Nachlesen statt Vorlesen

Die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm werden in der linken Szene überwiegend als Erfolg gewertet – trotz der Differenzen unter einigen Bündnispartnern. Doch fernab des Nachspürens einer angeblich neuen linken Massenbewegung, die uns beispielsweise die junge welt seit Wochen in die Tasche zu lügen versucht, betrachte ich nicht nur die Proteste selbst als impulsgebendes Großereignis, sondern vor allem die anschließende Reflexion innerhalb der Linken. Die Nachlese vermag es, den theoretischen Mangel der Mobilisierung gegen den G8-Gipfel wenigstens ansatzweise zu revidieren, auch wenn sich die Diskussionen bislang weniger auf eine fundierte Kapitalismuskritik, sondern vorrangig auf die Bündnispolitik und die Gewaltdebatte konzentriert.

Es gab viele Gründe, nicht nach Heiligendamm zu fahren! Das unbehagliche Gefühl, sich mit traditionellen Anti-Imperialisten, Israelhassern oder sozialdemokratischen Gruppierungen zu vereinigen, blieb bis zum Abend der Abreise bestehen. Aber statt daheim im Philosophierstübchen zu verweilen, gewann das Argument der interventionistischen Praxis die Oberhand und verdichtete sich zu der Überzeugung, den staatsfetischistischen und reformistischen Kräften nicht allein das Feld zu überlassen. Zugegebenermaßen erhielt der Anlass der Proteste dadurch keine andersartige Rechtfertigung. Denn die Kritik an der symbolischen Repräsentation von Macht in persona von sieben Regierungschefs und einer -chefin, greift erstens zu kurz und kann zweitens kein Ausgangspunkt einer radikalen Kritik der kapitalistischen Vergesellschaftung sein. Die personale Identifizierung eines abstrakten gesellschaftlichen Verhältnisses verschiebt die verkürzte Kapitalismuskritik in die Nähe neonazistischer Strömungen, die mit manchen ProtestteilnehmerInnen mehr Gemeinsamkeiten aufweisen, als diesen lieb wäre. Deshalb versuchte ich mit einigen WeggefährtInnen die Proteste als Anlass für eine radikale Gesellschaftskritik zu betrachten und vom eigentlichen Happening des G8-Gipfels zu lösen. Die thematische Ausweitung der Proteste, die allein durch die Aktionstage angegangen wurden, kam uns dabei entgegen. So viel zur persönlichen Motivation.

Die Breite des Bündnisses, die besonders auf der Auftaktdemo am 2. Juni in Rostock offensichtlich wurde, ist das Ergebnis verschiedener politischer Motivationen. Dafür einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen, mag bündnisstrategisch Sinn machen, entbehrt im alltäglichen politischen Kampf aber jeglicher Grundlage. Dass sich der „Make Capitalism History“-Block mit einem Transparent „Gegen Antisemitismus und Antizionismus“ ausgerechnet hinter dem Pro-Palästina-Block in der Demo einreihte, ist ein Beweis dafür. Die Auseinandersetzungen und die wütenden Distanzierungsversuche über den Schlagabtausch zwischen einigen Vermummten und der Polizei sind nur eine logische Konsequenz der Unvereinbarkeit politischer Entwürfe. Zwar stellten die VeranstalterInnen der Demonstration immer wieder heraus, dass sich militante Gruppen nicht an der Vorbereitung beteiligt hätten und es einen Konsens über die Ablehnung von Gewalt gegeben hätte, doch letztlich ist kaum kontrollierbar, wer sich an einer solchen Demonstration beteiligt. Attac hätte damit rechnen müssen, wenn es das Gedächtnis der Anti-Globalisierungsbewegung seit Seattle ein wenig aktiviert hätte. Schließlich war Rostock kein singuläres Ereignis, sondern eine Fortsetzung einer wiederaufkeimenden Militanz der autonomen Bewegung, die lange begraben zu sein schien. 

Entscheidend bei der Gewalteskalation war für mich jedoch weniger der Auslöser, sondern das Versagen der attac-Führungsspitze gegenüber den Medien. Diese hat vorgeführt, wie sie an der hochgelobten Breite des Bündnisses letztendlich selbst gescheitert ist. Der lose Zusammenhang und die mangelnde Institutionalisierung der linken Bewegung stellte attac vor ein Repräsentationsdilemma. Einerseits positioniert sich attac immer mehr in der politischen Mitte. Andererseits aber versucht attac eine breite politische Linke hinter sich zu vereinigen und zu vertreten. Dem haben einige Militante einen Strich durch die Rechnung gemacht. Dass attac mit deren politischen Mitteln nicht einverstanden ist, ist das eine. Eine vollzogene Verteufelung der „Autonomen“, die den Kontext staatlicher Gewaltherrschaft ignoriert, wäre allerdings nicht vonnöten gewesen. Doch die Bagatellisierung des Schwarzen Blocks, der angeblich nichts weiter im Sinn hätte, als Autos anzuzünden und sich mit Polizisten zu prügeln, scheint mir nicht nur in den bürgerlichen Medien, sondern auch innerhalb großer Teile der Linken System zu haben. Der Zusammenhang zwischen radikaler Systemkritik und militanter Aktion wird negiert, nur weil das Recht, auf staatliche Gewaltverhältnisse entsprechend zu reagieren, als illegitim gebrandmarkt wird. Attac täte gut daran, sich der inhaltlichen Auseinandersetzung dieses Zusammenhangs zu stellen, anstatt den Staat ständig als Heiland einer aus den Rudern gelaufenen Globalisierung zu preisen. 

Der Vorschlag vom Mitglied des attac-Koordinierungskreises, Pedram Shahyar, Anknüpfungspunkte zu linksradikalen, aktionistischen Strömungen zu schaffen, kann m. E. nicht von Erfolg gekrönt sein, da es de facto keine inhaltlichen Überschneidungen gibt. Dafür müsste wohl eine der beiden Seiten einen kompletten Sinneswandel vollziehen. Vielmehr ist Werner Rätz, ebenfalls vom attac-KoKreis, Recht zu geben, dass es innerhalb der Linken unüberbrückbare Differenzen in Bezug auf Staat, staatliches Gewaltmonopol und Legitimität des Widerstandes dagegen gibt, die sich nicht auflösen lassen und mit denen die Bewegung zu leben hat. Trotz allem bin ich ein wenig überrascht über die Aufregung der Linken zu den Äußerungen der attacis, weil sie lediglich zeigen, wo attac zu verorten ist. Das Jammern, dass die Gewalt in den Medien die wahren Inhalte der Demo verschüttet hätte, ist jedenfalls unangebracht: Die Reden auf der Kundgebung der Rostocker Demo wären der Erwähnung nicht Wert gewesen, denn ein SPD-Parteitag hätte bis auf wenige Ausnahmen in den Reden von Walden Bello und Werner Rätz ähnlich Erquickendes geliefert.

Es war erholsam, als die Busse der Gewerkschaften und der Linkspartei am Abend der Auftaktdemo abreisten. Denn es machte den Eindruck, als versammelten sich im Camp Reddelich die Gruppierungen, die mehr wollten, als nur reinen Demotourismus zu betreiben. Auch attac war im Camp kaum präsent, was ich im Gegensatz zu Werner eher als Bereicherung denn als Mangel empfunden habe (vgl. seinen Beitrag in diesem Heft). Von Beginn an fanden sich hier Gruppierungen zusammen, die auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens weniger Wert legten und diverse politische Aktionsformen nebeneinander begrüßten. Die Vielfalt im Camp drückte sich durch die verschiedenen barrios (Viertel) aus. So befand sich das anarchist-barrio direkt neben dem family-barrio und in die Jahre gekommene Familienmütter schnackten beim Frühstück angeregt mit Punks oder Leuten aus dem Queer-barrio über die Bewertung der politischen Lage. Das schien auch die BewohnerInnen des mecklenburgischen Hinterlandes zu erquicken, die immer wieder mit ihren Kindern durch das Camp schlenderten und neugierig die Szenerie inspizierten. 

Die Organisation im Camp lief hervorragend und offenbarte ein hohes Maß an Erfahrung in Sachen Selbstverwaltung. Eigentlich hätte man/frau sich dort den ganzen Tag über beschäftigen können und zwischen Barrikaden-Workshop, Security-Plenum zur Campbewachung, Radio-Werkstatt, Mithilfe in einer der vier Volksküchen oder einem Erste-Hilfe-Kurs hin- und herwechseln können. Abends wurde dann an der Bar über die Zukunft einer neuen Gesellschaft philosophiert. Ich erinnere mich an ein Transparent bei der Demo in Rostock, auf dem stand: „Kapitalismus ist eine todernste Sache“. Im Camp schienen sich allerdings alle einig zu sein, dass man/frau die bestehenden Verhältnisse zum Tanzen bringen wolle. Eine Revolution, auf der nicht getanzt wird, ist nicht die unsere! Die Medienberichterstattung, der man/frau sich am InfoPoint regelmäßig widmen konnte, tat der Stimmung keinen Abbruch. Es herrschte keine Bereitwilligkeit, sich der medialen Logik anzupassen. Medienvertreter mussten sich am Campeingang anmelden und waren bis auf wenige Ausnahmen nicht erwünscht. 

Trotz der familiären Atmosphäre machten sich täglich zahlreiche AktivistInnen auf den Weg in die bitterernste Wirklichkeit, um den Aktionen außerhalb des Camps personelle Präsenz zu verleihen. Bemerkenswert war dabei, dass beispielsweise die Demonstration am Montag (4. Juni) zum Thema Migration mit 10000 TeilnehmerInnen, darunter ca. 3000 AnhängerInnen des Schwarzen Blocks, den Leuten inhaltlich mehr am Herzen lag, als die bedenklichen Aktionen am folgenden Tag gegen Militarismus und Krieg, die stark von Antiamerikanismus und Antizionismus geprägt waren (ca. 500 TeilnehmerInnen). Daraus lässt sich aus meiner Sicht eine inhaltliche Orientierung ablesen, die meinen Eindruck von den Camps bestätigt. Vielleicht hätten sich die voreiligen Distanzierer einmal fragen sollen, warum ausgerechnet am Montag der Schwarze Block sich penibel an die Absprachen der Demoleitung gehalten hat (es waren u.a. illegalisierte MigrantInnen anwesend), obwohl die Polizei die DemoteilnehmerInnen ca. drei Stunden nicht weiter gehen ließ und letztendlich die Demonstration widerrechtlich auflöste. An der Stelle, wo die Polizei den Demozug stoppte, gab es eine Polizeipräsenz, die über eine „normale“ Demosicherung weit hinaus ging. Es ist davon auszugehen, dass die Provokation eine neue Eskalation herbeiführen wollte. Doch dieses Mal gab es kein Spektakel. Die Medien schenkten der Demonstration denn auch keine Aufmerksamkeit. 

Die gelungene Blockadeaktion am Mittwoch zeigte einmal mehr, dass die unterschiedlichen Spektren durchaus miteinander kooperieren konnten, mit oder ohne attac. Die Absprachen über die Blockaden am Vorabend gingen bis spät in die Nacht und versuchten alle Eventualitäten durchzuspielen. Es herrschte eine angespannte Stimmung und der Alkoholausschank an den Bars wurde eingestellt. Unter dem Organisationskonzept „Paula“ vereinigten sich all jene, die dezentrale Aktionen jenseits der auf friedlichen, zivilen Ungehorsam beruhenden Block-G8-Kampagne durchführen wollten. Diese Abstimmung der Strategien klappte hervorragend, so dass sich im nachhinein auch Leute positiv zu den Blockaden äußerten, die die Bewegung am Samstag bereits tot gesagt hatten.

Insgesamt war ich sehr angetan von dem politischen Klima in den Camps. Um das Verhältnis von Theorie und Praxis zu bestimmen, reichen Theorieseminare allein nicht aus. Radikale Politik ist und bleibt ein stetes Experimentierfeld, über dessen Erfolg oder Versagen immer erst a posteriori entschieden werden kann. Solange man/frau die Regierungschefs der G8 nicht zur alleinigen Projektionsfläche seiner/ihrer Kritik machte und der Gipfel lediglich ein willkommener Anlass für eine Propagierung linker Kapitalismuskritik war – machte das Ganze Sinn. Und dafür sollten derartige Anlässe auch weiterhin genutzt werden. Auch von Seiten antikapitalistischer oder antideutscher Strömungen innerhalb der Linken.