikanischen Wirtschaft (insbes. der Kommunikations-, Elektro- und Ölindustrie) und ihre Überführung in private Aktiengesellschaften, um die Brechung der auf diesem Modernisierungspfad hinderlichen korporatistischen Strukturen und um die Überwindung eines seit 100 Jahren immer wieder aufscheinenden Gerechtigkeitsdiskurses, der bei jeder passenden Gelegenheit aus den Annalen der mexikanischen Revolution herbeizitiert wird. Gehörte dieser im vergangenen Jahrhundert noch zum systemstabilisierenden Instrumentarium der Revolutionspartei PRI, so ist er in den Augen der heute mehrheitlich in den USA ausgebildeten neoliberalen Elite für die Bewältigung der Globalisierungsherausforderungen nur noch störend. Ginge es nach ihrem Gusto, müsste das gewaltige ländliche Arbeitskräftepotential sich endlich von seinen kulturellen Wurzeln emanzipieren und zielgerichtet mit eingeschränkten Rechten auf die Vermehrung seines Wohlstands hinarbeiten, jeglicher „Sozialromantik“ entsagen und stattdessen blind den Anweisungen der Wirtschafts- und Sozialtechnokraten folgen.
Es gibt zumindest zwei Lesarten, wie die am 5. August 2007 durchgeführten Regionalwahlen in Oaxaca, bei einer Wählerabstinenz von annähernd 70 Prozent, zu interpretieren sind: Die eine sieht in dem Wahlerfolg der PRI eine klare Bestätigung der These, dass die APPO nur ein vorübergehendes Phänomen und von daher eine vernachlässigenswerte Größe sei. Die andere liest in der Tatsache, dass nur jeder zehnte Bürger Oaxacas der PRI seine Stimme gegeben hat, den Beweis dafür, dass die Entkoppelung zwischen Staat und Gesellschaft weiter voranschreitet. Der mexikanische Philosoph und APPO-Aktivist Gustavo Esteva sagt dies am deutlichsten: „Es ist unmöglich, die Motive für die Stimmenthaltung zu messen. Aber es gibt einen Haufen Anhaltspunkte dafür, dass darin ein generalisiertes, auf Erfahrung beruhendes Bewusstsein zum Ausdruck kommt. Die Leute wissen, zumindest in Oaxaca, dass die Abgeordneten subalterne Angestellte des Gouverneurs sind und nichts Eigenes darstellen. Das haben sie ausgiebig im letzten Jahr bewiesen, als die Abgeordneten sämtlicher Parteien sich den Wünschen des Ulises Ruiz untergeordnet haben, sogar der Forderung nach Repression gegenüber der Volksbewegung.“
Und er kommt zu dem optimistischen Schluss: „Die Leute aus Oaxaca haben dagegen viel Erfahrung mit einer anderen Form der Demokratie, mit jener, die auf radikale Weise in den indigenen Dörfern praktiziert wird und auch ein substanzielles soziales Gewebe in den Städten bildet, wie sich kürzlich an den Barrikaden gezeigt hat. … Es hat den Anschein, dass sie heute den Widerstand in einen Befreiungskampf umwandeln, der diesen sozialen und politischen Lebensstil auf den gesamten Staat ausdehnen soll, und zwar jenseits der formalen Demokratie.“ (La Jornada, 13.8.07) Ob’s wahr ist, wissen die Götter vom Monte Albán, hoffentlich.