Am 15. April 1977 verschleppten die Militärs deinen Sohn Gustavo.
Er verließ das Haus zur Arbeit und kam nie dort an. Sie haben ihn wohl mit einem Revolver bedroht und in ein Auto gezwungen und mitgenommen. Niemand wusste irgendwas. Er war Aktivist und sie haben ihn ausspioniert und wussten, was er macht.
Und so wurdest du selbst zur Aktivistin?
Mein soziales Engagement ist ein Erbe meines Sohnes Gustavo. Er war bei den Montoneros.[fn]Argentinische Stadtguerilla vor und nach der Militärdiktatur, die sich strategisch auf die Fokustheorie von Che Guevara bezog.[/fn] Das war eine Kampfgruppe, die auf der Seite derer war, die sich am wenigsten verteidigen konnten. Mir hilft mein Aktivismus, mich an meinen Sohn und die 30 000 Verschwundenen zu erinnern und nicht zu vergessen, weiterzukämpfen.
Die „Madres de Plaza de Mayo“ erinnern jeden Donnerstag in Buenos Aires an die Verschwundenen der Militärdiktatur und fordern die Öffnung der Archive. Du bist eine der Gründerinnen, wie entstand eure Bewegung?
Erst waren wir 14 Mütter, aber je mehr Repression es gab, desto mehr wurden wir. In 50 Jahren hat niemand es geschafft, uns von dem Platz zu schmeißen! Die Plaza de Mayo hat Magie. Wir beenden unsere Treffen dort immer neben dem argentinischen Nationalbaum Ceibo, unter dessen Schutz wir schlimme Dinge anklagen. Am Ende singen wir gemeinsam ein Lied, diese Woche habe ich mir „Como la Cigarra“ gewünscht.
Weder Polizei noch Militär konnten euch einschüchtern?
Sie haben uns oft verhaftet, mit Tränengas besprüht, uns aus unseren Häusern geholt und uns bedroht, damit wir nicht mehr auf den Platz kommen, aber wir sind weiterhin gekommen. Sie haben uns brutal behandelt und gewaltsam verhaftet. Die eingesperrten Mütter waren teilweise tagelang im Knast. Befreundete Politiker*innen oder Botschaften mussten sich darum kümmern, dass wir wieder rauskommen. Wir haben nie aufgegeben, bis heute nicht. Mit der aktuellen Regierung steigt die Gefahr der Gewalt wieder. Aber wir machen weiter.
Ihr habt viel erreicht und seid international bekannt. In deiner kürzlich erschienenen Biografie posierst du auf Fotos mit Fidel Castro, Hugo Chávez und dem Papst.
Wir als Madres haben mit unserem immer friedlichen und respektvollen Kampf viel für die Rückkehr der Demokratie nach der Diktatur getan. Es waren nicht die Politiker, nicht die Militärs und auch nicht die Kirche, sondern wir. Auch wenn wir das damals gar nicht gemerkt haben.
Wird der Kampf weitergehen? Ihr habt alle schon ein gewisses Alter erreicht.
Ja, wir gehen alle auf die 100 zu. Aber wir suchen den Tod nicht. Solange die Gesundheit es erlaubt, gehen wir auf die Plaza de Mayo. Viele Mütter sind schon gestorben. Heute sind wir wenige. Wenn viele kommen, ist es ein Wunder (lacht). Es kommen aber inzwischen auch viele Schwestern – und die Kinder und Enkelkinder der Verschwundenen. Die führen die Kämpfe weiter, wenn wir nicht mehr weitermachen können.
Sind es ausschließlich Frauen, die gegen das „Verschwinden“ Anklage erheben?
Die Väter sind fast alle gestorben und die Söhne müssen arbeiten und können donnerstags nicht immer auf den Platz kommen. Es ist ein weiblicher Kampf. Total feminin.
Das war in den späten 1970er-Jahren wohl auch eher neu, dass Frauen öffentlich Gerechtigkeit einfordern?
Es gab Bedrohung, Verfolgung und Telefonüberwachung. Sie haben es uns sehr schwierig gemacht. Und auch die Väter zu Hause wollten nicht, dass die Mütter zum Platz gehen. Weil sie so viele Mütter mitgenommen haben – Azucena, Maria, Teresa. Die Männer hatten Angst um uns und stellten sich quer. Manche Mütter hörten auf zu kommen, aber die meisten merkten irgendwann, dass man weitermachen muss. Unsere Bewegung ist einzigartig auf der Welt. Wir sind nur Frauen und über all die Jahre hat uns nichts von der Straße runtergekriegt. Wir machen weiter, wir handeln, machen Aktionen, Kundgebungen, Feste zu Jahrestagen.
Neben deinem weißen Kopftuch, dem Symbol der Madres, hängt hier auch ein grünes Halstuch, das Symbol für das Recht auf Abtreibung. Fühlst du dich mit dem modernen Feminismus verbunden?
Ich war nicht immer Feministin. Aber als ich anfing, auf die Straße zu gehen, hat mich die Frauenbewegung absorbiert. Ich bin in einer machistischen Familie aufgewachsen. Eines Tages ist mit klar geworden: Ich habe nur Pflichten und keine Rechte. Also habe ich angefangen, anders zu denken, anders zu sein. Meinem Vater und meinem Ehemann hat es damals viel abverlangt, dass ich plötzlich Feministin war.
Wie haben die reagiert? Das war sicher keine Veränderung, die an einem Tag passierte.
Bist du verrückt, das hat gedauert. Ich habe jung geheiratet, mit 19. Mein Mann war ein patriarchaler Typ.
Und hat er sich geändert?
Nein. Aber geärgert hat er sich immerhin. Und dann musste er sich umgewöhnen, das fällt Männern allgemein sehr schwer.
Das zeigt deine Kraft Dinge zu ändern. Viele haben sich nie mit ihrem Vater und Mann gleichzeitig angelegt.
(lacht) Ja, das stimmt. Aber du musstest als Frau echt alles machen. Das ging nicht mehr. Daheim auf den Mann warten, am besten mit schön gewaschenen Kindern, die schon gegessen haben und nicht quengeln. Die Kinder sollten den Vater nicht stören.
Gibt es heute Gleichberechtigung?
Es ist schwer in diesem Land. Aber es wird besser und es tut sich viel. Das jährliche Plurinationale Treffen von Frauen, Lesben, Travestis, Trans, Bisexuellen, Inter und Nichtbinären ist zentral. Das Treffen verbindet über gesellschaftliche Schichten und Herkunft hinweg. 2023 reisten mehr als 100.000 Menschen dafür nach Bariloche. Das Recht auf Abtreibung in Argentinien hat hier seinen Ursprung.
Sind diese Errungenschaften bedroht? Präsident Javier Milei hat Feminismus zu seinem offiziellen Feindbild gemacht.
Dieser patriarchale Macho ist sehr gewaltsam. Die wollen uns ihren Modus auferlegen, mit Gewalt. Nicht nur, dass sie die Frauen körperlich misshandeln. Missbrauch bedeutet nicht immer Schläge, sondern auch Kleinmachen und psychische Unterdrückung. Aber das ändern wir schon!
Seit der ultrarechte Milei Präsident ist, interessiert sich die Welt für Argentinien.
Ja, weil alles so schlimm ist. Alles, was der Präsident tut, richtet sich gegen das Volk. Ich weiß auch nicht, wie wir hier weitermachen sollen. Essen und Mieten wird bald niemand mehr zahlen können. Man kann nicht einmal protestieren, denn es gibt wieder Repression und Überwachung. Weder ich noch meine Familie haben Milei gewählt. Aber jetzt regiert er uns trotzdem. Ich nenne ihn nur: Monster.
Was passiert jetzt, wenn ein demokratisch gewählter Präsident Staat und Demokratie abschaffen will?
Dagegen müssen wir kämpfen! Aber wir müssen auf uns aufpassen. Jedes Mal, wenn Menschen auf die Straße gehen und um ihre Rechte kämpfen, gibt es gerade Repressionen, Repressionen und noch mehr Repressionen. Das konntest du vergangene Woche erst sehen.[fn]Gemeint sind die Massenproteste gegen das sogenannte Omnibusgesetz und das Dekret DNU, die große Teile des wirtschaftlichen und sozialen Lebens deregulieren sollen. Das Maßnahmenpaket scheiterte im Februar im Parlament, wurde aber schließlich in abgespeckter Version angenommen.[/fn] Übertriebene Polizeipräsenz und Gewalt im Verhältnis zu der Anzahl der Menschen auf der Straße.
Vor allem junge Menschen haben ihre Hoffnung auf Milei gesetzt, 69 Prozent der 16-24-Jährigen haben ihn gewählt.
Die einen sagen, die Jugend wollte schlichtweg Veränderung. Aber was hat die Jugend schon erlebt? Staatsterrorismus und Diktatur kennen sie nicht, also haben wir die Verantwortung, zu erzählen. Wir müssen ihnen zeigen, dass Mileis Visionen und Handlungen ein unterdrückerisches System preisen, das wir bereits kennen. Andererseits gab es bei der letzten Wahl auch keine gute Alternative.
Du glaubst also an die Jugend?
Ja. Sie müssen sich auf die Geschichten ihrer Großmütter und Familien zurückbesinnen, auf andere Epochen. Irgendwann werden sie die Verbindung zum Jetzt verstehen. Dass in diesen Tagen wieder Streitkräfte auf der Straße waren, hat die Jugend sicher in den Sozialen Medien gesehen. Ich habe das schon so oft erlebt. Aber ich frage mich: Was müssen sie noch sehen, um zu realisieren, dass so der Faschismus begonnen hat.
Wer die Medien in Argentinien verfolgt, hat das Gefühl, es gibt zwei unterschiedliche Länder. Im einen geht es bergauf, das andere geht den Bach runter.
Die Befürworter sagen: Man muss dieser Regierung Zeit geben. Aber man sollte dieser Regierung keine Zeit geben – sie wird viel kaputt machen. Die Repression wird verschleiert oder es wird so dargestellt, als hätten die Demonstrierenden die Gewalt provoziert. Aber das ist nicht wahr. Die Regierung hat eine faschistische Mentalität, die sie jetzt in die Praxis umsetzt.
Was ist deine größte Angst?
Dass wir den Rückschritt nicht verhindern können.