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Nicht einen Moment aus den Augen lassen

Solidarische Begleitung von Menschenrechts- und Basisorganisationen

Ihr arbeitet beide mit dem Red de Hermandad in Kolumbien. Welche Aufgaben oder Funktionen habt ihr in diesem Netzwerk?

Kristofer Lengert: Wir sind beide in der Berliner Kolumbienkampagne aktiv. Die Kolumbienkampagne macht Informations- und Solidaritätsarbeit zum Thema sozialer Bewegungen in Kolumbien und ist an das Kolumbiensolidaritätsnetzwerk Red de Hermandad angeschlossen. 2003 waren wir an der Entstehung des Begleitprojektes Casa de Solidaridad beteiligt. Ziel des Begleitprojektes ist es, einen internationalen Austausch mit den sozialen Organisationen in Kolumbien zu ermöglichen und durch die Anwesenheit internationaler BeobachterInnen die Handlungsspielräume für soziale Bewegungen zu erweitern. Ich arbeitete von Februar bis November 2008 im Koordinierungsteam der Casa in Bogotá. Dieser Job wird nach dem Rotationsprinzip von VertreterInnen der europäischen Trägergruppen besetzt. Als Vertreter der europäischen Unterstützergruppen war ich unter anderem für die Betreuung der internationalen BegleiterInnen und für Öffentlichkeitsarbeit zuständig. 

Friederike Müller: Ich war am 1. September 2008 nach Kolumbien geflogen, um für sechs Monate als Vertreterin der Kolumbienkampagne, als internationale Begleiterin und Menschenrechtsbeobachterin, die Arbeit der kolumbianischen NGOs im Red de Hermandad zu begleiten und kennen zu lernen. Meine Funktion als Begleiterin ist im Allgemeinen, durch meine Präsenz als Europäerin den häufig sehr bedrohten kolumbianischen AktivistInnen der NGOs einen gewissen Schutz und Bewegungsfreiheit im Land zu bieten, wenn sie zum Beispiel zu Versammlungen reisen oder bei der alltäglichen Ausführung ihrer Arbeit. Da der kolumbianische Staat daran interessiert ist, sein Bild als demokratischer Staat, der die Menschenrechte anerkennt, nach außen hin aufrecht zu erhalten, stellt die Gegenwart eines oder einer EuropäerIn oder NordamerikanerIn durchaus einen Grund dar, sich mit Unrechtshandlungen wie illegalen Festnahmen oder gar Ermordungen gegenüber den kolumbianischen AktivistInnen zurückzuhalten. Die zweite Funktion als Beobachterin besteht in der Idee, als internationale Kommunikatorin die Situation vor Ort, Menschenrechtsverletzungen und ihre Folgen öffentlich zu machen, gegebenenfalls zu Unterstützung und Protest in unseren Ländern aufzurufen.

Könnt ihr kurz vorstellen, was das Red de Hermandad ist? 

K.L.: Das Red de Hermandad ist ein Netzwerk von vielen sozialen Basisorganisationen aus dem linken Gewerkschafts- und Menschenrechtsspektrum und von Unterstützungs- und Solidaritätsgruppen aus Westeuropa sowie einigen amerikanischen Ländern. Die Gruppen sind zum Teil sehr unterschiedlich, in Europa reicht das Spektrum von Gewerkschaften wie der spanischen anarcho-syndikalistischen CGT, über NGOs aus dem Menschenrechtssektor bis hin zu kleinen Initiativzusammenhängen wie der Kolumbienkampagne. In Kolumbien gehören ca. 20 soziale Organisationen dem Netzwerk an, aus allen Teilen des Landes. Darunter sind z.B. die Gewerkschaft der Lebensmittelarbeiter SINALTRAINAL, die Menschenrechtsorganisation Sembrar, die Plattform der afrokolumbianischen Gemeinden Proceso de Comunidades Negras (PCN) oder die Frauenorganisation OFP aus Barrancabermeja. Das Red de Hermandad ist also weder eine klassische Begleitorganisation, noch gibt es eine zentrale Koordination für die Mitgliedsorganisationen. Es ist ein internationalistischer Basisgruppenzusammenhang von sozialen Organisationen und Menschenrechtsgruppen, die eine politische Alternative zum Status quo in Kolumbien suchen und sich als Teil der sozialen Bewegungen verstehen. 

Hat sich das Red im Verlauf seiner Entwicklung wesentlich verändert?

K.L.: Mitte der 90er Jahre wurde das Netzwerk als Solidaritätszusammenschluss ins Leben gerufen mit dem Ziel, gegen die schlimme Menschenrechtssituation in Kolumbien international Klage zu erheben. Paramilitärs und Militärs hatten gegen Ende der 90er Jahre in vielen Krisengebieten mit einer neuen Terrorstrategie begonnen. Um die Autorität des Staates wiederherzustellen, wurde ein regelrechter Krieg gegen die soziale Bewegung initiiert. Systematische Mordanschläge, Einschüchterungen und soziale Säuberungen zerstörten schließlich das soziale Netz der lokalen Bevölkerung. Paramilitärische Banden übernahmen die Kontrolle über ganze Landstriche. Erste große Projekte, an denen sich Organisationen des Red de Hermandad maßgeblich beteiligten, waren das Projekt Colombia nunca más, die Kampagne gegen die Straflosigkeit Colombia clama Justicia und die Meinungstribunale. Die physische Begleitung durch internationale BeobachterInnen fand zunächst nur in Form von kurzen Delegationsreisen statt. Aber gerade die waren für die ländlichen Gemeinden und für die Dokumentationsarbeit sehr wichtig. Das Begleitprojekt Casa de Solidaridad wurde schließlich 2003 ins Leben gerufen. 

Haben die kolumbianischen Organisationen, die ihr begleitet, ein bestimmtes „Profil“?

K.L.: Sehr gut sind die Beziehungen zu sozialen Organisationen und Menschenrechtsgruppen, mit denen eine lange Zusammenarbeit besteht, wie zum Beispiel SINALTRAINAL, die über ihre internationale Kampagnenarbeit früh den Kontakt zu den Gruppen in Europa hergestellt hatten, oder die Organisationen aus den Regionen Sur de Bolívar, Magdalena Medio und Oriente Antioqueño, die Menschenrechtsorganisation Sembrar, die MinenarbeiterInnengemeinschaft Fedeagromisbol oder die Bauern- und Flüchtlingsorganisation ACA aus dem Oriente Antioqueño und die Corporación Jurídica Libertad aus Medellín. Hier arbeiten wir zum Teil schon seit zehn Jahren. In den anderen Regionen bestehen unsere Begleitungen oft aus kurzfristigen Einsätzen, um Untersuchungsdelegationen in Krisengebieten oder bei Veranstaltungen, kulturellen und politischen Events zu begleiten. Unsere Anwesenheit soll die sichere Durchführung der Aktivitäten ermöglichen. 

Was sind eure wichtigsten Aufgaben als internationale Begleitpersonen? 

F.M.: Die AktivistInnen wirklich zu begleiten; in manchen Fällen, wo eine deutliche Bedrohung vorliegt – häufig besteht für sie die Gefahr, illegal festgenommen zu werden, oder sie haben Morddrohungen von den Paramilitärs erhalten – bedeutet das, sie wirklich kaum aus den Augen zu lassen und immer in ihrer sichtbaren Nähe zu bleiben. Des Weiteren sollten wir diesen Menschen, deren soziale oder politische Kämpfe wir kennen lernen, unsere Solidarität zeigen und formulieren und ihnen dadurch auch ein wenig Mut machen.

K.L.: Anders als andere Begleitorganisationen ist unsere Arbeit darauf ausgerichtet, soziale Prozesse zu begleiten. D.h., wir sind nicht neutrale BeobachterInnen, wie Peace Brigades International (PBI). Vielmehr ist es Ziel unseres Aufenthaltes die gemeinsame Solidaritätsarbeit zu stärken. Wir beobachten und dokumentieren politische Prozesse, um in Europa darüber zu berichten; wir unterstützen die sozialen Organisationen durch unsere Mitarbeit und teilen unser Wissen mit den Menschen in den ländlichen Gemeinden. Viele Begleiteinsätze hängen von den thematischen und Interessenschwerpunkten der BegleiterInnen bzw. der jeweiligen Organisationen ab. Einige Gruppen arbeiten vor allem zum Thema transnationale Konzerne, wie Coca-Cola, BP oder Repsol, andere zur Landfrage und zum Paramilitarismus. Die BegleiterInnen sollen sich aktiv einbringen, wenn sie die kolumbianischen Partnerorganisationen oder ländlichen Gemeinden in Krisengebieten begleiten. Das muss nicht nur Informationsarbeit sein, sondern kann auf vielfältige Weise geschehen: Die BegleiterInnen teilen den Alltag mit den Leuten vor Ort. Mal geben sie Englischunterricht, helfen beim Wiederaufbau von Häusern oder konstruieren einen Brunnen oder Solarzellen, wenn sie die entsprechenden Kenntnisse mitbringen.

Wie seid ihr beide zum Red de Hermandad gekommen?

F.M.: Durch persönliches Interesse an Kolumbien bin ich auf die Kolumbienkampagne in Berlin gestoßen. Die Ziele, die die Kolumbienkampagne verfolgt, und ihre Zusammenarbeit mit dem Red de Hermandad hat mein Interesse für Kolumbien mit demjenigen an Menschenrechtsarbeit wunderbar zusammengeführt. Meiner Meinung nach ist Menschenrechtsarbeit überall eine wichtige Aufgabe, auch in Europa oder Deutschland. Aber in Kolumbien ist die Situation wirklich ganz besonders im Argen, so dass ich es persönlich als richtig empfand, nach Kolumbien zu gehen und die kolumbianischen AktivistInnen auf diesem Gebiet zu unterstützen und von ihnen zu lernen.

K.L.: Für mich gab es 2002 die Möglichkeit, für ein halbes Jahr nach Lateinamerika zu gehen. Ich wollte gerne im Bereich der Menschenrechtsbegleitung sozialer Organisationen arbeiten, war aber auf das Land nicht festgelegt. Dann bekam ich die Chance, nach Kolumbien zu gehen. Ein Freund stellte den Kontakt zur Gewerkschaft SINALTRAINAL her. 2002 war Kolumbien ein ziemlich heißes Pflaster. Die ganze Situation eskalierte. Der Plan Colombia wurde umgesetzt, nachdem die Friedensverhandlungen mit der Guerilla gescheitert waren. Eine Offensive brachte die paramilitärischen AUC in zahlreiche urbane Zentren und forderte so viele Opfer wie schon lange nicht mehr. Im November 2002 ging ich nach Barrancabermeja und begleitete dort die Arbeit der Gewerkschaft. Barrancabermeja war seit Dezember 2000 fest in paramilitärischer Hand.

Friederike, du wurdest vor einigen Wochen aus Kolumbien ausgewiesen. Die Ausweisung von AusländerInnen ist relativ selten in Kolumbien. Was wird dir vorgeworfen?

F.M.: Meine Ausweisung wurde offiziell damit begründet, dass ich an einer Demonstration teilgenommen hätte, ohne das für AusländerInnen nötige Visum für solche Aktivitäten zu haben. Etwas später warf der kolumbianische Präsident Uribe den beiden ausgewiesenen Franzosen und mir in einer öffentlichen Ansprache vor, in Kolumbien zur Gewalt aufgerufen zu haben und im Ausland die Wahrheit über Kolumbien zu verdrehen. Damit bezeichnete er uns als VerbrecherInnen, die besser im Gefängnis sitzen sollten. Beide Vorwürfe – die offizielle Diffamierung sowie diejenige seitens Uribe – entsprechen nicht der Wahrheit. Ich hatte an der Demonstration nicht aktiv teilgenommen, sondern war in meiner Funktion als Begleiterin und Beobachterin mit einem Vertreter einer NGO des Red de Hermandad dort. Ganz zu schweigen von Aufrufen meinerseits zu Gewalt, was ein lächerlicher Vorwurf ist – zumal wenn man bedenkt, dass zur gleichen Zeit einem der Zuckerplantagenbesitzer Verbindungen zu den Paramilitärs nachgewiesen wurden und ein achtjähriges Mädchen während derselben Demonstration „verschwunden“ ist. Aber vielleicht verdrehe ich mit solchen Bemerkungen nur die „Wahrheit“?

Auch zwei Franzosen, die sich über den Streik der Zuckerrohrarbeiter informieren wollten, wurden ausgewiesen. Dulden die kolumbianischen Behörden keine kritischen ZuschauerInnen?

F.M.: Die beiden Franzosen haben genauso wenig verbrochen wie ich – außer dass sie über die prekäre Situation der Zuckerrohrarbeiter einen Dokumentarfilm drehen wollten. Die Zuckerrohrarbeiter erfahren tatsächlich Gewalt, sowohl in ihrem Arbeitsalltag in Form von unwürdigen Arbeitsbedingungen als auch während ihres Streiks, und zwar von Seiten des Staates, der sie eigentlich beschützen sollte. Diese Situation zu dokumentieren und im europäischen Ausland zu veröffentlichen, wo die kolumbianische Regierung bis jetzt immer noch auf Unterstützung im „Kampf gegen den Terrorismus“ zählen kann, ist das Vergehen der Franzosen gewesen. Kritische internationale ZuschauerInnen „verdrehen“ die lügnerische Wahrheit des kolumbianischen Staates und das kann er nicht dulden. Ironischerweise wurde die internationale Aufmerksamkeit gerade durch diese unrechtmäßigen Ausweisungen erst geweckt. Das ist vielleicht der einzige positive Aspekt in der ganzen Geschichte.

K.L.: Die beiden Franzosen waren mit dem französischen Journalisten Damien Fallous unterwegs, der für das gewerkschaftliche Bildungsinstitut CED-INS, das an das Red de Hermandad angeschlossen ist, Dokumentationsarbeiten durchführte. So kam es dazu, dass die drei gemeinsam festgenommen wurden. Sie wollten einen Dokumentarfilm über die Erntearbeiter auf den Zuckerrohrplantagen machen. Ihre Ausweisung ist begründet mit „politischer Betätigung und Einmischung in innere Angelegenheiten“. Das rechtfertigt jede Ausweisung, da es Ausländern in Kolumbien immer verboten ist, sich politisch zu betätigen. Fallous wurde dagegen wieder freigelassen, wahrscheinlich weil er als Journalist offiziell akkreditiert war und die französische Botschaft intervenierte. Es gab daraufhin mehrere Zeitungsmeldungen und Fernsehberichte, in denen implizit gesagt wurde, dass die Ausgewiesenen subversive Kräfte der FARC seien: ein Lehrstück aus der Propagandatrickkiste, denn es wurden zwei Meldungen vermischt und zu einer gemacht. Eine Meldung ging über die Ausweisungen und die andere war die abenteuerliche Meldung, die Indígena-Demonstrationen seien von den FARC unterwandert. Man berichtete, die Franzosen und die Deutschen seien ausgewiesen worden, weil sie sich unter die streikenden Erntearbeiter gemischt hätten, um ihren Protest zu unterstützen, und man benutzte den Begriff infiltrados, der im gleichen Bericht auch für eine vermeintliche Unterwanderung der Indígena-Demonstrationen durch die FARC verwendet wurde. 

Nun haben die Mitgliedsorganisationen des Red de Hermandad – einschließlich der europäischen Gruppen – eine Todesdrohung von der paramilitärischen Gruppe „Schwarze Adler“ bekommen. Welche Konsequenzen hat das für eure Arbeit?

F.M.: Durch die konkrete Gefahr behindert die Tatsache, dass wir zum „militärischen Ziel“ paramilitärischer Todesschwadronen erklärt wurden, sowohl die Arbeit der nationalen als auch der internationalen AktivistInnen. Andererseits hat der Vorfall eine neue Solidaritätswelle ausgelöst und die Überzeugung gestärkt, dass die Unterstützung der Menschenrechtsarbeit in Kolumbien sehr wichtig ist. Aber das ist eher eine theoretische Einschätzung von außen.

K.L.: Die Drohung kam in einem Moment, als nach der Ausweisung von Friederike unsere Presse- und Lobbyarbeit in Bogotá auf Hochtouren lief. Natürlich hat uns das Angst gemacht, selbst auf der Todesliste zu stehen. Die Drohung sagte deutlich: Schweigt oder wir bringen euch zum Schweigen. Eine Zeit lang waren wir fast nur noch mit uns selbst beschäftigt: Die Ausweisungen, die öffentlichen Anfeindungen und die Drohung mussten angemessen beantwortet werden und wir suchten überall nach Unterstützung. Schließlich waren wir sehr beeindruckt von der großen Solidarität: Wir haben es geschafft, eine breite Unterstützung für unsere Arbeit zu mobilisieren, so dass wir diese fortsetzen können. Mehr als 30 EuropaparlamentarierInnen wandten sich in einem Protestbrief an die kolumbianische Regierung, und viele in Kolumbien arbeitende Menschenrechts- und Hilfsorganisationen äußerten sich besorgt über die Ereignisse. Die deutsche Botschaft hat angeboten, uns juristisch im Fall der Todesdrohung zu unterstützen, auf diplomatischer Ebene suchte sie das Gespräch mit dem Außenministerium sowie mit der Geheimdienst- und Ausländerbehörde DAS, um über die Ausweisungen zu sprechen.

Nicht einen Moment aus den Augen lassen – ilawordpress