Am 4. Juli 2010, eine Woche nach seinem Tode in Santiago de Chile, wurde die Asche von Luis Vitale Cometa von einer Klippe über dem Pazifischen Ozean aus in den Wind gestreut. Der Ort dieser Zeremonie war Lota, eine südlich von Concepción gelegene Stadt mit Kohleabbau direkt am Meer, deren Bergleute immer zu den besonders kämpferischen Sektoren der chilenischen Arbeiterbewegung gehört hatten. Mit dieser Arbeiterbewegung war Luis Vitale (Lucho) Zeit seines Lebens eng verbunden: als ihr herausragender Historiker, als Organisator von Gewerkschaften und Basisgruppen, als prominentes Mitglied verschiedener Gruppierungen und Parteien der revolutionären Linken.
Zum Abschied von Lucho im Pavillon 83 des stillgelegten Kohlebergwerks hatten sich neben seinen persönlichen FreundInnen und Familienangehörigen VertreterInnen von Organisationen zusammengefunden, die einander sonst wegen alter Bitterkeiten eher aus dem Wege gehen. Es wehten die schwarzroten Fahnen des MIR, viele der alten trotzkistischen GenossInnen Vitales waren anwesend, die Kommunistische Partei Chiles war ebenso offiziell vertreten wie die cubanische KP. Der linkssozialistische Bürgermeister von Lota bekannte sich als früherer Student des Verstorbenen, ein kommunistischer Leidensgefährte erinnerte an die Zeit im Konzentrationslager von Chacabuco. Die aus Kolumbien angereiste Tochter Laura erzählte vor allem von der Kindheit und Jugend ihres Vaters, den sie in seinen letzten Lebensmonaten begleitet hatte. Sie erschien im Kreise einer Frauengruppe aus Lota, mit der sie selbst früher gearbeitet hatte.[fn]Laura Vitale hat mir den Text dieser Rede zugänglich gemacht und mir dankenswerterweise einige Fragen zur Biographie ihres Vaters beantwortet.[/fn] Schon bei der Aufbahrung und Einäscherung in Santiago waren Abordnungen der Aymara und Mapuche in Erscheinung getreten, die mit Ritualen in den eigenen Sprachen von Luis Vitale Abschied nahmen.
Luis Vitale wurde 1927 in Maza (Provinz Buenos Aires) geboren, Sohn eines aus Sizilien eingewanderten Tischlers und einer argentinischen Volksschullehrerin. An der Universität von La Plata war er Schüler des bekannten Historikers José Luis Romero und wurde dessen Assistent, zugleich engagierte er sich in der trotzkistischen Partei POR (Partido Obrero Revolucionario – Revolutionäre Arbeiterpartei), die ihn schon 1954 nach Chile entsandte. Dort konnte er unter Anleitung des erfahrenen Gewerkschaftsführers Humberto Valenzuela (ebenfalls Trotzkist) Erfahrungen in der praktischen Organisationsarbeit sammeln, er gründete selbst eine Gewerkschaft von Angestellten im Gesundheitswesen. Den Internationalisten faszinierte die Revolution im benachbarten Bolivien, sicher auch wegen der trotzkistischen Orientierung der prestigereichen Bergarbeitergewerkschaft. Zusammen mit der Ärztin für Neurologie, Micha Lagos, die er bald nach seiner Ankunft in Chile geheiratet hatte, reiste Luis Vitale Ende 1954 nach La Paz, um sich direkt mit den dortigen Entwicklungen vertraut zu machen. Seit einer kleinen Schrift über Doppelherrschaft in Bolivien (1955) blieb sein Interesse an diesem Land lebendig.
Aber seine neue Heimat wurde Chile, dessen Staatsbürgerschaft er 1959 erwarb. Dort verankerte er sich in der Gewerkschaftsbewegung: Nach einer Zeit an der Spitze der ChemiearbeiterInnen gelangte er in das Führungsgremium der linken Einheitsgewerkschaft CUT und arbeitete dort eng mit dem legendären Arbeiterführer Clotario Blest zusammen, mit dem ihn trotz unterschiedlicher ideologischer Herkunft ein fester Glaube an das revolutionäre Potential der organisierten Arbeiterbewegung verband. Probe aufs Exempel war damals die Verteidigung der cubanischen Revolution: Die CUT organisierte eine Kampagne gegen den Abbruch der diplomatischen Beziehungen Chiles zu Cuba und geriet selbst in den Bereich politischer Verfolgungsmaßnahmen. Wegen der Herstellung umsturzverdächtiger Schriften in einer eigenen kleinen Druckerei wurde Luis Vitale 1963 für 541 Tage nach Curepto, einem abgelegenen Dorf in Mittelchile, verbannt.
Gerade in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit erfuhr Vitale, wie sehr es an einer alternativen Geschichte Chiles mangelte, die der Legendenbildung der Herrschenden entgegenwirken konnte. Schon 1962 veröffentlichte er eine kurze Geschichte der chilenischen Arbeiterbewegung, aber sie war nur eine Vorstufe für eine weit umfangreichere Publikation, die ihn für die kommenden Jahrzehnte beschäftigen und seinen Ruf als Historiker begründen sollte: die „Marxistische Interpretation der Geschichte Chiles“, deren erster Band 1968 in Santiago erschien. Mehr als bloß bekannte Fakten mit marxistischen Kategorien zu interpretieren, hat Luis Vitale die Geschichte Chiles in großen Teilen neu geschrieben und in ihren Zusammenhängen verständlich gemacht. Seine Arbeit fußt auf ausgedehnten eigenen Quellenstudien in den Archiven, die zur Klärung mancher offener Fragen beitragen konnten. Die Überlegenheit gegenüber der vorherrschenden zumeist nationalistisch-chauvinistischen Geschichtsschreibung erweist sich in der Einbettung der Geschichte Chiles in den Zusammenhang der globalen Entwicklung des Kapitalismus.
Doch der Historiker wollte selbst in die neueste Geschichte Chiles eingreifen: Er beteiligte sich 1965 an der Gründung einer neuen Partei, die alle Kräfte zusammenfassen wollte, die sich am Beispiel der kubanischen Revolution orientierten und deshalb für die Vorbereitung des bewaffneten Aufstands entschieden. Die Gründung des MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria – Bewegung der Revolutionären Linken) fällt schon in die Zeit der Präsidentschaft des Christdemokraten Eduardo Frei, der eine „Revolution in Freiheit“ proklamierte, um der „kommunistischen Gefahr“ vorzubeugen. Luis Vitale verfasste 1964 eine brilliante Analyse, „Wesen und Erscheinung der chilenischen Christdemokratie“, und zeigte darin auf, wie sich bei Frei eine pseudorevolutionäre Rhetorik mit einer im Kern reaktionären und proimperialistischen Politik verband. Der MIR bereitete sich darauf vor, einem solchen Projekt mit bewaffnetem Widerstand zu begegnen, eine Linie, die Vitale teilte und öffentlich verteidigte. Dennoch wurde er mit anderen Trotzkisten im Juli 1969 im Zuge undemokratisch ausgetragener innerer Machtkämpfe aus dem MIR ausgeschlossen.[fn]Die Geschichte der inneren Machtkämpfe hat Luis Vitale später aus seiner Sicht aufgezeichnet. Das Dokument „Contribución a la historia del MIR (1965-1970)“ findet sich in der Sammlung seiner Schriften im Internet (siehe Kasten)[/fn]
Seit 1967 widmete sich Luis Vitale vor allem seiner Lehrtätigkeit an mehreren Universitäten: an der Universidad Técnica del Estado und der Universidad de Chile in Santiago sowie auch an der Universidad de Concepción. Trotz des Herannahens eines schon vielfach angekündigten Putsches wollte er auch 1973 nicht auf langfristig angelegte Arbeit verzichten, die mit Rückgriff auf die Geschichte auf eine nachhaltige Bewußtseinsveränderung zielt. Ich erinnere mich an eine Zusammenkunft Luchos mit einigen HistorikerInnen, PhilosophInnen und SoziologInnen der Universität Concepción, an der ich damals als Professor tätig war, wenige Tage vor dem Militärputsch. Wir diskutierten ein Konzept Vitales, wie man das Aufgabenfeld des chilenischen Nationalarchivs durch Einbeziehung von „oral history“ erweitern könnte, so dass mündliche Zeugnisse der noch lebenden Arbeiterveteranen aufgezeichnet und aufbewahrt werden könnten.
Mit dem Putsch Pinochets begann eine vierzehn Monate währende Leidenszeit von Luis Vitale, der am 12. September 1973 den Schergen der Diktatur in die Hände fiel und durch neun Folterzentren geschleift wurde, bevor er im Juni 1974, mitten im chilenischen Winter, in das Konzentrationslager Chacabuco in der Atacama-Wüste kam.[fn]Nach seiner Befreiung hat Luis Vitale über diese Leidenszeit und die Foltermethoden der Militärs einen beeindruckenden Bericht geschrieben: „Chile. La vida cotidiana en los campos de concentracion“ (auch im Internet, siehe Kasten)[/fn] Dort wurde der Lagerhäftling bald zum Geschichtslehrer seiner Mitgefangenen. Die chauvinistischen Militärs haben es Vitale nie verziehen, dass er die Geschichte Chiles im Sinne der Unterdrückten neu geschrieben hat, auch deshalb war seine Befreiung schwer zu erreichen. Internationale Kampagnen forderten seine Freilassung, aber erst im November 1974 gelangte Luis Vitale mit dankenswerter Unterstützung der bundesdeutschen Botschaft nach Frankfurt am Main.
Es begann eine lange Zeit des Exils, zuerst in Frankfurt, wo Vitale vom Februar 1975 bis Februar 1977 an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Lehraufträge wahrnehmen konnte. Deutsche FreundInnen in Chile sicherten die Vorarbeiten zum 4. Band seiner Geschichte und schmuggelten sie aus dem Lande heraus, so dass er sein begonnenes Werk fortsetzen konnte. Gerade in diesem Band über die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, der zuerst in Frankfurt erschien, entlarvt Luis Vitale viele Heldenmythen, er zeigt das Zusammenspiel der einheimischen herrschenden Klassen mit dem Auslandskapital und erklärt, wie die Expansion des Territoriums des chilenischen Staats auf Kosten seiner Nachbarn Bolivien und Peru und der eigenen UreinwohnerInnen südlich des Bio-Bio möglich wurde.
Während seiner Zeit in Deutschland war Luis Vitale viel unterwegs, um gemeinsam mit anderen Exilierten und deutschen FreundInnen die Lehren aus der chilenischen Niederlage zu diskutieren. Für ihn, einen eher mit der traditionellen Arbeiterklasse und den ElendsviertelbewohnerInnen vertrauten Intellektuellen, war zweifellos die Begegnung mit den „neuen“ sozialen Bewegungen in Europa wichtig: der Frauenbewegung, die gerade in dieser Zeit erstarkte, aber auch der damals ins Politische ausgreifenden Umweltbewegung. Trotzdem zog es ihn nach Lateinamerika zurück, die Sprachbarriere des Deutschen kam hinzu, und so wurde für mehrere Jahre Venezuela sein nächstes Exilland, als sich dort Arbeitsmöglichkeiten an der Universität für ihn boten.
Den langen Aufenthalt in einem anderen lateinamerikanischen Land als Chile nutzte Luis Vitale vor allem zu vergleichenden Studien, in denen er den Subkontinent im Ganzen zu erfassen suchte. So entstand eine neunbändige allgemeine Geschichte Lateinamerikas (Caracas 1984), die bei fachkundigen Kollegen schon deshalb Anerkennung fand, weil hier übergreifende methodische Probleme und Fragen der Periodisierung von einem Autor erörtert wurden, der zugleich über solide historische Kenntnisse fast aller behandelten Länder verfügte. Allerdings sind einem einzelnen Forscher hier auch Grenzen gesetzt: Das enzyklopädische Überblickswerk konnte sich nicht im selben Maße auf eigene Quellenstudien stützen wie seine Geschichte Chiles, an der Luis Vitale glücklicherweise weitergearbeitet hat, so dass sie nun der Nachwelt abgeschlossen und in Teilen überarbeitet vorliegt, als das eigentliche Kernstück seiner historischen Schriften. In seinem Gastland Venezuela machte sich Vitale nicht nur mit den sozialen Bewegungen auf dem Lande vertraut, er war auch manchen Kolleginnen und Kollegen von der historischen Zunft ein wertvoller Ratgeber bei sozialgeschichtlichen Forschungen. Er selbst verfasste ein erstes Porträt eines bedeutenden linken Politikers und Theoretikers in Venezuela, Salvador de la Plaza, über den die deutsch-venezolanische Historikerin Dorothea Melcher an der Universität Mérida zur Zeit eine umfassende Biographie vorbereitet.
Mitte der achtziger Jahre wurde mit dem Niedergang der Pinochet-Diktatur eine Rückkehr nach Chile möglich, Luis Vitale hat sie mit längeren Zwischenaufenthalten in Mexiko, Kolumbien und seinem Herkunftsland Argentinien bewerkstelligt. Eine eigentlich verdiente privilegierte Aufnahme in Chile wurde ihm ebenso wenig zuteil wie anderen Kollegen, die aus dem Exil zurückkehrten. Immerhin wurde ihm 1990 seine chilenische Staatsbürgerschaft wieder zuerteilt. Aber in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten kehrte Luis Vitale nicht in die aktive Politik Chiles zurück, auch nicht in die Enge trotzkistischer Kleinparteien, und seine radikale Abneigung gegen die gewendeten früheren Linken in der Concertación, die die Wirtschaftpolitik Pinochets fortsetzten, fand eher in kritischen Artikeln als in einer neuen politischen Praxis ihren Niederschlag. Allerdings verzichtete er nicht auf Basisarbeit in den Elendsvierteln, und auch nach seinem Ausscheiden aus der akademischen Routine blieb eine lebendige Beziehung zu vielen Studentinnen und Studenten erhalten, die ihn als ihren Lehrmeister nicht loslassen wollten. Unter seinen weitgespannten Arbeiten überwiegen jetzt Studien, die das Schicksal der neuen sozialen Bewegungen auf der Ebene des ganzen Lateinamerika behandeln: er schrieb viel über die Geschichte der Frauen in Lateinamerika, über Umweltzerstörung,[fn]1983 publizierte Vitale eine Umweltgeschichte Lateinamerikas, die 1990 in Deutsch erschien: Umwelt in Lateinamerika. Die Geschichte einer Zerstörung, ISP-Verlag, Frankfurt/M.[/fn] schließlich auch länderübergreifend über die indigenen Völker des Subkontinents, denen er sich auch in seinen Forschungen immer mehr zugewandt hat.
Was lateinamerikanische Identität bedeutet, wollte er in eini-gen seiner letzten Schriften gern an der Musik und der Literatur festmachen. Er kehrt nun in seinen Reflexionen zum Tango zurück, der für den jungen Luis in Buenos Aires der bessere Teil seines Lebens war. Und ein wenig auch zum Anarchismus, wie er im Vorwort zu einer Geschichte des Anarchismus in Lateinamerika offenbart: „Ich erlaube mir ein persönliches Bekenntnis: mit diesen Seiten war ich bemüht, eine Schuld abzutragen, die ich vor einem halben Jahrhundert gegenüber dem Anarchismus eingegangen bin, denn ich war als Student in seinen argentinischen Reihen aktiv. Ich habe ihn für den historischen Materialismus aufgegeben, denn der Anarchismus gab mir keine Methodologie und keine adäquate Interpretation weder der Geschichte noch der Politik. Aber ich habe mir bis heute jenen libertären Elan bewahrt, der mich befähigt hat, niemals das Rückgrat vor den gewerkschaftlichen und politischen bürokratischen Apparaten zu verbiegen – und vor allem in den neun Folterzentren und Konzentrationslagern zu überleben, in denen mich die Diktatur eingekerkert hatte. Und ich konnte mit mehr Kraft als zuvor herauskommen, denn ich versuchte in der nackten Zelle kleine Räume der Freiheit zu finden, von jener, die der Anarchismus mir gab, als ich noch jung war, und an der ich heute, weniger jung, festhalte.“[fn]Contribución a una historia del anarquismo en América Latina, Santiago 1998, S.1, ebenfalls zugänglich im Internet (siehe Kasten S. 61)[/fn]
Luis Vitale hat sich am Ende seines Lebens als libertären Marxisten bezeichnet. Die Auflösung eines nur scheinbaren Widerspruchs in dieser Bezeichnung liegt in der Rückwendung zu den Idealen seiner Jugend als Ergebnis eines langen Lebensweges. Diese Jugend- und Altersweisheit, die ihm bis zum Ende Kraft gab, wird sicher seinen Tod überdauern.