Auch im neuen Roman des cubanischen Krimiautors Leonardo Padura ermittelt wieder der ehemalige Polizeiinspektor Mario Conde. Schon in „Adiós Hemingway“ (2005, Besprechung in ila 299) hat er ein Dekaden zurückliegendes Verbrechen aufgeklärt, obwohl er den Beruf des Polizisten im letzten Band des Havanna-Quartetts („Das Meer der Illusionen“, 2004) frustriert an den Nagel gehängt hatte. Erinnern wir uns: Mario Conde ist rebellisch, voller Skepsis, aufsässig und misstrauisch gegenüber der Obrigkeit. Dennoch gehörte er in den ersten Havanna-Krimis einem repressiven Organ an. Das passte ihm nicht und eigentlich passte es auch nicht zu ihm. In Paduras neuem Roman „Der Nebel von gestern“ handelt Mario Conde mit alten Büchern, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Aber auch als Geschäftsmann ist er eine Katastrophe. Was er verdient, gibt er für zwei Flaschen Rum oder auch für phantastische Fressgelage aus. Er befindet sich eher am Rande der cubanischen Gesellschaft und ist längst nicht mehr Teil des Machtapparates.
In all seinen Romanen schildert Padura auch Korruption, Vetternwirtschaft und Drogengeschäfte. Die Romane, die auch in Cuba veröffentlicht und prämiert wurden, sind also außer spannender Literatur immer auch Mittel zum Zweck, so etwas wie ein Vehikel für beißende Gesellschaftskritik. Nicht anders das aktuelle Werk. „Der Nebel von gestern“ entstand 2004 und spielt auch in dieser Zeit. Ganze Kapitel sind allerdings in der Zeit vor der Revolution, in den 40er und vor allem 50er Jahren, angesiedelt, denn Mario Conde begibt sich auf die Spuren der längst vergessenen Bolerosängerin Violeta del Río, die sich zu Beginn der Revolution von Bühne und Kabarett abwandte und bald einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel. Wieder stochert Conde in einem dichten Nebel von gestern herum. Man könnte meinen, das Plot biete sich geradezu an, einen Vergleich der vorrevolutionären Verhältnisse mit dem Heute anzustellen. Doch Padura sagte mir dazu in einem Interview vor vier Jahren: „Es ist ein sehr harter Roman, was die Darstellung der cubanischen Vergangenheit und der cubanischen Gegenwart angeht. Aber es gibt keine Wertung, dass es früher besser war, dass es heute schlechter ist oder umgekehrt.“
Auch Mario Conde muss zusehen, wie er sich in schwierigen Zeiten seinen Lebensunterhalt verdient. Wie ein Vertreter zieht er von Tür zu Tür und fragt nach alten Büchern und hin und wieder tut er wahre Schätze auf. Eines Tages stößt Conde in einer vom Verfall gezeichneten Villa aus den 20er Jahren, einem düsteren alten Kasten im Vedado, auf eine außerordentlich wertvolle, seit Jahrzehnten unberührte Bibliothek mit einzigartig wertvollen Werken aus dem 19. Jahrhundert und Erstausgaben mit Widmungen aus der Zeit vor der Revolution, eine ideale Bibliothek der cubanischen Literatur. Die Villa gehörte Alcides Montes de Oca, dem Sprössling einer der wichtigsten Familien der alten cubanischen Bourgeoisie. Dionisio und Amalia Ferrero heißen seine unehelichen Kinder. Sie sind mittlerweile längst pensioniert und leben zusammen mit ihrer uralten Mutter noch immer in diesem Haus voller Erinnerungen.
In der Bibliothek findet Conde eine alte Zeitschrift aus den 50er Jahren mit dem Porträt der Bolerosängerin. Bald ergattert er auch ein Exemplar der einzigen Schallplatte, die Violeta del Río aufgenommen hatte. Conde ist wie besessen von ihrer rauchigen Stimme und ihrer rätselhaften Geschichte, der er auf den Grund gehen muss. Er begibt sich auf die Suche nach der wie vom Erdboden verschluckten Sängerin, erfährt bald, dass sie längst tot ist, glaubt aber nicht an den angeblichen Selbstmord. Seine Schnüffelei lässt ihn ein längst versunkenes Havanna entdecken, die Welt der Kabaretts und Kasinos, der Mafia, Mörder und Politgangster, der Bordelle und auch der Boleros, jener schmachtenden „Liebeslyrik der Tropen“, wie es im Roman heißt. Doch Padura erweckt nicht nur diese wilden Jahre zu neuem Leben. Er taucht auch tief ein in das von Krise und Verfall, Korruption und Prostitution, Drogen und Verbrechen gezeichnete Havanna der Gegenwart.
Außer bibliophilen Schätzen und jede Menge Toter gibt es auch in „Der Nebel von gestern“ wieder jene fabelhaften Fressgelage, ein Leitmotiv in Paduras Krimis. Diesmal aber handelt es sich nicht um der Phantasie und dem Verlangen entsprungene Hirngespinste, denn jetzt hat Conde zum ersten Mal Geld genug, um seine Freunde zu einem Essen einzuladen, bei dem jeder soviel essen und trinken kann, wie er will. Die Pesos stammen vom Verkauf wertvoller Bücher aus der Villa Montes de Ocas. Dieser hatte Anfang 1960 Hals über Kopf das Land verlassen, nachdem er zusammen mit dem Mafiosi Meyer Lansky mit krummen Geschäften ein Vermögen zusammengerafft hatte. Er war auch ein Gegner des raffgierigen Batista, dem das Land, das er langsam ruinierte, immer mehr entglitt. Batista vermasselte also das Geschäft. Das Motiv für den Mord an Violeta del Río soll nicht verschwiegen werden. Die Sängerin wird das Opfer einer irrationalen Eifersucht, sie stirbt wegen der anstehenden Mesalliance des milliardenschweren Montes de Oca mit ihr, der „Königin der Nacht“, wie sie in den Kabaretts genannt wurde.
Der Roman ist spannend und facettenreich, einfach ein Muss für Cuba-Fans, besser: für Fans der cubanischen Geschichte und vor allem der cubanischen Musik und Literatur, den beiden wichtigsten Geschenken, die die Insel der Welt gemacht hat.
Leonardo Padura, Der Nebel von gestern, Zürich 2008, 368 Seiten, 19,90 Euro