Es war der Tropfen, der für viele das Fass zum Überlaufen brachte. Präsident Ortega hatte schon des Öfteren gegen die demokratische Verfassung verstoßen. Doch im Juni dieses Jahres schaltete er Eduardo Montealegre aus, seinen größten Rivalen, aus der konservativen Partido Liberal Independiente (PLI). Oppositionelle, die sich gegen seinen Umgang mit Montealegre gewehrt hatten, wurden aus der Nationalversammlung ausgeschlossen und ihres Amtes enthoben. Und dann, im August, die nächste Überraschung: Ortega nominierte seine Ehefrau Rosario Murillo zur Kandidatin für die Vizepräsidentschaft und damit auch als Nachfolgerin, falls er seine Amtszeit nicht zu Ende führen könnte. Dabei gibt es einen Gesetzesartikel, der genau dies verbietet.
Es ertönte ein Aufschrei, der weit ins linke Lager hineinreichte. Selbst langjährige WeggefährtInnen wandten sich vom Ehepaar Ortega ab. Die Opposition rief zum Wahlboykott auf. Doch es half nichts.
María Teresa ist Sandinistin. Die 23-Jährige hat an der Universidad Centroamericana (UCA) in Managua Tourismus studiert und arbeitet nun für einen Reiseveranstalter in der Tourismushochburg Granada. Die junge Frau ist mit der sandinistischen Ideologie groß geworden. Zahlreiche Familienangehörige waren während der Revolution aktiv und haben nie den Glauben an ihre Partei verloren. Der Sandinismus ist Teil ihrer nicaraguanischen Identität.
Doch vor den jüngsten Wahlen war es anders. Maria Teresa war hin- und hergerissen. „Ich will und ich muss von meinem Stimmrecht Gebrauch machen. Aber ich weiß nicht, was ich tun soll. Nach allem was passiert ist, kann ich einfach nicht mehr für die FSLN stimmen. Dennoch möchte etwas in mir, dass sie gewinnen.“
Letztendlich hat Präsident Ortega die Wahl gewonnen. Ob er wirklich die von der obersten Wahlbehörde angegebenen 71,3 Prozent der Stimmen erreicht hat, darüber wird beharrlich gestritten. Die konservative Opposition fordert faire Neuwahlen mit Wahlbeobachtern, die mehr als nur eingeschränkten Zugriff erhalten. Außerdem bemängeln Kritiker, dass ohnehin kein anderer Kandidat eine realistische Chance gehabt habe. Der Ausgang der Wahlen sei lange vorher klar gewesen. Wie sonst könne man erklären, dass es nicht einmal eine richtige Wahlkampagne der FSLN gegeben habe?
Fest steht, Ortega kann nach wie vor einen Großteil der Bevölkerung hinter sich vereinen. Doch wie schafft das ein Präsident, der in den letzten Monaten nur noch durch negative Schlagzeilen auf sich aufmerksam gemacht hat? Anders als in anderen Teilen der Erde haben wir es hier nicht mit einem Umbruch der alten Ordnung zu tun. Es ist das deklarierte „Immer weiter“, das unaufhörlich zu funktionieren scheint.
Die Liste der Vorwürfe ist lang. Seit Jahren wird Ortega vorgeworfen, die sandinistische Revolution zu verraten. Hatte er selbst noch erbittert gegen den Militärdiktator Somoza gekämpft, erinnert sein personalistischer Regierungsstil nun zunehmend an den seines Vorgängers. Weiter heißt es, er plane gemeinsam mit seiner Frau Rosario Murillo eine Art monarchische Einheitspartei. Familienmitglieder haben bereits strategisch wichtige Schlüsselpositionen in Politik und Wirtschaft inne. Der Ortega-Clan beherrscht längst nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Sicherheitsorgane, die Justiz und einen Großteil der Medien.
Javier Picado Castro und Lazaro García sind keine Sandinisten und sie sind sich einig. Sie haben keinen Zweifel daran, dass das Ehepaar Ortega eine autoritäre Dynastie etabliert. Don Castro stört sich vor allem am religiösen und reaktionären Diskurs. Überall mische sich die Regierung ein. Zudem betreibe sie eine klientelistische Politik und kümmere sich nur um die SandinistInnen. Dabei müsse eine Regierung doch im Interesse aller Nicaraguaner regieren. Und Don García fügt hinzu: „Das populistische Regime hat gar kein Interesse daran, die Armut zu verringern. Die Notlage wird institutionalisiert. Schließlich macht die arme Bevölkerung die treue Wählerbasis aus. Die Regierung schafft keinerlei Anreize für persönliche Entfaltung und zementiert auf diese Weise Abhängigkeiten.“
Glaubt man der Regierung, so lebt die Revolution fort. Die sandinistischen Kampagnen produzieren Hoffnungen und viele Menschen halten sich daran fest. Handelt es sich also um eine weitere „gescheiterte postrevolutionäre Demokratie“ mit einer manipulierten Wählerschaft, die dem Präsidenten nach der Pfeife tanzt? Die Situation im Land ist natürlich weitaus komplexer.
Auch viele SandinistInnen sind mittlerweile vom Personenkult und von den rosaroten Regierungskampagnen genervt. Vielen geht es längst nicht mehr um Daniel oder La Chayo, wie seine Frau von allen genannt wird. Und dennoch geben sie der Partei ihre Stimme. Ein Blick auf die individuellen Geschichten dieser Leute könnte uns Aufschluss darüber geben, weshalb sie der Regierung treu bleiben.
María Teresa wurde erst nach der Revolution geboren. Sie diskutiert oft mit ihren gleichaltrigen Freunden über die aktuelle Regierung. Viele sind unzufrieden, es gehe überhaupt nicht voran mit dem Land, die Regierung sei korrupt und die Partei nehme überall Einfluss. Doch María Teresa bleibt ihrer FSLN verbunden: „Bei aller Kritik muss man auch die Sandinisten verstehen. Längst nicht alle sind manipuliert und durch Geschenke bei der Stange zu halten. Es gibt so viele kritische Leute hier, die nicht alles durchgehen lassen, was auf Regierungsebene passiert. Gleichzeitig bleiben sie Sandinisten, aus ideologischer Überzeugung.“
In den Bonbonfarben der Partei liest man es an jeder Straßenkreuzung: Sozialistisch, christlich und solidarisch soll es mit dem Land vorangehen. An diesem Modell arbeitet Ortega seit 2007, und es soll das ganze Land weiterbringen. Doch die Mission braucht Zeit.
Längst nicht alles läuft schief, seit er an der Macht ist. Ortega steht für Sicherheit, Stabilität und die Grundversorgung der armen Bevölkerung. Vor allem bei Kleinbauern ist die staatliche Unterstützung beliebt. Die Landbevölkerung rechnet der Regierung die Unterstützung in Form von Kleinkrediten und Materialien hoch an. Zudem ist die Kriminalitätsrate im Vergleich zu El Salvador, Honduras und Guatemala deutlich geringer. Ein weiterer Schachzug des sandinistischen Präsidenten war die Versöhnung mit der katholischen Kirche. Man kann sagen, dass er sich die wichtigsten Akteure des Landes ins Boot geholt hat. Und der Opposition fehlt es nicht nur an Einheit, sondern vor allem an einem überzeugenden Konzept.
Im Gegensatz zu Regierungen wie in Venezuela steht Ortega für eine anlegerfreundliche, neoliberale Wirtschaftspolitik. Zuletzt machte das Land negative Schlagzeilen, als es einem chinesischen Investor erlaubte, einen Kanal quer durch das Land zu bauen. Der Beginn des Bauvorhabens wird zwar stets in die Zukunft verschoben (einige sehen es auch längst als gestorben an), doch steht das Projekt für die Akzeptanz privatwirtschaftlicher Investitionen.
Die Wirtschaft wächst zwar nur langsam, doch sie wächst. Sieht man sich die genauen Zahlen an, bleibt die Ungleichheit trotzdem bestehen; laut dem Instituto Nacional de Información de Desarrollo de Nicaragua (INIDE) ist die Ungleichheit, gemessen am Gini-Index, genauso hoch wie zu Beginn von Ortegas Amtszeit. 62 Prozent der Familien können sich noch immer nicht den Warenkorb leisten, der ihre Grundbedürfnisse abdeckt.
Gleichwohl scheint das Positive zu überwiegen. Noch wollen viele SandinistInnen, dass es so weitergeht. Sie machen den treuen Wählerstamm aus, den sogenannten voto duro. Dieser sichert Ortega Wahl für Wahl seinen Machterhalt. Er ist geprägt von Ideologie, Vertrauen und Geduld.
Es war eine Begegnung mit einem älteren campesino aus dem Norden des Landes, die María Teresa ihre Einstellung zur anstehenden Wahl überdenken ließ. Der Mann hatte in der Revolution gekämpft, war der Anführer seiner Gemeinde und stolz darauf, heute sein Leben selbst zu bestreiten. Als sie ihn auf die Wahlen ansprach, sagte er: „Ich bin ganz sicher nicht zufrieden mit der aktuellen Regierung. Aber es ist in Ordnung, so wie es ist. Es gibt keine andere Möglichkeit. Nicaragua ist noch nicht dazu bereit, einen anderen Weg einzuschlagen. Und deshalb werde ich Daniel meine Stimme geben.“
Ähnlich wie der campesino beobachten viele SandinistInnen die aktuelle Regierung aufmerksam. Nach wie vor sind sie zuversichtlich, dass das Land den richtigen Weg geht. Und auch María Teresa erzählt: „Ich will sehen, was passiert. Wenn ich der Partei meine Stimme gebe, dann ist dies der Grund dafür. Ich will sehen, wo all das hinführt. Manchmal ist eine Regierungsperiode von fünf Jahren eben nicht ausreichend. Die Zeit ist noch nicht reif. Und wenn wir kämpfen müssen, dann kämpfen wir eben. Das haben wir in der Geschichte auch schon getan.“
Trotz allem bleiben viele Fragen offen. Warum muss ein Präsident zu solch undemokratischen Mitteln greifen, wo er doch die WählerInnenschaft ohnehin auf seiner Seite hat? Ortega ist noch mal davongekommen. Doch es bleibt abzuwarten, ob er das Vertrauen der SandinistInnen und der Bevölkerung bald endgültig verspielen wird.