Die Graphic Novel „Carlos Gardel“ des Zeichners José Muñoz aus Buenos Aires und des argentinischen Autors Carlos Sampayo will keine neuen Halbwahrheiten, Vermutungen oder Interpretationen über das Leben der wichtigsten Persönlichkeit des Tangos verbreiten, keine Legende demontieren noch eine neue schaffen. Die beiden Argentinier wollen vielmehr aufzeigen, wie facettenreich die Nachwelt Gardels Leben darstellte und wie der Interpret und Komponist selbst an seiner Legende strickte, indem er Gerüchte in die Welt setzte und in Interviews kaum korrekte Auskünfte über seine Person gab.
Die Graphic Novel schildert die letzten Lebensjahre Gardels in den 30er-Jahren, als er sich auf dem Höhepunkt seiner künstlerischen Laufbahn befindet. Das Ganze ist verpackt in eine Rahmenerzählung: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts streiten sich in einer Radiosendung zwei Tangoexperten über Carlos Gardel und seinen Beitrag zur argentinischen Identität. Würze erhält die Radiodebatte durch einen Hörer, Romualdo Merval, der behauptet, Gardel gekannt und ermordet zu haben. Er macht sich schließlich auf den Weg zum Sender auf, um in die Debatte einzugreifen – was ihm jedoch nicht gelingt, denn der Greis wird vom Wachpersonal brutal zusammengeschlagen. Im Krankenhaus erliegt er seinen Verletzungen. Innerhalb dieser Rahmenhandlung erleben wir in Rückblenden Carlos Gardel und seine Freunde in Argentinien, Uruguay, New York, Havanna und Kolumbien.
Das Thema der nationalen Identität, so Sampayo, sei der rote Faden der Geschichte. Vor Gardel habe niemand Argentinien verkörpert, er habe die Sehnsucht nach einer argentinischen Identität geweckt, sei der erste Volksheld und so widersprüchlich wie das Land selbst gewesen. Das sind natürlich große Worte, aber vor allem sind es Formulierungen, die auch schon andere bemüht haben. Die Debatte um die nationale Identität Argentiniens ist so alt wie das Land selbst, schon im 19. Jahrhundert stritten die Sarmientos, Mitres und Hernández über die Facundos, San Martíns und Martín Fierros und deren typisch argentinische Eigenheiten beziehungsweise Bedeutung für die Nationwerdung.
In der Radioshow wird also diskutiert, ob der legendäre Tangosänger das „argentinische Wesen“ verkörpert habe. Bei diesem Unterfangen halten die beiden Gardel-Experten mit ihren Mutmaßungen nicht hinter dem Berg, kein Gerücht über die Legende bleibt unerwähnt: Gardel und seine gestörte Beziehung zu Frauen einerseits und sein Verhältnis zu Freunden und zur Männerliebe andererseits, das enge Verhältnis zu seiner Mutter, die Beziehungen zur konservativen Reaktion, zu den Sozialisten, zur Mafia und zu Verbrecherbossen. Sie debattieren über Gardels angebliche Homosexualität und legen ihm Worte in den Mund wie „Vergiss die Frauen… Ich bevorzuge gepflegte Männerrunden“ oder „Die einzig wahre Liebe ist die Liebe zur Mutter“. Am interessantesten ist in diesem Zusammenhang die Episode über die Freundschaft Gardels mit der Tangosängerin Azucena Maizani, die gerne in Männerkleidern auftrat, deshalb auch schon mal als Lesbe angesehen wurde und den Beinamen „La Ñata Gaucha“ erhielt.
Die Graphic Novel bedient natürlich auch die Gerüchte über Gardels Geburt und Tod. Wurde er nun 1890 im französischen Toulouse oder 1887 im uruguayischen Tacuarembó geboren? Sein angebliches Geburtshaus kann in beiden Städten besichtigt werden. Wer war sein Vater und war seine leibliche Mutter tatsächlich Berthe Gardès? Gardel selbst hat gerne behauptet, ein Sprössling des Río de la Plata zu sein und dass er in Uruguay als Kind uruguayischer Eltern geboren wurde, was wohl nicht den Tatsachen entspricht. Und der mysteriöse Flugzeugabsturz in Medellín, die Explosion an Bord? War es ein Unfall oder ein Komplott? Sampayo und Muñoz ziehen in ihrer Graphic Novel auch letztere Möglichkeit in Betracht: Gardels New Yorker Filmleute hätten in Erfahrung gebracht, dass der Tangosänger plane, seine eigene Produktionsfirma Exito’s in Buenos Aires zu gründen, um die Bevormundung der Amerikaner abzuschütteln und selbst den Löwenanteil am Gewinn aus dem Filmverleih einzustreichen. Den New Yorker Filmleuten legen sie, als die Nachricht von Gardels Tod die Tangowelt erschüttert, die Worte in den Mund: „Der Zufall hat unser Problem gelöst. Aus Südamerika droht keine Konkurrenz mehr für unseren Vertrieb.“
Was bleibt, ist Gardels Stimme, „die Stimme Argentiniens“: Der Schallplatte sei es zu verdanken, so Sampayo in seinem Nachwort, dass uns diese Stimme erhalten geblieben ist und wir so einen Beleg dafür haben, dass Gardel existiert hat. „Gardels Stimme lebt fort – gemeinsam mit dem Mythos, der alles bestimmt, was wir über ihn wissen.“ Und der argentinische Mythos bleibt, zumindest solange es Künstler wie Sampayo und Muñoz gibt, die fleißig weiter an ihm stricken.