Alle fragen sich, warum Ecuador scheinbar über Nacht so von Gewalt erschüttert wurde. Du aber sagst, wir sehen hier keine ganz neue Krise, sondern eine mit einer sehr langen Vorgeschichte. Warum?
Als 1492 die „Moderne“ auf dem Territorium der „Amerikas“ ankam und das Kolonialsystem eingeführt wurde, war das vielen lateinamerikanischen Denker*innen zufolge der Grundstein des kapitalistischen Weltsystems. Die Kolonialzeit war ein Ausbeutungssystem, das etwa drei Jahrhunderte andauerte, bis zur Unabhängigkeit von der spanischen Krone. Die neuen Republiken bauten auf den rassistischen und patriarchalen Strukturen auf, die während der Kolonialzeit etabliert wurden. Die Machtkonzentration im 1830 gegründeten Ecuador richtete sich nach den Interessen der Oligarchie. Es ging um die Kontrolle über das Land, um Ressourcen auszubeuten.
Die Ungleichheit in Ecuador hat historische Wurzeln, aber sie hat sich an der Küste und im Hochland unterschiedlich entwickelt, oder?
Ja, und im Zentrum steht der Zugang zum Land. Die Haciendas, die großen Landgüter, haben über Jahrhunderte die Wirtschaftsstruktur Ecuador geprägt. Im Hochland gab es die Figur des „Huasipungo“. Das ist eine Form, die Arbeitskraft der „indios“ auszubeuten: Im Gegenzug für die Arbeit für die Gutsbesitzer*innen „durften“ sie ein Stück Land bewirtschaften. In der Küstenregion war eine andere Form der Hacienda prägend. Hier wurden Arbeiter ausgebeutet, zwar gegen Lohn, aber immer abhängiger von den Gutsbesitzer*innen. Diese beiden Produktionsformen prägen die Beziehungen der ecuadorianischen Gesellschaft zum Staat – im Hochland anders als in der Küste.
Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen den beiden Regionen besteht im politischen Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft. Im Hochland hat sich nämlich eine Indigenenbewegung entwickelt. Die Gründung der ECUARUNARI (indigener Dachverband des Hochlands), der COFENAIE (indigener Dachverband des Amazonasgebiets) und schließlich der CONAIE (indigener Dachverband auf nationaler Ebene) in den 1980er-Jahren markiert einen Wendepunkt im politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben Ecuadors.
Auch dank der erstarkten Indigenenbewegung gab es dann um die Jahrtausendwende Versuche, diese historische Ungleichheit strukturell zu verändern. 1998 und 2008 hat sich Ecuador neue, progressive Verfassungen gegeben. Warum haben sie nicht die erhofften Veränderungen gebracht?
Wenn wir sagen, dass die lateinamerikanischen Staaten aus kolonialen Strukturen entstanden sind, dann meinen wir eine institutionelle Struktur, die die historischen Herrschaftsverhältnisse von einer Klasse über eine andere wiederspiegelten. Dazu kommt ein latenter Rassismus. Das drückt sich in der Politik aus, die unsere Gesellschaft reguliert. Deswegen ist es nachvollziehbar, dass soziale Bewegungen und die Wissenschaft dafür plädieren, die Staaten auf einem anderen gesellschaftlichen Fundament ganz neu zu gründen.
Diese Verfassungsprojekte sind ein Sieg der sozialen Bewegungen. Ihre Forderungen finden sich hier wieder. Die Verfassung von 2008 erkennt Ecuador als „plurinationalen und interkulturellen Staat“ an. Das ist eine wichtige Grundlage für die Neugründung eines Staates. Aber wir haben auch gesehen, dass das eben nicht reicht.
Wenn Analyst*innen versuchen, die aktuelle Krise zu erklären, wird als Grund oft die Schwäche der staatlichen Institutionen herangezogen. Was ist damit gemeint?
Ecuador ist ein hochzentralisierter Staat, politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Politisch, weil alle staatliche Macht in Quito und Guayaquil konzentriert ist. Lokalregierungen haben wegen ihrer Abhängigkeit von der Zentralregierung wenig Handlungsspielraum, um Grundbedürfnisse wie Wasser, Strom und Infrastruktur zu befriedigen. Wirtschaftlich, weil wir eine Rohstoffexportökonomie sind: Öl, Bananen, Garnelen. Große Unternehmen bestimmen weitgehend politische Entscheidungen. Sozial, weil fehlende Investitionen in Gesundheit und Bildung dazu führen, dass wir die Transformation hin zu einer breit gefächerten Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft nicht schaffen. Das würde der verarmten Bevölkerung Perspektiven bieten.
Schließlich wurde in den letzten Jahren Protest grotesk kriminalisiert. Führungspersonen von sozialen Bewegungen wurden des Terrorismus beschuldigt. All das hat den sozialen Zusammenhalt geschwächt.
Was ist neu an dieser Krise?
Der Konflikt betrifft verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedlich. Zu den am meisten Gefährdeten gehören Frauen und die populare[fn]Popular meint etwa „Volks-„ oder „einfache Leute“. Hier schwingt aber auch das Verständnis einer gemeinsamen Kultur der Gemeinschaftlichkeit mit.[/fn] Bevölkerung, die „Armen“. Nach einer Erhebung von der Stiftung Fundación Aldea gab es im Jahr 2023 321 Femizide, von denen 172 direkt mit der organisierten Kriminalität zusammenhingen. Das sind Frauen und Mädchen, die von Auftragsmördern umgebracht werden oder in Schießereien sterben. Und die Justiz tut nichts für die Opfer.
Außerdem wurde der Konflikt als tief rassistisches Instrument genutzt, um Armut zu kriminalisieren, während die, die wirklich hinter der Narcoökonomie stecken, ungeschoren davonkommen. Laut offiziellen Statistiken gab es in den ersten Monaten dieses Jahres 11 000 Festnahmen bei Sondereinsätzen zur Bekämpfung des Konflikts. Die meisten fanden in popularen Vierteln in Esmeraldas, Guayaquil, Durán, Machala und Santo Domingo statt. Die bewaffnete und auch die mediale Strategie konzentrieren sich darauf, die schwächsten Glieder des Narco-Geflechts zu kriminalisieren: die Populare, die Schwarze, die Chola[fn]Chola ist ein abwertender Begriff für eine Frau der unteren Klasse aus dem Hochland, oft indigen und/oder vom Land. Charakteristisch sind weite, bunte Röcke. „Cholas“ eignen sich den Begriff aber auch selbstbewusst an.[/fn], die India[fn]India ist ein abwertender Begriff, der eine indigene Frau bezeichnen soll.[/fn], die informelle Arbeiterin, die Arme. Die Narco-Bourgoisie am oberen Ende der Nahrungskette ist fein raus.
Warum hat sich die Lage gerade in den letzten Jahren so zugespitzt?
Die letzten Regierungen haben durch ihre neoliberale Politik den Staat geschwächt. Das hat ideale Bedingungen für diese Eskalation der Sicherheitskrise geschaffen. Aber das Problem der illegalen Ökonomien und der para-staatlichen Strukturen, die sie geschaffen haben, geht noch weit darüber hinaus und ist wesentlich komplexer. Sie entstehen in einem globalen geopolitischen Kontext und zeigen die Krise des kapitalistischen Systems. Es wird zu wenig über Großunternehmen gesprochen, die mit internationalen Kartellen und kriminellen Banden in Ecuador zusammenarbeiten, um ihre Produktion breiter aufzustellen – unabhängig davon, ob diese Aktivitäten legal sind. Und ein weiterer Faktor sind die globalen Drogenhandelsrouten, die sich aktuell nach Ecuador verlagert haben.
Siehst du eine Perspektive für ein Ecuador nach dem bewaffneten Konflikt?
2025 wird ein Jahr der politischen Entscheidungen. Die Präsidentschaftswahl ist meiner Meinung nach eine Chance für das Land, um einen neuen Weg einzuschlagen. Aber für ein Nachkonfliktszenario braucht es vor allem Strategien, Frieden zu schaffen. Und nach meiner Erfahrung sollten wir da nicht zuviel Hoffnung auf den Staat setzen. Am Nachbarland Kolumbien sehen wir, dass es immer möglich ist, Frieden zu schaffen, aber dafür braucht es Ausdauer. Viele Friedensinitiativen kommen von sozialen Organisationen und Gemeinden. In Guayaquil haben zum Beispiel Frauen nachbarschaftliche Sicherheitsnetzwerke aufgebaut, um ihre Kinder zu schützen. An der nördlichen Grenze gibt es Friedensschulen, eine Reaktion auf einen Konflikt, den es in der Grenzregion schon seit Jahrzehnten gibt. Am Ende erhalten genau diese gemeinschaftlichen Räume das Leben aufrecht. Man sollte ihnen das politische Gewicht geben, das sie verdienen.