Der Kampf für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen, die so genannten WSK-Rechte, ist relativ jung. Wie hat er sich in Lateinamerika entwickelt?
Lateinamerika begann seine Unabhängigkeit im Gewand der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die die Franzosen Ende des 18. Jahrhunderts proklamierten. Aber über lange Zeit hatten diese Bürgerrechte nur einen formalen Charakter, sie wurden lediglich deklariert. Die Staaten garantierten keine Mittel für ihre Umsetzung. Was die sozialen Rechte betrifft, war dies noch ausgeprägter als in Bezug auf die politischen und bürgerlichen Rechte.
Erst vor wenigen Jahren kehrte nach einer langen Nacht von Diktaturen und Bürgerkriegen die Demokratie nach Lateinamerika zurück. In den Mittelpunkt dieses Prozesses wurden die Menschenrechte gestellt, als eine Art Garantie, die bitteren Erfahrungen der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Aber zur gleichen Zeit drückte man der Region das neoliberale Modell auf. Dabei zählte man auf die willfährige Zusammenarbeit der lokalen Amtsträger. Betriebe wurden privatisiert, Industrien dicht gemacht und Millionen Hektar Ackerland nicht mehr bebaut, weil die einheimischen Wirtschaftszweige der Öffnung zum Weltmarkt nicht standhalten konnten. Dieser verursachte ihren Ruin. Gleichzeitig nahm der Staat von seinen Sozialverpflichtungen Abstand. Die Armut, die von jeher Bestandteil der lateinamerikanischen Landschaft war, wuchs mit einer Geschwindigkeit, wie Pilze aus dem Boden schießen.
Es scheint paradox, aber das Erwachen der Demokratie vollzog sich parallel zu dieser schnellen Steigerung der Armut. Dies erzeugte ein allgemeines Gefühl von Frustration. Die Demokratie schien nur ein Mittel zu sein, um das gute Abwickeln der Geschäfte abzusichern. In diesem Zusammenhang bekam der Kampf für die Menschenrechte und für bessere Lebensbedingungen eine neue Bedeutung. Die sozialen Rechte bekamen Dringlichkeitscharakter.
Wer verschreibt sich diesem Kampf?
Lange Zeit war die Sorge für die Menschenrechte nur eine Sache einer Minderheit, von AktivistInnen. Das begann sich zu ändern, als sich die Opfer organisierten, um ihre Rechte zu reklamieren. Exemplarisch dafür sind die Mütter und die Großmütter der Plaza de Mayo in Argentinien. Diese Perspektive – die aus dem Blickwinkel der Opfer – ist im Fall der sozialen Rechte noch gültiger. In der Tat müssen gerade diejenigen, die ihrer Rechte beraubt wurden, den Kampf um diese Rechte führen. In dieser Rolle kann sie niemand ersetzen. Das Bewusstsein, Rechte zu haben, breitet sich bei den sozialen Bewegungen in Lateinamerika aus. Ihre Kämpfe werden durch dieses Bewusstsein bereichert.
Es gibt einen Perspektivenwechsel: Früher wurden die Forderungen aufgrund konkreter Bedürfnisse oder Mangelsituationen – z.B. fehlendem Land – definiert, heute werden sie aus der Perspektive von Rechtssubjekten, von Menschen mit Rechten, erhoben. Von diesem Standort aus wird eine Verbesserung der Lebensqualität eingefordert. Aber die Basisorganisationen sind dabei nicht allein. Das Thema der sozialen Rechte hat mittlerweile Raum in Universitäten, bei Fachleuten und den Kirchen gewonnen. Aber die gesamte Gesellschaft muss sich dieses Problems annehmen. Sie kann es nicht als ein Naturereignis hinnehmen, dass Millionen von Menschen in Lateinamerika unmenschlichen Lebensbedingungen unterworfen sind.
Heute wissen also die sozialen Organisationen, dass es ein Recht auf Gesundheit oder auf Erziehung gibt. Aber für die Neoliberalen haben sogar Gesundheit oder Erziehung einen Warencharakter. Sind diese zwei Sichtweisen miteinander vereinbar?
Das ist in der Tat ein enormes Hindernis für die Verwirklichung der WSK-Rechte in Lateinamerika. Einige Leute vertreten, dass die Menschenrechte unabhängig vom sozialen und politischen Regime umgesetzt werden können, denn alle Staaten haben sich verpflichtet, sie zu garantieren. Meiner Meinung nach ist diese Position nicht haltbar. Wenn ein politisches Regime – nehmen wir als Beispiel das Nazi-Regime – Gruppen von Menschen zu „Untermenschen“ macht, zu Menschen, die keinen Wert und keine Rechte haben, dann können in einem solchen Regime bürgerliche und politische Rechte nicht verwirklicht werden. Ähnlich ist das mit der Konzeption von Staat und Gesellschaft, die der Neoliberalismus auferlegt hat.
Für den Neoliberalismus sind die Menschen in erster Linie KonsumentInnen, und es ist der Markt, der ihnen Güter, Dienste und Chancen zuteilt. Diese werden je nach Zugangskapazität verteilt. Wer keine Mittel hat, hat auch keinen Zugang zu Gütern, Diensten und sonstigem, was ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Das sind die VerliererInnen, die desechables, die Menschen zum Wegwerfen, die für die Müllhalde. Man tut so, als ob sie dieses Los verdient hätten. Das ist eine Art blinder Mechanismus, der weder Gleichheit noch Solidarität kennt, sondern nur die Freiheit des Marktes.
Deshalb sind eine Gesellschaft und ein Staat, die alles der Dynamik des Marktes überlassen, mit den Prinzipien der sozialen Menschenrechte unvereinbar. Diese Prinzipien setzen eine Gesellschaft voraus, die danach strebt, Ungleichheit zu überwinden. Es wird unmöglich sein, ein akzeptables Niveau der Verwirklichung der Menschenwürde zu erreichen, wenn nicht der Neoliberalismus als herrschendes Dogma abgebaut wird. Wenn das nicht passiert, werden die Legionen der „Überzähligen“ und derjenigen, die weder einen Platz in der Produktion noch im Markt haben und ihrer Würde beraubt von den Abfällen der Welt leben, weiter wachsen.
In Deutschland zeigt sich die soziale Krise an massiver Arbeitslosigkeit, zunehmender Kinderarmut oder der Privatisierung von Uni-Kliniken. Aber hier identifiziert man das nicht als ein Menschenrechtsproblem…
Klar, das ist nicht nur in Deutschland so, sondern auch in Lateinamerika und vermutlich überall auf der Welt. Das Neue in den entwickelten Ländern ist, dass sie heute ihren eigenen Süden haben. Und dieser Süden bezieht sich nicht nur auf die MigrantInnen. Dazu gehören auch Einheimische, die durch das soziale Netz gefallen sind. Auch für sie ist es wichtig zu lernen, dass sie Rechtssubjekte sind und nicht nur NutznießerInnen eines assistentialistischen Staates.
Um die Arbeit für die WSK-Rechte besser zu verstehen: Was macht die Plattform?
Die Interamerikanische Plattform für Menschenrechte, Demokratie und Entwicklung entfaltet sehr unterschiedliche Aktivitäten. Zum großen Teil gehorchen sie den Bedingungen jedes Landes, in dem die Sektionen arbeiten. Aber es gibt auch Gemeinsames, wie zum Beispiel das Monitoring der staatlichen Verpflichtungen durch die Alternativberichte für das WSK-Komitee der UNO, thematische Regionalberichte oder Missionen. Die Plattform hat zusammen mit anderen Netzwerken auch Strategien weiterentwickelt, um die sozialen Rechte einfordern zu können. Diese kombinieren gerichtliche Schritte und sozialen und politischen Druck. Auf der Lobbyebene haben wir angeregt, dass Nationale Menschenrechtspläne formuliert werden, woran Basisorganisationen, akademische Zentren und zivilgesellschaftliche Organisationen beteiligt sind. Auch interveniert die Plattform als Teil einer Koalition in Sachen Fakultativprotokoll des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Durch die Ausbildung von Aktivistinnen und Erziehungsarbeit, die zusammen mit sozialen Organisationen durchgeführt wird, soll eine „Kultur von Rechten“ gestärkt werden.
Ein konkretes Beispiel, um die Arbeit zu veranschaulichen?
Die Plattform hat Kampagnen für bestimmte Rechte organisiert. Zur Zeit führt unsere peruanische Sektion eine Kampagne für das Recht auf Wasser durch. Dafür hat sich ein Bündnis gegründet, an dem sich Gewerkschaftsverbände, Bauernorganisationen, Verbraucherorganisationen und NRO beteiligen. Dieses Bündnis hat eine Untersuchung über Wasser und den Zugang dazu initiiert, was für Peru eine Angelegenheit von vitaler Bedeutung ist. Ziel ist dabei eine öffentliche Politik, die das Recht auf Wasser garantiert. Auch werden landesweit sog. Ferias del Agua, Wasser-Jahrmärkte, veranstaltet. Dabei soll die Öffentlichkeit in Bezug auf die Folgen der Privatisierung von Wasser sensibilisiert und klar gemacht werden, wie notwendig es ist, den Stadt- und Landgemeinden das Recht auf Wasser zu sichern. Bei diesen Aktivitäten werden Bildungs- und kulturelle Aktivitäten kombiniert und Debatten angeregt. Die Kampagnenorganisationen, die zur Plattform gehören, wollen dabei aber nur die populare Schaffenslust und Kreativität anregen, denn die Hauptrolle steht den Basisorganisationen zu.
Vor welchen Herausforderungen steht die WSK-Bewegung?
Für uns von der Plattform steht fest, dass Lateinamerika heute eine besondere Zeit erlebt. Der Neoliberalismus zeigt Zeichen von Erschöpfung. Die sozialen Organisationen wehren sich radikal gegen Privatisierung, die Vorherrschaft des Marktes und die Vernachlässigung der sozialen Aufgaben durch den Staat. Indiz dafür ist, dass Regierungen mit anderer Ausrichtung das Ruder übernehmen. Dies drückt die Suche nach Alternativen zu einem Modell aus, das die Mehrheiten verarmt und die Souveränität unserer Nationen und die lateinamerikanische Identität negiert. Wir müssen die Gelegenheit beim Schopf packen, um in Sachen Menschenrechte Prozesse anzukurbeln, die wirklich von Dauer sind. Die wichtigste Herausforderung ist just, dafür auf der Höhe der Zeit zu sein. Letzteres setzt voraus, dass wir fähig sind, gemeinsame Agenden aufzustellen, die mobilisierend wirken und die Vielfalt der sozialen Bewegungen der Region berücksichtigen.
Ein breites Bündnis von sozialen Bewegungen, demokratischen Strömungen und fortschrittlichen Parteien kann die Reste von Autoritarismus, die wie tödliche Bakterien wirken und sich der neuen Entwicklung widersetzen, zerstören. Diese nostalgischen Kräfte der Diktaturen sind die wichtigste Bedrohung für die Demokratisierung des Kontinents. Dieses Bündnis müsste sich der Herausforderung stellen und ein Entwicklungsmodell definieren, das eine Alternative zum Neoliberalismus ist und eine Voraussetzung für die Verwirklichung der Menschenrechte darstellt. Vor allem ist es notwendig, den Einfluss der nordamerikanischen Politik zu neutralisieren. Diese ist eine räuberische Politik, eine Art neu aufgebrühter Kolonialismus und eine Kriegspolitik, die sich in der Doktrin der Nationalen Sicherheit der Bush-Administration kondensiert. Das sind außerordentliche Herausforderungen. Dafür muss der Menschenrechtsaktivismus seine Mentalität verändern und seine Kapazitäten neu ausrichten. Aber wir sind uns sicher, dafür gewappnet zu sein.