Mühsam aber nachhaltig

In Cubas Hauptstadt La Habana beförderte ein dichtes Bussystem damals täglich rund vier Millionen Passagiere; pro EinwohnerIn sind das durchschnittlich zwei Fahrten am Tag. Nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Länder brach der Zufluss an Treibstoff, Ersatzteilen und neuen Transportmitteln abrupt ab, die Zahl der beförderten Passagiere reduzierte sich auf 400 000. Der Rest musste sich sonstwie durchschlagen. „Ich habe damals gelernt, meinen Tag anders zu planen. Fußmärsche von ein bis zwei Stunden, um von A nach B zu gelangen, wurden völlig normal”, erzählt die Studentin Dalia, die zu ihrem Glück im Zentrum der Hauptstadt wohnt. Für Familienvater Lucio war dies allerdings nicht nur ein Vorteil: „Bis zu 20 Kilometer bin ich rausgefahren, um etwas Essbares zu finden bei den Bauernfamilien, ich war nie so dünn und so fit wie damals.“

In den Neunzigerjahren in Cuba von einem Transportsystem zu reden, wäre vermessen gewesen. Eine Reise im Mietauto durchs Land bot überall dasselbe Bild – verwaiste Straßen in relativ gutem Zustand und Leute, die auf irgendeine Transportgelegenheit warteten. So auch jener junge Mann, der an der illegalen Schlachtung einer Kuh beteiligt und nach einer Gefängnisstrafe auf Bewährung entlassen worden war. Um seiner Meldepflicht nachzukommen, musste er Dutzende Kilometer zurücklegen und war dabei zum Beispiel auf unsere kleine Reisegruppe angewiesen, die etwas zusammenrückte, um einen Platz freizumachen. Andere fleißige VerkehrsteilnehmerInnen auf den verlassenen Straßen waren die klimatisierten Tourismusbusse, im Volksmund „Aquarium“ genannt. Inzwischen sind die Zeiten zwar vorbei, in denen die Jungs auf der Uferpromenade (Malecón) Fußball spielten, aber die gebauten 400 Kilometer Autobahn von Pinar del Río im Westen bis Santa Clara im Landeszentrum mit bis zu sechs Spuren erscheinen nach wie vor oft wie Zeugen aus vergangener Zeit. Viele StudentInnen und Angestellte dieser Jahre haben die Not zur Tugend gemacht. Pedir botella, wie man hier zum Autostopp sagt, ist auch in den Städten weit verbreitet und dient unter anderem dazu, täglich zur Arbeit oder in die Uni zu gelangen. 
In Cuba ist man sich einig, dass Kaufkraft der Löhne, Wohnungsmangel und Transportwesen die größten Probleme des Landes sind. Als die Wirtschaft sich Anfang des neuen Millenniums etwas zu erholen schien, wurden diese Prioritäten angegangen und gewisse Fortschritte erzielt. Die Hurrikane im Jahr 2008 mit Schäden von 10 Mrd. Dollar (20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) und die Auswirkungen der globalen Wirtschaftskrise haben allerdings vieles wieder zunichtegemacht.

Cuba ist eine langgezogene Insel von gut 1000 Kilometern und nirgendwo breiter als 100 Kilometer. Die Hauptverkehrswege haben keine nennenswerten Naturhindernisse zu überwinden, also ideale Voraussetzungen für ein Transportwesen. Die erste Eisenbahn in Cuba wurde für den Zuckerrohrtransport gebaut, bevor noch die erste Lok in der spanischen Metropole in Betrieb war. Ein landesweites Schienennetz besteht noch heute. Mit venezolanischen, iranischen und chinesischen Krediten wird daran gearbeitet, es wieder in Stand zu setzen und das Rollmaterial zu modernisieren. Im Jahre 2012 soll sich dann die Fahrtzeit der knapp 1000 Kilometer langen Strecke von La Habana nach Santiago de Cuba im Personenzug von 19 Stunden auf die Hälfte verkürzen. Noch wichtiger ist das Schienennetz für den Gütertransport – jede Tonne von der Straße auf die Schiene spart importierten Sprit.

Ebenso wurde und wird in den Straßenverkehr investiert. Seit 2005 hat sich der Transport zwischen den Knotenpunkten dank chinesischer Busse zwar massiv verbessert, dennoch ist die Nachfrage keineswegs gedeckt. Daran haben auch erhebliche Preiserhöhungen nichts geändert, die Busreisen für Normalverdienende beinahe unerschwinglich machen. Trotz des hohen Preises erfordert eine Busfahrt nach wie vor lange Wartezeit und zumindest mittelfristige Planung, um einen Platz zu ergattern. Die Alternative heißt, teure Devisen kaufen – dann ist das Platzangebot besser, wenn auch nicht berauschend. Das wird vor allem von TouristInnen genutzt, die mehr als kostendeckende Preise bezahlen, was als eine Art Ausgleichszahlung zugunsten von Otto/Emma NormalpassagierIn gesehen werden kann.

Im Jahr 2008 war dann der Stadtverkehr an der Reihe. Massive Importe von Bussen erlaubten es, erneut von einem Nahverkehrsnetz in Habana mit Haupt- und Nebenlinien zu sprechen. Die Zahl der beförderten Passagiere ist auf rund eine Million pro Tag gestiegen, weit entfernt von den Zahlen der 80er Jahre, aber dennoch eine spürbare Verbesserung im Vergleich zu den Vorjahren. Die berühmten „Kamele” (an Zugmaschinen angehängte Großwaggons aus Eigenfertigung) wurden aufs Land geschickt. Nach und nach wurden auch andere Provinzhauptstädte mit neuen Bussen beliefert und so die Velotaxis und Pferdekutschen entlastet. Kaum Verbesserungen hat der Regionalverkehr erlebt, eine Provinz wie Las Tunas mit acht Gemeinden und rund 400 000 EinwohnerInnen verfügte vor einem Jahr gerade mal über 19 Überlandbusse und zwei Schienenverbindungen für den Personentransport.

Bei einer Fahrt durch Stadt und Land trifft man immer wieder auf Trauben von Menschen, die auf eine Mitfahrgelegenheit warten. PolizistInnen, Militärdienstpflichtige, Gesundheitspersonal, StudentInnen, LehrerInnen, PatientInnen, Politkader und viele andere mehr müssen sich ihren Transport selber organisieren. Eine Versuchung für FahrerInnen mit freien Kapazitäten, die sich auf diese Weise oft ein erhebliches Zubrot verdienen, oder für Busfahrer, die lieber direkt und an sie zahlende Passagiere aufnehmen als Leute von der offiziellen Warteliste.

Zwar haben die massiven Investitionen im Transportwesen eine spürbare Verbesserung ermöglicht und in verschiedenen Bereichen wird weiter daran gearbeitet, aber die Nachhaltigkeit hängt in erheblichem Ausmaß von der wirtschaftlichen Lage ab, denn ohne staatliche Subventionen geht es nicht. So wurde massiv in Straßenbaumaschinen und Asphaltfabriken investiert, und an verschiedenen Stellen des über 10 000 Kilometer langen asphaltierten Straßennetzes konnten dringende Unterhaltsarbeiten durchgeführt werden. Aber um eine flächendeckende Wirkung zu erreichen, wird es bestenfalls noch Jahre dauern, und vor allem die Straßen in den Wohngebieten werden im Volksmund noch oft „Sarajevo” genannt. Die Unterhaltsarbeiten in den Städten wurden auf die Busrouten konzentriert, was sehr sinnvoll ist. Allerdings reichen Belagsarbeiten oft nicht aus, da die Straßen durch Wasserleitungsbrüche und fehlende Unterhaltsarbeiten strukturelle Schäden aufweisen. Diese Flickschusterei hat dazu geführt, dass nicht wenige der neuen Gelenkbusse schwere Schäden erlitten.

Somit wird also zum Beispiel die Familie Mirabal (Mutter, Tochter und Enkel) noch eine Weile mit Transportproblemen zu kämpfen haben. Sie leben in Alamar, gut zehn Kilometer östlich vom Stadtzentrum in La Habana, einer Satellitensiedlung, die gebaut wurde, als der Nahverkehr optimal funktionierte. Während die pensionierte Mutter sich die Zeiten für die Stadtausflüge flexibler einteilen kann und somit weniger Gedränge in Kauf nehmen muss, ist die Bewegungsfreiheit des Enkels durch die neuerdings eingeschränkten Wochenendfrequenzen wieder etwas beschnitten worden. 

Die Tochter kann ihren täglichen Arbeitsweg auf verschiedene Art bestreiten. Im Gelenkbus wird sie etwa zwei Stunden mit Gedränge in Kauf nehmen müssen – dafür würde sie aber bei täglicher Fahrt im Monat wenig mehr als fünf Prozent ihres Einkommens aufwenden müssen. Ist sie mal zu spät, kann sie einen Expressbus besteigen, dessen Fahrpreis 2,5 Mal über dem Buspreis liegt, oder ein staatliches Sammeltaxi, das sie für fünf cubanische Pesos (das wäre für eine Fahrt ca. ein Prozent ihres Lohns) ins Stadtzentrum bringt. All diese Varianten sind seit den Neuinvestitionen in den Nahverkehr erst real möglich geworden. Zusätzlich stehen unweit der Bushaltestelle private Sammeltaxis, alte US-Vehikel aus vorrevolutionären Zeiten, die für denselben Weg zehn cubanische Pesos verlangen.

Da bleibt dann die Tochter meist lieber ihrer studentischen Tradition treu, begibt sich zur nahen Ampel und bittet am Rotlicht wartende Autos um eine botella. Inzwischen kennen sie viele, und so kommt sie meist schneller und angenehmer an ihren Arbeitsplatz als mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Schlechte Erfahrungen hat sie dabei kaum gemacht, das Selbstbewusstsein der jungen Cubanerinnen reicht stets, um die erste Anmache mehr oder minder elegant, aber dezidiert abzublocken. Wäre sie noch etwas weiter gelaufen, käme sie an einen „gelben Punkt”. Dort steht, wie an hunderten anderen Orten im Land, eine gelb uniformierte Person. Alle Autos mit staatlichen Nummernschildern – und das sind die Mehrzahl – sind prinzipiell verpflichtet anzuhalten, ihr Fahrziel zu nennen und die leeren Plätze mit Wartenden zu füllen. Für die Arbeit kriegt der/die „Gelbe”, von jedem/r vermittelten PassagierIn einen cubanischen Peso. Je nach Laune der FahrerInnen der staatlichen Vehikel kann die Wartezeit dann länger oder kürzer sein, denn lange nicht alle halten sich an die Regeln, und die Sanktionen dafür sind gelinde gesagt lau.

Seit Kurzem gehört aber all dies für die Tochter der Vergangenheit an. Ihr neuer Arbeitsplatz schließt „ArbeiterInnentransport” mit ein, und so hält jeden Tag um dieselbe Zeit ein Bus unweit ihres Hauses und bringt sie zusammen mit anderen MitarbeiterInnen an ihren Arbeitsort und zurück.

Ein eigenes Auto wird sich diese Familie trotz Rente der Mutter und Uniabschluss der Tochter nie leisten können. Diese sind Leuten mit Deviseneinkünften (SportlerInnen, KünstlerInnen und Leuten, die im Auslandseinsatz waren, sei es als DiplomatInnen oder als Fachpersonal in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Landwirtschaft, etc.) vorbehalten. Beschneidung der individuellen Freiheiten, schreien viele, vor allem aus dem industrialisierten Ausland mit Zweit- und Drittwagen. Vielleicht stellt aber gerade diese angebliche Einschränkung einer angeblichen Freiheit einen Schlüssel dar, weshalb Cuba es laut einer Studie der Umweltorganisation WWF als einziges Land weltweit geschafft hat, hohe Lebensqualität (gleiche Lebenserwartung wie USA) und Nachhaltigkeit (fünf Prozent der Pro-Kopf-Emissionen der USA) in Einklang zu bringen.