Das Handy surrt, eine SMS erscheint auf dem Bildschirm: „Im August gingen die ,Remesas’, die Geldüberweisungen der in den USA lebenden MexikanerInnen an ihre Familien daheim, im Vergleich zum Vorjahresmonat um 11,6 Prozent zurück. Damit liegen sie so niedrig wie seit 30 Monaten nicht mehr.“ Unaufgefordert verschickt eine Nachrichtenagentur allabendlich Meldungen auf Prepaid-Geräten und verbreitet Untergangsstimmung. Es ist der 1. Oktober, vorgestern sind wir in Mexiko angekommen. Am 2. Oktober titelt die Tageszeitung La Jornada, die Arbeitsrechtsreform sei ein Outsourcing total (sic). Das klingt nach Aufforderung zum Protest. Tatsächlich: Schon am Vormittag ist der Senat blockiert, die Demonstrierenden, die gewöhnlich am Jahrestag des bis heute nicht wirklich aufgeklärten Massakers von der Plaza de Tlatelolco am 2. Oktober 1968 zu mehreren Zehntausend den zentralen Zócalo-Platz der Hauptstadt belagern, haben sich diesmal vervielfacht und protestieren auch dort, wo der designierte Präsident Enrique Peña Nieto mit der Arbeitsrechtsreform schon vor Beginn seiner Amtszeit am 1. Dezember 2012 Pflöcke setzen möchte, „um das Land für ausländische Investoren attraktiv und den Arbeitsmarkt entsprechend flexibel zu machen“. Der arbeitenden Bevölkerung schwant Schlimmstes.
In Mexiko ist die Übergangszeit bis zur nächsten Regierung lang wie nirgends sonst, aber ruhig ist sie nicht. Außer im 46-köpfigen Übergangsteam des neuen Regierungschefs, dem die weltweit wohl längste Interimszeit (fünf Monate) für fragwürdige Propaganda zur Verfügung stehen, herrscht nirgends Optimismus. Die konservative PAN hat nach zwei Amtszeiten das Zepter zurückgeben müssen an die PRI, die 70 Jahre lang bis 2000 geherrscht hatte, mit allem, was das an Filz, Korruption und Verknöcherung bedeutet. Jetzt muss Peña Nieto glaubwürdig verkaufen, dass die PRI-Dinosaurier weder auf der Bühne stehen noch als graue Eminenzen hinter den Kulissen das Geschehen lenken. Eine heikle Aufgabe für die erwähnten 46 ÜbergänglerInnen, ganz besonders in Sachen Menschenrechte.
Das wird am Abend des besagten 2. Oktober im Gespräch der EP-Delegation mit VertreterInnen der alten und neuen Regierung deutlich. Die alte verweist auf eine beträchtliche Zahl von Verfassungsänderungen und Gesetzen, die sie im Bereich Menschenrechte auf den Weg gebracht hat, auf die Umsetzung von Urteilen des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs und auf die laufende Justizreform, die im Wesentlichen von schriftlicher Beweissammlung auf mündliche Zeugenbefragung umstellt, auf die neue Praxis der Transparenz. Man hat den Eindruck, es habe lediglich an Zeit gefehlt, die wunderbaren Instrumente allen bekannt zu machen. Claudia Ruiz Massieu, im PRI-Übergangsteam für diesen Bereich zuständig, hebt ihrerseits gerade nicht auf die Neuausrichtung der kommenden Regierung ab, wie man das nach einem Regierungswechsel erwarten könnte, sondern spricht von Kontinuität. Der Schulterschluss mit der PAN ist der PRI bei dem Thema Menschenrechte offenbar lieber als Erinnerungen an die blamablen Zustände zu PRI-Zeiten bzw. unter PRI-Gouverneuren wachzurufen, so etwa noch bis 2010 unter dem Gouverneur Ulises Ruiz in Oaxaca, dem die Organisation und Finanzierung der UBISORT-Paramilitärs nachgesagt wird, die unter vielem anderen mutmaßlich auch den Überfall auf die humanitäre Karawane und den Mord an Jyri Jaakkola und Bety Cariño auf dem Gewissen haben. Oder Enrique Peña Nieto selbst, der Gouverneur im Bundesstaat Mexiko war, als dessen Sicherheitskräfte 2006 in der Stadt Atenco bei Demonstrationen auf AnwohnerInnen einprügelten, 207 Personen festnahmen, 26 Frauen vergewaltigten – bislang ungesühnt.
Menschenrechtsgruppen billigen der PAN-Regierung bei der Menschenrechts-gesetzgebung Fortschritte zu, konstatieren aber gleichzeitig die wachsende Kluft zwischen normativen Neuerungen und deren nicht vorhandener Umsetzung. Ein im April kurz vor Ende der Legislatur angenommenes Gesetz zum Schutz von MenschenrechtsverteidigerInnen und JournalistInnen, an dem Gruppen aus der Zivilgesellschaft jahrelang, am Ende erfolgreich, mitgearbeitet hatten, hängt in der Luft. Zur Gründung des Konsultativausschusses wurden nämlich äußerst dubiose angebliche Menschenrechtsgruppen eingeladen, die niemand kennt. Andere blieben explizit ausgeschlossen. Die Sitzung platzte, berichtet uns das Netwerk R-TDT („Alle Rechte für alle“) bei einem Treffen, bei dem sie auch die sehr ernüchternden Ergebnisse einer mehrtägigen Mission zur Lage der MenschenrechtsverteidigerInnen in Oaxaca vorstellten. Gegen ein neues Gesetz zum Opferschutz (Ley de Víctimas) legte der PAN-Präsident Felipe Calderón am letzten Tag seiner Amtszeit ein Veto ein und brachte danach ein eigenes ein. Die Justizreform wird bislang nur in drei von insgesamt 31 Bundesstaaten angewandt. Es gibt keine nationalen Datenbanken und keine ernsthaften Untersuchungen, klagen unisono Gruppen und Netzwerke, die zum landesweiten Phänomen der Frauenmorde, den feminicidios, arbeiten. Sonderstaatsanwälte, Arbeitsgruppen und Sonderbeauftragte werden ins Leben gerufen, tun ihren Propagandazweck und verschwinden alsbald wieder. Die Lage scheint gegenüber unserem letzten Besuch im September 2011 noch schwieriger geworden zu sein. Erstmalig berichten Menschenrechtsgruppen, sie müssten einen Teil ihrer Zeit darauf verwenden, Selbstschutzmechanismen zu entwickeln, da sie zunehmend selbst ins Visier geraten – bei AnwältInnen steigt die Kurve besonders schnell. Das sind andere Töne als diejenigen, die wir von der Regierung hörten.
Claudia Ruiz Massieu vom Übergangsteam sei aus Guerrero, sagt Cristina Harnaga von der 2011 mit dem deutschen Amnesty-International-Preis ausgezeichneten Menschenrechtsorganisation Tlachinollan. Gewiss, Ruiz Massieu sei sympathisch und redegewandt, habe in den USA studiert, aber als bisherige Abgeordnete habe sie sich nicht als Menschenrechtsexpertin geoutet. Wir sind auf dem Weg nach Chilpancingo, der Hauptstadt des Bundesstaats Guerrero, um uns ein besseres Bild von der Menschenrechtssituation in Mexiko zu verschaffen. Cristina zeigt vom Auto aus auf hügeliges Gelände. Dort wurden im Juli zwei Tote gefunden. Sie sei zur Identifizierung dort gewesen mit Victoria Bautista und Coral Rojas, Tochter von Marcial Bautista die eine, von Eva Alarcón die andere. Die beiden ÖkoaktivistInnen aus der Sierra von Petatlán, die sich gegen die Abholzung des Waldes in einem zunehmend von Drogenmafia im Verein mit Großgrundbesitzern bedrohten Gebiet wehren, sind seit dem 7. Dezember 2011 verschwunden. Sie wurden auf dem Weg in die Hauptstadt aus einem Bus gezerrt. Es gibt Zeugen, aber keine ernsthaften Justizuntersuchungen. Doch die Leichen waren nicht der verschwundene Vater und die verschwundene Mutter und passten auch zu keinen sonst in Guerrero vermissten Personen. So wurden sie als unbekannt begraben. Der Bundesstaat Morelos beginnt zehn Kilometer weiter. Aber da wurde nicht nachgefragt.
Victoria und Coral setzen die Arbeit ihrer Eltern fort, junge Frauen mit einem unglaublichen Mut, den sie mit allen anderen AktivistInnen teilen, die wir im Menschenrechtsbüro in Chilpancingo treffen. Tita Radilla zum Beispiel, deren Vater Rosendo Radilla seit den 70er-Jahren verschwunden ist, wie so viele in Guerrero. Wer ihren Vater entführt habe, sei bekannt, sagt Tita. Aber in Mexiko wurde nie jemand für die Tat vor Gericht gestellt. Erst der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof (CIADH) gab Tita im November 2009 Recht und forderte ein Gerichtsverfahren, die Abschaffung der Militärjustiz und Wiedergutmachung. Doch die mexikanische Regierung setzte das Urteil so lückenhaft und entwürdigend für die Opfer um, dass Tita weiterkämpft. Das ist umso wichtiger, als nach zwei Jahrzehnten, in denen die Zahl der Verschwundenen zurückging, in der Regierungszeit Calderóns (seit 2006) die Zahlen wieder stark steigen.
Auch Valentinas Fall kam zusammen mit dem von Inés vor den CIADH. Die Indígenas wurden beide 2001 von Soldaten vergewaltigt. Valentina erzählte, wie sie Anzeige erstattete, darauf ihr Dorf verlassen musste, weil die Gemeinde Angst vor Repression hatte, ihr Mann sie verließ und sie jahrelang mit ihrer Tochter versteckt lebte, 2010 Spanisch lernte und zur Schule ging. Im Dezember 2011 erging das CIADH-Urteil; auch dieses wurde nur unzulänglich umgesetzt. Wenigstens hat sich die mexikanische Regierung bei Valentina entschuldigt – ein Akt, der für Valentina der wichtigste überhaupt ist. In die Gemeinde will sie erst zurück, wenn sie Medizin studiert hat, um den Ihren etwas geben zu können.
Genauso wenig gibt es ein mexikanisches Gerichtsverfahren im Fall der zwei erschossenen Studenten vom Internat für Landschullehrerausbildung. Drei der Studenten von dort erzählen, wie sie im vergangenen Dezember die Durchgangsstraße von Chilpancingo blockierten, um gegen die drohende Schließung der öffentlichen Fachhochschule zu demonstrieren. Der Staat, sagen sie, will die als rebellisch geltenden Schulen schließen und komplett durch Privatuniversitäten ersetzen. Keiner der Studenten habe erwartet, dass die heranrückenden Soldaten das Feuer auf sie eröffneten.
Dagegen war der Mord an Bernardo angekündigt. Eine Schmiererei an einem Standmauer auf der Straße nach San José Progreso im Bundesstaat Oaxaca sagte voraus, was im März 2012 geschah. Auf der Heimfahrt von einer Veranstaltung wurde das Auto von Bernardo Vázquez Sánchez an einer Bremsschwelle angehalten und das Feuer eröffnet. Der Agraringenieur starb, sein Bruder und eine Freundin wurden schwer verletzt. Bernardo war der Kopf des Widerstandes gegen den Gold- und Silberabbau durch das kanadische Unternehmen Fortuna Silver Mines in dem Ort, ein Pilotprojekt, das in den nächsten Jahren auf das Zehnfache ausgebaut werden soll. Schon jetzt braucht der Abbau 600 000 Liter Wasser täglich. Im Januar hatten Bewaffnete im Dienst der Bergbaubefürworter irrtümlich einen anderen Bernardo im Ort erschossen. Mitglieder der CPUVO[fn]Coordinadora de Pueblos Unidos del Valle de Ocotlán – „Zusammenschluss der Vereinten Völker des Ocotlán-Tales“[/fn], die die AbbaugegnerInnen vereint, zeigen uns die Einschusslöcher in einer Wand in der Hohlgasse zu dessen Haus. Bernardos Frau erzählt, wie ihr Mann nachsehen ging, „was denn da draußen los sei“, jemand erwähnt den Walkie-Talkie-Befehl, auf „Bernardo“ zu schießen. Auch hier wäre es ein Leichtes, die Täter festzunehmen. Stattdessen herrscht in dem Ort gespenstische Ruhe. Der Bürgermeister und ein Teil der Bevölkerung sind für den Tagebau, weil sie sich Arbeitsplätze und Fortschritt erhoffen und weil Befürworter unter den Lokalpolitikern viel Geld von Fortuna Silver bekommen. Wenige Tage nach unserer Abreise spitzt sich die Lage zu. Wasserrohre werden unter starkem Polizeischutz verlegt. BergbaugegnerInnen verlangen, Genehmigungen zu sehen. Die Polizei hält ihnen lediglich ihre Gewehre entgegen. Es gibt bereits erste Verletzte. Indessen geht Rosalinda, die in Bernardos Auto überlebte, auf Krücken und wartet seit Monaten auf ihre von der Regierung Oaxacas versprochene Reha-Maßnahme.
Auf die Bergbauproblematik angesprochen, äußert sich Oaxacas Gouverneur Gabino Cue ambivalent, wenn nicht positiv. Schließlich herrscht in Mexiko Goldgräberstimmung. Landesweit wird im Jahr 2012 fünf mal so viel privat in Bergbau investiert wie noch im ersten Jahr unter Felipe Calderón. Laut Wirtschaftsministerium hat die scheidende Regierung 53 Prozent des Bodens an Schürfrechten vergeben, das sind 32,5 Millionen Hektar Land.[fn]Siehe: Proyecto de Derechos Económicos, Sociales y Culturales A.C.: El Impacto de la Industria Extractiva en los Derechos Humanos en Mexiko, www.prodesc.org[/fn]
Ausweichende Antworten auch bei einem weiteren Konfliktfeld, den Windparks. Gabino Cues Menschenrechtsbeauftragte Eréndira Cruzvillegas verweist darauf, dass Energieversorgung nationale Angelegenheit sei. Im Isthmus im Süden Oaxacas weht der Wind besonders heftig. Marena Renovables, Tochterfirma eines spanischen Unternehmens, will dort auf einer ökologisch sehr fragilen Landzunge 132 Windräder aufstellen. Die nicht gefragten BewohnerInnen von San Dionisio del Mar protestieren und werden dafür bedroht. Derweil hat der Bürgermeister Geld vom Unternehmen bekommen und verteidigt das Projekt. VertreterInnen der Gegner stellen uns gegenüber klar, dass sie nicht gegen Windkraft per se sind. Ein Projekt in eigener Hand in unbedenklicher Umgebung sollte in Ixtepec entstehen. Doch die nationale Energiebehörde sieht keine private Einspeisung ins Stromnetz vor. Pustekuchen.
Am letzten Tag unseres Besuches mache n wir an der Lechería im Norden der Hauptstadt Halt. Die ehemalige zu einer Pfarrei gehörende Herberge für MigrantInnen aus Zentralamerika ist seit kurzem geschlossen. AnwohnerInnen hatten sich gewehrt und eine „migrantenfreie“ Zobne gefordert. Das Ergebnis: das „“Umsteigen“ an disem Zugkreuz ist noch gefährlicher geworden. Als „Papierlose“ reisen die MigrantInnen aus Honduras oder Guatemala heimlich auf dem Dach von Güterzügen, mehrere hundert täglich springen hier hinunter – nicht selten kommt es zu größere Unfällen – um kurz zu pausieren und Kraft zu sammeln für den Rest der Strecke. Irgendwie überwinden sie die 50 km bis zum Startpunkt der Gleise nach Norden. Dort sind inzwischen zwei neue Auffanglager entstanden. In einem kümmern sich Studierende rund um die Uhr um die erschöpften Neuankömmlinge, kaum mit dem Allermindesten ausgestattet. Es gibt nicht einmal eine Liege, auf der Kranke untersucht werden können, erzählt uns ein Student in der Facharztausbildung, der hier ebenfalls freiwillig Dienst schiebt. Die MigrantInnen sind auf ihrem Weg in den ungewissen Norden ständig Übergriffen ausgesetzt, von Kidnappern und Schleppern ebenso wie von Polizisten, die sie ausrauben. Wer sich traut, mit uns zu reden, erzählt Unglaubliches. Ein Transitvisum würde ihnen zumindest Rechte geben. Doch Mexiko weigert sich, als Erfüllungsgehilfe der USA, solche auszustellen.
Auf dem Weg zurück in die Innenstadt fragt Satu Hassi: „Ob wir bei unserem nächsten Besuch in Mexiko etwas noch Schlimmeres sehen werden?“ Ich glaube kaum. Dieser nächste Besuch wird kommen. Denn dass der Fall Jyri und Bety nun auf dem Weg der Lösung ist, glaubt selbst der optimistische Anwalt David Peña nicht. Sobald der erste Haftbefehl ausgeführt ist, läuft die Uhr, innerhalb von sechs Monaten muss es zum Prozess kommen. Aber werden die Haftbefehle auch ausgeführt? Und was ist mit den Hintermännern? Die werden in Mexiko nicht belangt. Anwalt Peña hofft, dass in Finnland ein Verfahren gegen den Ex-Gouverneur Ulises Ruiz, den mutmaßlichen Organisator und Financier der paramilitärischen UBISORT-Gruppe, angestrengt wird, die San Juan Copala terrorisierte. Kurz nach den Morden wurden dessen BewohnerInnen endgültig vertrieben. Zurückkehren konnten sie bis heute nicht. Zwar unterstreicht Gouverneur Gabino Cue, seine Regierung habe mittlerweile ein Friedensabkommen zustande gebracht. Doch die gleichen Paramilitärs wie damals halten die Gegend weiter unter Kontrolle. Von Frieden keine Spur, sagen die Indígenas.