Erste Eindrücke trügen oft. In der für die Olympischen Spiele in Athen gebauten Straßenbahn stadtauswärts entlang der himmelblauen Küste sitzt uns gegenüber eine Gruppe Spanierinnen, die alle die 50 weit hinter sich gelassen haben. Touristinnen, denke ich, Pech gehabt mit diesem Wetter. Der scharfe Nordwind fährt in alle Glieder und wir zittern trotz der prallen Sonne. Doch dann packen die Spanierinnen ihre ESF-Akkreditierungen aus und entfalten das druckfrische Programm des Sozialforums 2006 in Form einer mittleren Wochenendausgabe einer Tageszeitung. Neidisch starre ich auf die mehrsprachigen Seminarankündigungen. Bis gestern gab es auf der ESF-Website nur unleserliche Excel-Tabellen und dazu die ermutigende Ankündigung, das Kulturprogramm folge in wenigen Tagen. Eine der Spanierinnen zeigt ein Miniradio mit Kopfhörern herum, seit einigen Sozialforen die obligatorische Ausrüstung, um ohne die unbezahlbaren Konferenzanlagen über Kurzwelle die Simultanübersetzung der freiwilligen „Babels“- Dolmetscherinnen zu hören. „Damit hast du Musik, Wecker und Übersetzung gleichzeitig“, lacht die Besitzerin des Radios (made in China, natürlich). Gut ausgestattet, die spanischen Damen. Ob sie den Durchschnitt der ESF-TeilnehmerInnen repräsentieren? Ist das ESF flugs zu einem Treffpunkt kritischer Mittelalter geworden?
Am Eingang zum Veranstaltungsort warten jede Menge angegrauter Halbverfrorener vor dem Einschreibschalter, aber auch ebenso viele junge bis ganz junge RucksackträgerInnen in einer Schlange vor der Schlafplatzzuteilung. Das kann dauern. Die OrganisatorInnen sind offensichtlich überfordert. Man vertreibt sich die Zeit mit dem Ausfüllen eines mehrseitigen Fragebogens für eine Uni-Erhebung über die Sozalforumsbewegung: „Werden in deiner Gruppe Entscheidungen im Konsens getroffen?“ „Gelten dort Argumente mehr oder Persönlichkeiten?“ Hand aufs Herz. Schließlich halten wir die Akkreditierungskarten in den Händen. Bänder, um sie um den Hals zu hängen, sind schon ausgegangen. Wir überqueren den Außenbereich vor den mit E, S und F gekennzeichneten drei Gebäuden mit Veranstaltungsräumen, ehemaligen Fecht- und Basketballhallen. „Thematische Räume“ für die Lateinamerikabewegung, für die autonome Bewegung, für Kunst etc. sind hier bereitgestellt. Aber durch die Trennwände pfeift der Wind, man mag nicht einmal die Fotoausstellungen auf ihnen betrachten. Auch auf den drei Bühnen bleiben die drei Tage lang unablässig spielenden Bands meist allein, sie können einem Leid tun.
Noch ist die E-Halle relativ leer, dagegen der dahinter liegende Saal mit einer Veranstaltung zu „Lateinamerika – ein Kontinent in Revolte“ schon brechend voll, vor allem mit GriechInnen und Angehörigen von Sprachgemeinschaften, die ich nicht zu unterscheiden weiß. Eine neue Erfahrung. Solibewegung gibt es nicht nur im Westen. Drei Stunden später ist der E-Saal nicht wiederzuerkennen. Wie auf einem Weihnachtsmarkt schieben sich die Menschen umeinander. Fast schon nicht mehr erkennbar sind dahinter thematisch relativ geordnet Stände aufgebaut. Über der einen Seite wehen zur Orientierung jede Menge roter Fahnen mit Piktogrammen, die indessen nur mit Glück zu enträtseln sind. Davor große Gruppen von Menschen, die bei den letzten Sozialforen noch nicht vertreten waren. In der Mitte kann man in den Endloswarteschlangen vor dem scheinbar immer gerade ausverkauften Kaffeeposten Bücherstände der Schwulenbewegungen studieren. Daneben verkauft eine bulgarische Trachtengruppe CDs. Vorbei an Amnesty international, Anti-Folterkomitees und Gewerkschaftsbroschüren gelangt man auf der anderen Seite zu einem geschlossenen Bereich von Umweltgruppen, grünen Bewegungen und grünen Parteien.
Zum ersten Mal gibt es so etwas wie einen ökologischen Pool, der am Ende einer Reihe von intensiven Veranstaltungen beschließt, im Rahmen des nächsten ESF ein ökologisches Sozialforum zu organisieren. Bislang noch weitgehend unter der Ägide der britischen Socialist Workers Party (SWP – eine Fraktion der TrotzkistInnen) ist ein weltweiter Aktionstag gegen den Klimawandel am 4. November in Vorbereitung, ähnlich dem 15. Februar 2003, an dem weltweit Demonstrationen gegen die drohende US-Invasion in den Irak stattfanden. Auch diesmal geht es gegen Bush, dessen Administration das Kyoto-Protokoll nicht unterschrieben hat. Die ökologische Bewegung täte gut daran, den 4. November inhaltlich zu verbreitern, denn auch eine US-Unterschrift unter ein Dokument, das ein fragwürdiges Umweltschutzinstrument wie den börsenpuschenden Emissionshandel enthält und allein schon deshalb von zweifelhafter Qualität ist, wird den Klimawandel nicht stoppen.
Seitdem die OrganisatorInnen der Sozialforen beschlossen haben, keine Plenarveranstaltungen mehr durchzuführen, ist schwer auszumachen, wohin es die meisten zieht. Im Vorfeld wird sich lediglich auf thematische Schwerpunkte geeinigt, unter denen mehr oder weniger gleichgeordnete Veranstaltungen in Eigenregie vorbereitet werden. In Athen sieht es einerseits so aus, als habe sich der Mumbai-Effekt auch hier breitgemacht. Im indischen Mumbai fand 2004 das Vierte Weltsozialforum statt. Die Säle bleiben weitgehend leer, während sich die Menschen auf dem Gelände in einer Art Dauerdemonstration bewegen. Auch in Athen sind viele Veranstaltungen ziemlich leer. Selbst Gurus der Bewegung wie José Bové locken nicht die Massen. Um Susan George bildeten sich keine Trauben. Der Grund ist wohl der gleiche wie in Mumbai: „Stars“ aus dem Norden sind im Süden so unbekannt wie solche aus dem Westen im Osten.
Zweifellos ist die Erweiterung auf osteuropäische TeilnehmerInnen ein wesentlicher Erfolg des ESF in Griechenland. Mehr als 1500 TürkInnen, dazu Menschen aus den meisten Balkanländern (die Visa für SerbInnen wurden verweigert), RussInnen und Abordnungen aus den Ländern auf der anderen Seite des Mittelmeers zeigen, dass die Sozialforumsidee Raum greift. Aber die geographische Erweiterung ist nur ein erster Schritt. „Ich bin enttäuscht“, sagte Aynur, eine ökologische Aktivistin aus Istanbul, „ich war in einem sehr interessanten Seminar zu nachhaltiger Landwirtschaft. Die Hälfte des Publikums bestand aus Landsleuten von mir. Aber als der türkische Redner geendet hatte, verließen alle TürkInnen den Raum. Wo ist da der Austausch?“
In der Tat. Vielleicht ist es für ESF-Neuankömmlinge erst einmal wichtig, sich selbst darzustellen. Die Notwendigkeit, gleiche Themenvorschläge zu gemeinsamen Veranstaltungen zu verbinden, schafft zudem die Chance der Verständigung und des Aufbaus von Netzwerken. Aber die Verbreiterung der Veranstaltergruppe führte in Athen oft nur zu Addierung von RednerInnen. Es wird in Zukunft auf das Zwischen-den-ESF ankommen. So wie Meisterschaften nur Sinn machen, wenn das Jahr über trainiert wird, müssen Netzwerke aufgebaut und gepflegt werden. Das ESF kann eigentlich nur Gradmesser dafür sein, wieweit die Verständigung gediehen ist. Es mangelt ja nicht wirklich an Ideen für „eine andere mögliche Welt“ oder ein „anderes mögliches Europa“. Man schaue sich nur die Buchneuerscheinungen an. Es mangelt eher am Ausdiskutieren von deren Praktikabilität mit Menschen unterschiedlicher kultureller, sozialer und ökonomischer Herkunft. Immerhin sind die Sozialforen in Europa der einzige Ort, wo so etwas massenweise geschehen kann. Nirgends sonst kommen so viele engagierte Menschen zusammen – mindestens 30 000 in Athen.
Dazu gehören neuerdings in nennenswerten Zahlen GewerkschafterInnen. Mit großen Delegationen aus Griechenland, Belgien, Italien, Frankreich, der Türkei, dem Balkan und Osteuropa sind sie wesentlich präsenter als noch beim letzten Sozialforum im Oktober 2004 in London. Ein Hinweis darauf, dass ein Teil der KollegInnen die Sozialforen als Ort begreift, an dem gemeinsam für ein anderes Europa genetzwerkt werden kann. Nach dem zumindest vorläufigen Aus für die Europäische Verfassung als Ergebnis der Abstimmungsniederlage in Frankreich und den Niederlanden halten einige das Experiment für beendet, andere bauen an einem anders, eben sozial, verfassten Europa. Aber auch vor all denen, die für ein soziales Europa nach Athen gekommen waren, liegen noch etliche Meilen Verständigungsbedarf. Eine „Charta unserer gemeinsamen Prinzipien für ein anderes Europa“ wurde in Athen diskutiert, konnte aber nicht verabschiedet werden.
Einfacher – so hart das klingt – ist die Lage beim Thema Widerstand gegen den Krieg. Es muss leider ein Dauerbrenner auf den Sozialforen bleiben, nachdem der Iran den Irak als Buhmann abgelöst hat. Selbst das bundesdeutsche Morgenmagazin brachte einen Beitrag zu diesem Teil des Sozialforums und holte osteuropäische Stimmen vor die Kamera. Weiter gediehen scheint auch die Zusammenarbeit der KünstlerInnen. Mehr als 150 Events fanden statt, viel zu wenig beachtet von der Politszene, hat wohl jedeR gedacht, der irgendwann mal den Weg in die spannend gestalteten Kunsträume gefunden hat.
Apropos künstliche Räume. Auch wenn die Konzentration der Veranstaltungen an einem Ort im Vergleich zu den Zerfaserungserfahrungen bei den ESF in Paris und London eindeutig einem Wir-Gefühl förderlich war, hatte die Verbannung in die postolympischen Hallen am Rande Athens doch auch etwas von einer Laboranordnung in steriler Umgebung. Wen wollten die Spontandemonstrationen rund um die Stände albanischer SozialistInnen, Greenpeace, die christlichen Gewerkschaften Belgiens und die Vierte Internationale überzeugen?
Bei der Abschlussdemonstration unter dem Motto „Gegen Neoliberalismus, Krieg und Rassismus“ in der Athener Innenstadt war das schon anders. Laut Polizei 25 000, laut JournalistInnen und VeranstalterInnen zwischen 70 000 und 80 000 DemonstrantInnen zogen am Samstag Nachmittag durch die Straßen, wobei die meisten wohl von einer kleinen Gruppe, die am Rande Banken und Geschäfte demolierte, erst durch Fernsehbilder etwas mitbekamen. Es war die größte Demonstration in der Geschichte Athens, die ohne Unterstützung durch die Kommunistische Partei organisiert wurde, was einiges über den Stand der globalisierungskritischen Bewegung aussagt. Noch ist der weitere Fahrplan des ESF nicht klar. Erwartet wurde von vielen TeilnehmerInnen, dass das nächste ESF in Deutschland stattfinden würde. Doch die Deutschen winkten ab. Die Vorbereitung der Gegenaktivitäten zum G8 im Juli 2007 in Heiligendamm binde zu viele Kräfte. Ein Vorschlag, das nächste ESF in Brüssel auszurichten, ist noch nicht genügend unter den belgischen Bewegungen ausdiskutiert. Im September soll eine europäische ESF-Versammlung entscheiden. Damit ist wohl klar, dass es vor 2008 kein weiteres ESF gibt. Genug Zeit also, um Erfahrungen der ersten vier ESF-Ausgaben zu systematisieren und „netzwerken“ zu einem aktiven Verb zu machen.