Die „Señora“ sei eine Heilige gewesen, erzählte mir Nélida de Miguel im Jahr 2014, als ich für eine Biografie über Eva Perón in Buenos Aires recherchierte. Nélida de Miguel, damals 94 Jahre alt, war die einzige noch lebende Weggefährtin und Freundin der berühmten Argentinierin. Sie hatte „Evita“ in abgelegene Dörfer begleitet. Dort machten sich die Frauen ein Bild über soziale Zustände, über Krankheiten und materielle Not, hielten Vorträge über das Frauenwahlrecht und weibliche Selbstermächtigung. Sie verteilten Lebensmittel, warben für die Gewerkschaft CGT und den weiblichen Flügel der peronistischen Arbeiterpartei. Als Eva Perón 1952 im Alter von nur dreiunddreißig Jahren starb, erhielt die Peronistin das Andenken an ihr Idol ungebrochen aufrecht. Als sie mich durch die Gewerkschaftsräume führte, bekreuzigte sie sich vor jedem Evita-Bild, von denen es im Gebäude viele gab. Die Señora sei unsterblich, sagte mir Nélida de Miguel, die 2021 im Alter von 101 Jahren starb, zum Abschied. Ihre Erinnerungen halfen mir, den ungebrochenen Personenkult um Eva Péron einzuschätzen, wenngleich er auf einem autokratischen Regime beruhte, das sich auch mit Nötigung, Medienzensur und Korruption über Wasser hielt. Es wäre sinnlos gewesen, mit Nélida de Miguel über die wundersame Transformation einer Frau zu reden, die als Radiostar und Geliebte eines Obersts in einem katholischen Land ihre Karriere begann und als Mutter der Armen und Marienfigur in die Geschichte des Peronismus einging, wenngleich die zahlreichen Oppositionellen des Peronismus die Señora verachteten.
Eva Perón wurde als Eva Ibarguren am 7. Mai 1919 in Los Toldos als uneheliche Tochter des Gutsverwalters Juan Duarte geboren, dessen Nachnamen sie später verwendete. Sie wuchs in äußerst bescheidenen Verhältnissen auf und schlug sich ab 1935 in Buenos Aires mit Gelegenheitsjobs durch, bis sie als Hörfunksprecherin bei Radio Belgrano Erfolg hatte. 1944 lernte sie den aufstrebenden Staatssekretär für Arbeit und soziale Fürsorge Juan Perón kennen, der wie sie aus bescheidenen Verhältnissen stammte. Beide wurden ein Paar. Oberst Perón hatte sich ein Jahr zuvor mit einer Gruppe von Offizieren an die Macht geputscht, die amtierende Regierung gestürzt und eine rechte Diktatur etabliert. Perón und seine Kameraden waren von der ultrarechten Politik des spanischen Diktators Francisco Franco, von Benito Mussolinis Arbeiterpolitik und vom nationalsozialistischen Militarismus mit seiner Strategie der Blitzkriege fasziniert. Sie wollten Argentinien modernisieren, eine Sozialpolitik von oben implementieren, ausländische Einflüsse zurückdrängen und „Argentinien den Argentiniern“ zurückgeben. Um kommunistische, sozialistische und anarchistische politische Bewegungen und Gewerkschaften zu schwächen, wurden diese entweder gekauft oder zerschlagen. Die arbeiterfreundliche Politik, sein rascher politischer Aufstieg und seine uneheliche Beziehung mit Eva Duarte brachten dem ehrgeizigen Oberst Perón in den Reihen der Militärs und der Oberschicht viele Feinde ein. Er wurde inhaftiert, aber aufgrund des Drucks seiner Anhänger schließlich am 17. Oktober 1945 entlassen. Dieser Tag wurde in den folgenden Jahren als Gründungstag des Peronismus ausgiebig gefeiert. Im Februar 1946 gewann der Offizier die Präsidentschaftswahlen auf legalem Weg, unter anderem auch aus Protest gegen die Einmischung der USA, die gegen den „Demagogen und Faschisten“ Perón massiv Stimmung gemacht hatten. Als Faschist, der Tausenden von Kriegsverbrechern Unterschlupf gewährt hatte, galt Juan Perón auch im demokratischen Europa.
Weil Argentinien beträchtliche Währungsreserven hortete, die aus dem Verkauf von Nahrungsmitteln an die alliierten Armeen stammten, konnte sich Juan Perón eine großzügige Sozialpolitik leisten. Argentinien galt in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg als eines der wohlhabendsten Länder der Welt. Unter „Arbeitern“ verstand das Regime die körperlich arbeitende Bevölkerung, die Industrie- und Landarbeiter*innen, die Angestellten und Bediensteten, all jene, deren Einkommen nicht auf Renditen beruhten. Die von Juan Perón propagierte Demokratie, die direkte Beziehung zur Bevölkerung, erwies sich rasch als Staffage. Denn der Präsident regierte mit einer Handvoll Vertrauter, mit Offizierskollegen, Freunden und Verwandten. Trotzdem verstanden es der Präsident und Eva Duarte, die er 1945 heiratete, ihren Landsleuten glaubhaft eine selbstlose Liebe zu vermitteln. In populistischer Manier zogen sie die körperliche Nähe, das Vier-Augen-Gespräch, eine Politik der Emotionen und die quasi-monarchische Inszenierung von sozialen Wohltaten einer „empathielosen Bürokratie“ vor, obwohl der Peronismus sehr wohl eine Reihe von Institutionen schuf, um sein autokratisches System durchzusetzen. Das Regime stützte sich auf die „Partei der Gerechtigkeit“ (Partido Justicialista). Sie dominierte beide Kammern im Kongress. Unabhängige Richter wurden zugunsten politisch „verlässlicher“ entlassen, die kritische Presse mit Publikationsverboten oder geringerer Papierzuteilung bestraft, die gefügige hingegen subventioniert. Täuschung und demokratische Fassaden prägten auch die politischen Diskurse. Von „Harmonisieren“ war stets die Rede, gleichzeitig riss die peronistische Rhetorik des Kampfes und Hasses gegen den außenpolitischen Feind USA und innenpolitischen Feind der „empathielosen, kalten Oligarchie“ und alles „Linke“ die sozialen Gräben weiter auf. Juan Perón mochte das Bad in der Menge nicht besonders, dafür hatte er seine Frau Evita. Sie erhob Personenkult zu einer Meisterschaft, mit Hilfe der Medien, ihrer Fotografen und ihres Talents für Inszenierung. Juan und Evita, wie die Anhängerschaft die Präsidentengattin liebevoll nannte, stilisierten sich als modernes Paar: kameradschaftlich, zugänglich, sozial und egalitär, ließen sich vermeintlich privat und bei jeder politischen Gelegenheit ablichten. Die First Lady gab sich auch nicht mit Banketten, Small Talks und Fototerminen zufrieden.
Eva Perón gründete die gleichnamige Stiftung Fundación Eva Perón. Dort bot sie täglich hunderten Bittsteller*innen materielle Hilfe und ließ ihre Audienzen von in- und ausländischen Journalist*innen festhalten. Weil sie Kranke, Arme und Aussätzige berührte, wurde die hellhäutige, großgewachsene Argentinierin mit dem blondierten Haar bald zu einer verehrungswürdigen Lichtgestalt, die aus der Menge oft indigener Hilfsbedürftiger herausragte. Ihr Friseur Julio Alcaraz schuf den Chignon, den charakteristischen Haarkranz, ihr Leibfotograf eine Reihe von Profilbildern, die bald nicht nur Briefmarken zierten, sondern sogar die Konturen eines ganzen Stadtviertels, der Ciudad Evita, inspirierten. Dieser Persönlichkeitskult verfestigte das Bild einer gütigen Zeremonienmeisterin der Nächstenliebe, die stets präsent war, wenn Wohltaten zu tun und Güter zu vergeben waren. Für ihre Gegner*innen waren diese Auftritte blanke Show und die teuren Roben, die sie bei Abendveranstaltungen trug, anmaßend. Sie konterte diese Vorwürfe mit der Bemerkung, dass die Leute sie schön sehen wollten. Arme Leute wollten keine Beschützer, die alt und grau seien. Den Aschenputtel-Traum vom Aufstieg wollte Eva Perón erfüllen. Dass ihre Stiftung intransparent war, dass andere, private, Hilfsorganisationen, geschlossen wurden, um jegliche Konkurrenz auszuschalten, blieb freilich unkommentiert. Ebenso war die Stiftung eine Konkurrenz zu den Fürsorgeeinrichtungen der katholischen Kirche, die Evita immer wieder als selbstbezogen kritisierte, während dem Klerus ihre immer größere Rolle einer säkularen Heiligen nicht behagte.
Aufgrund ihrer Kindheitserfahrungen mit einer unverheirateten, fünffachen Mutter, die sozial ausgegrenzt worden war, engagierte sich Eva Perón für alleinerziehende Mütter und Gewaltopfer, für die sie in Buenos Aires einige elegant ausgestattete Rückzugsmöglichkeiten, sogenannte „hogares“, schuf. Diese Einrichtungen, die propagandistisch in Dokumentarfilmen, regimeeigenen Zeitungen und Radioberichten beworben wurden, trugen ebenfalls viel zum Image Eva Peróns als Mutter der Armen und Ausgegrenzten bei. Doch es wäre zu einfach, die Stiftung, die Heime, die Auftritte in eleganten Outfits bei Fußballspielen, Ausspeisungen, Krankenhauseröffnungen und Gewerkschaftsversammlungen als Show zu bezeichnen. Nicht nur Nélida de Miguel erzählte, dass Eva Perón in ihrer Stiftung noch spät nachts Hilfsbedürftige empfing, kaum mehr als vier Stunden täglich schlief und schließlich manisch von ihrer Mission der Fürsorge angetrieben gewesen sei. Askese und Aufopferung gehören ebenfalls zu Heiligenlegenden. Eva Perón wollte sich mit ihrem Engagement die Zuneigung ihrer Anhänger*innenschaft erkämpfen und der „kaltherzigen Oligarchie“ deren materiellen Egoismus vorführen, wenngleich die Peróns Immobilien, Juwelen und Autos anhäuften. Zweischneidig war auch die Durchsetzung des Frauenwahlrechts. Argentinien gehörte in Lateinamerika damals schon zu den Schlusslichtern, als es 1947 eingeführt wurde. Dass der Peronismus bürgerliche und politisch linke Frauenbewegungen entmachtet hatte, um propagandistisch Eva Perón als Urheberin des Frauenwahlrechts zu inszenieren, wird oftmals nicht erzählt. Dabei nahm die First Lady das Wort Emanzipation nicht in den Mund. Das Frauenwahlrecht interpretierte sie als Dienst an Christus und Perón, die Stimmen der Frauen waren entscheidend für Juan Peróns Wiederwahl 1951.
Dass Evita bis heute einen solchen Kultstatus genießt, hat auch mit ihrem rhetorischen Talent zu tun. Sie brachte die emotionale Seite der Macht effektvoller ins Spiel als der Präsident. Mit dramatischen Gesten und starker Mimik galt sie als mitreißende Rednerin, die ihren Anhänger*innen aus der Seele sprach. Der Stil sei hart gewesen und gleichzeitig ermunternd, erinnerten sich Zeitzeug*innen, anmaßend und plump, aber sentimental. Ihre Reden seien simpel, leicht zu glauben und durchdacht gewesen. Evita verstand sich als Vermittlerin zwischen dem „líder“ Perón und dem Volk, den „descamisados“ („Hemdlosen“), das heißt der arbeitenden Bevölkerung. Sie war ein Underdog, doch als Aufsteigerin gab sie den Armen eine neue Erhabenheit. „Ich komme aus dem Volk“, sagte sie immer wieder, und sie diene ihm. Perón „arbeitet“, war ein Slogan des Regimes, und Evita „würdigt“. Eine Zeitlang funktionierten diese Symbiosen. Hunderttausende Argentinier*innen stiegen materiell auf. Doch Ende der 1940er-Jahre geriet das Regime in eine große politische und finanzielle Krise.
Das korrupte, klientelistische System mit seiner aufgeblähten Bürokratie verschlang große Summen Geld, ebenso die teuer verstaatlichten und vielfach ineffizienten Betriebe. Die hohen Löhne wurden von einer immer höheren Inflation gefressen, und Missernten reduzierten die Weizenerträge drastisch. Monatelange Streiks bedrohten die Ordnung und führten zu stärkerer politischer Repression und Kontrolle. Ihre Anhänger*innenschaft hielt Evita mit verbalem Fanatismus und einem martialischen Vokabular bei Laune. Von Vernichtung der feigen Gegner, von zu schlagenden Schlachten, Krieg, Rache und Vergeltung, Durchhaltevermögen und Opfern bis zum Tod war ständig die Rede. 1951 erkrankte sie, hoffte aber auf die Rolle der Vizepräsidentin bei den Wahlen desselben Jahres. Das Amt wäre ihre krönende Rolle gewesen, doch die Opposition unter den Militärs war zu groß. Ihre Verzichtsreden auf der Bühne des Präsidentschaftspalastes, der Casa Rosada, und danach im Radio, wurden als großes Drama aufgeführt. Diesem würde bald ein weiteres folgen. Zu Beginn des Jahres 1952 war die Krebserkrankung allseits bekannt. Während ein Teil der gespaltenen Nation für ihre Genesung und ihr Seelenheil betete, wünschten ihr die Oppositionellen den Tod. Selbst das lange Sterben wurde vom angeschlagenen Regime zelebriert und mit unerträglicher Spannung aufgeladen. Am 26. Juli 1952 verstarb Eva Perón schließlich und wurde wie eine Königin einbalsamiert. Noch drei weitere Jahre hielt sich Juan Perón politisch über Wasser, indem er seine Frau als zweite Muttergottes, als Heilige der Nation hochhielt, zu der Schulkinder regelmäßig beteten. 1955 wurde er gestürzt und musste das Land verlassen. Doch der Mythos von Eva Perón lebt weiter fort.