Wir könnten heute drei Häuser besitzen und ein ruhiges Leben führen“, sagt meine Tante Carmen und lacht. „Aber wir sind trotzdem froh, weil wir unsere Pflicht erfüllt und unseren Kindern einen Universitätsabschluss ermöglicht haben.“ Carmen wohnt mit ihrem Mann Luis in einer 50 Quadratmeter kleinen Wohnung an einer stark befahrenen Straße mitten in Santiago. Das Gebäude ist vier Stockwerke hoch und ziemlich in die Jahre gekommen, Straßenlärm und Smog dringen durch die dünnen Fensterscheiben, der Wind zieht durch die Ritzen. Bis vor einigen Jahren haben auch die Kinder noch hier gewohnt, zu zweit in einem winzigen Schlafzimmer. Unter diesem Eindruck hatte ich meine Verwandten immer als arm betrachtet. Ein Trugschluss. Carmen und Luchín haben sich die Gebühren für Schule und Uni ihrer Kinder immer vom Munde abgespart, über die Jahre sind pro Kind wohl an die 35 000 Euro für die Bildung draufgegangen. Dass es ohne Schulden geklappt hat, ist ihrer Weitsicht zu verdanken und einer Erbschaft. Mein Onkel Luchín hat immer zwei, manchmal sogar drei Arbeitsplätze parallel gehabt und kam selten vor neun Uhr abends nach Hause. Das eine Gehalt ging komplett an die Schulen und Unis. Meine Tante half, wo sie konnte. Sie putzte und bügelte in anderen Häusern, verkaufte Kunsthandwerk und selbstgemachte Leckereien. „Für uns wäre es unmöglich gewesen, unseren beiden Kindern mit einem Lehrergehalt ein Hochschulstudium zu ermöglichen. Daher haben wir etwa fünf Jahre vorher angefangen zu sparen und viele Opfer gebracht, weil uns der Gedanke unerträglich vorkam, dass unsere Kinder aus finanziellen gründen ihre Fähigkeiten nicht ausschöpfen könnten“, erklärt mein Onkel.
Das Bildungssystem im OECD-Land Chile ist eines der teuersten weltweit, denn der Staat hat sein Engagement für Bildung radikal zurückgefahren. Er finanziert die Bildungseinrichtungen mit gerade mal 14,6 Prozent, fast 80 Prozent der Kosten tragen die Familien. Da die meisten staatlichen Schulen einen miserablen Ruf haben, schicken alle, die es sich leisten können, ihre Kinder auf private Schulen. Wie gut die Ausbildung ist, die ein Kind erhält, hängt also in höchstem Maße von den finanziellen Möglichkeiten seiner Familie ab. Drei Fünftel der ChilenInnen verdienen im Schnitt knapp 800 Euro im Monat. Das Studium an einer privaten Uni kostet rund 6000 Euro im Jahr, 4000 Euro sind es auch an einer staatlichen Hochschule. Das ist für viele Familien unmöglich zu stemmen, und so bleibt den meisten Studierenden nichts anderes übrig, als einen überteuerten Kredit aufzunehmen. Um die hohen Studiengebühren zu zahlen, sind weite Teile der Mittelschicht verarmt und/oder bei Privatbanken verschuldet. Falls die Studierenden ihren Abschluss nach vier oder fünf Jahren erreichen, ist damit noch nicht garantiert, dass die erworbenen Qualifikationen ausreichend sind. Und im Falle einer schnellen Anstellung starten sie mit einem Berg Schulden ins Berufsleben. So wie Felipe Neuenschwander, einer der landesweit 350 000 verschuldeten Studierenden: „Durch die hohen Zinsen zahle ich letzten Endes das Doppelte an Studiengebühren“, erzählt er. Felipe ist seit 2005 mit seinem Studium an der Universidad del Pacífico fertig und hat noch immer rund 13 000 Euro Schulden.
2011 gingen landesweit Tausende SchülerInnen, Studierende und auch LehrerInnen und ProfessorInnen auf die Straße, um gegen die katastrophalen Zustände im Bildungssystem zu protestieren. Geändert hat sich seitdem wenig. Von einem Recht auf Bildung kann keine Rede sein. „Die Menschen müssen lernen, dass nichts in diesem Leben umsonst zu haben ist“, kommentierte Präsident Sebastián Piñera damals lapidar. Ein Satz, der fast schon höhnisch klingt angesichts von Familiengeschichten wie der von Iván Puga: „Mein Vater ist vor acht Jahren gestorben, deshalb trägt meine Mutter jetzt die gesamte Verantwortung. Mit ihrem Gehalt von 300 000 Pesos (ca. 480 Euro) muss sie uns drei Kinder durchbringen, das reicht gerade für das Nötigste. Mein älterer Bruder und ich haben einen Kredit aufgenommen, um studieren zu können. Mein jüngerer Bruder macht im nächsten Jahr seinen Schulabschluss. Er hat glänzende Noten und es macht mich traurig, dass auch er sich verschulden muss, um zu studieren, nur weil wir zur Mittelschicht gehören.“
So sucht sich jede Familie ihren Weg. Um Kosten zu sparen, wohnen die Kinder in vielen Familien noch bis Ende des Studiums und darüber hinaus bei ihren Eltern. Alex Mora hat für sich entschieden, das Land ganz zu verlassen. Nach den ersten beiden Studienjahren ist die Firma seiner Eltern Pleite gegangen, so dass seine Familie ihn nicht mehr unterstützen konnte. Da hat er sich an einer deutschen Universität beworben und ist Mitte der 90er-Jahre nach Münster gekommen. So fiel er seinen Eltern weniger zur Last. Miete, Essen und sonstige Lebenshaltungskosten in Deutschland waren immer noch günstiger als die Uni in Chile.