„Die Engländer mögen es nicht, wenn die Mokkas nach England kommen zum Arbeiten und zum Leben.“ Moses, der seit zehn Jahren in London wohnt, erteilt Galahad, frisch aus Trinidad angelandet, eine ernüchternde Lektion. Er soll sein neues Leben auf dem Boden der Tatsachen beginnen. Und Tatsache ist, dass im London der 50er-Jahre die angeworbenen Arbeitskräfte aus den karibischen Kolonien die härtesten Jobs und miesesten Bruchbuden bekommen. Dazu haufenweise Argwohn und rassistische Abwehr von den Alteingesessenen. Aber selbst unter widrigsten Bedingungen machen die Neuankömmlinge zäh und trickreich weiter, lassen sich nicht unterkriegen, rackern sich ab. Sie taugen also ziemlich viel!
Samuel Selvons 1956 mit dem Titel „The Lonely Londoners“ veröffentlichter Roman gilt als Pionierwerk der Einwandererliteratur. Selvon, 1923 mit einem indischen Kontraktarbeiter als Großvater väterlicher- und einem schottischen Einwanderer als Großvater mütterlicherseits in Trinidad geboren, ging 1950 nach London. Er kannte das Milieu und deren Protagonist*innen aus erster Hand. 60 Jahre später, 2017, erscheint die deutschsprachige Übersetzung dieser Chronik der „Generation Windrush“. Damit sind die karibischen Immigrant*innen gemeint, die in der Nachkriegszeit nach Großbritannien kamen, benannt nach der „Empire Windrush“, die 1948 mit 492 Jamaikaner*innen an Bord anlandete. Ebenfalls 2017 wurde bekannt, dass Angehörige der „Generation Windrush“ abgeschoben und als Illegale behandelt wurden. Der Umgang der britischen Regierung mit den vor Jahrzehnten eingewanderten Menschen, die zum Teil nie formell eingebürgert wurden, geriet zum Skandal, über den die damalige Innenministerin Amber Rudd zurücktreten musste.[fn]https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/876336/6.5577_HO_Windrush_Lessons_Learned_Review_LoResFinal.pdf[/fn]
Anekdotisch und im dialogischen Plauderton lernen wir Moses, den alten Hasen, und seine „Jungs“ kennen. Die stammen aus Trinidad, Jamaica, Barbados und Nigeria. Selvons Stil ist lakonisch: „Der Bahnhof ist so ein Ort, da kommt das Gemüt.“ Oder die Atmosphäre auf dem Arbeitsamt, „die ist so dicht, da muss er sich eine Minute an die Wand lehnen. Das ist ein Ort, wo Hass und Ekel und Habgier und Bosheit und Verständnis und Sorge und Mitleid, wo das alles sich vermischt.“ Neben dem Geldbeschaffen wird das Liebesleben der „Jungs“ genüsslich seziert. Etwa von Lewis, einem Paradebeispiel für toxische Männlichkeit, der felsenfest glaubt, dass seine Frau ihn betrügt, während er auf Nachtschicht ist. Folglich vermöbelt er sie jeden Abend. Von Moses wird er gewarnt: „Die Frauen, die haben Rechte hier.“ Und Tatsache: Seine Frau verlässt ihn. Sie verklagt ihn sogar! Integration ist keine Einbahnstraße, das zeigt dieser Roman. Die Eingewanderten wandeln sich, ebenso die aufnehmende Gesellschaft. Sei es, weil es in London plötzlich Stockfisch, Okra oder Knoblauch (!) zu kaufen gibt, oder weil sich neue Gepflogenheiten durchsetzen. Die Tanty (Tante) des Jamaicaners Tolroy schafft es zum Beispiel, dass alle im Laden anschreiben können. „Wo ich herkomme, da nimmt man mit, was man braucht, und bezahlt wird Freitag.“
Die „Jungs“ stehen für diverse Charaktere, die von der Aufnahmegesellschaft über einen Kamm geschoren werden: als billige Arbeitskräfte, feurige Party-Animateure oder exotisierte Sexraubtiere. Ein krasser Kollege ist zum Beispiel Cap, der am liebsten „Weibchen schnüffelt und Mahlzeiten schnorrt“. Überall verschuldet, ein dreister Zechpreller, der sich mit Charme und Nonchalance durchs Leben mogelt. Moses predigt Galahad: „Ein Nichtsnutz läuft rum und macht lauter Mist und wirft sein schlechtes Licht auf uns alle.“ Aber Galahad „fühlt sich wie King in London“. Und ist bei seinem ersten Date „cool wie ein Lord“. Denn „Schickmachen heißt Schickmachen“. Schließlich wissen die Jungs: Ihr gutes Aussehen ist ihr einziges Kapital. Als Galahad seine Daisy mit nach Hause nimmt und die Tür öffnet, „wolkt schales Essen raus und alte Kleidung und Feuchte und Schmutz“. Sie lässt sich davon nicht irritieren. Aber davon, wie Galahad Tee zubereitet: „Daisy sieht ihn an wie einen Irren.“
Mit zwei zwinkernden Augen entwirft Seldon ein Panorama aus Fettnäpfchen, Malheuren, Macken und Eitelkeiten. Mitunter wird es nachdenklich: Was soll das alles? Sollte ich nicht besser zurück? Selbst Optimist Galahad grübelt: „Was wollen wir denn genau, was die Weißen so ungern hergeben? Ein bisschen Arbeit, ein bisschen Essen, ein bisschen Schlaf irgendwo. Wir wollen nur klarkommen, nicht mal vorankommen.“ Der Roman flowt in einem „Kunstkreolisch“ daher, wie es der Autor selbst nennt, was in der gelungenen deutschen Übersetzung frappierend der heutigen Jugendsprache ähnelt (etwa durch das notorische Weglassen von Präpositionen). Fazit: Viel gelacht und nachgedacht bei diesem heiter-melancholischen Buch. Ein super Antidot für freudlose Zeiten.