Seit den Morden an den beiden MenschenrechtsverteidigerInnen Jyri Jaakkola aus Finnland und der Mexikanerin Bety Cariño vor beinahe fünf Jahren fuhren grüne Europaab- geordnete um die damalige finnische Europaabgeordnete (MEP) und frühere Umweltministerin ihres Landes, Satu Hassi, mindestens einmal im Jahr nach Mexiko, um mit staatlichen Behörden über ernsthafte Untersuchungen und ein Verfahren zu ringen. Jedes Mal gab es Fortschritte und jedes Mal Stagnation, sobald die MEPs die Rückkehr nach Europa antraten. Die Ausstellung der 14 Haftbefehle im Jahre 2012 war einer dieser Fortschritte, aber Folgen hatte dieser Schritt nicht. Der mexikanische Senat, die finnische und die EU-Botschaft schalteten sich ein. Ergebnislos. Der Übergang von Präsident Calderóns PAN- zu Peña Nietos PRI-Regierung änderte nichts. Der Fall gilt unter MenschenrechtlerInnen längst als emblematisch für die fast totale Straflosigkeit in Mexiko.
Dabei war die Aufklärung des Doppelmords an sich nicht schwierig. Es gab unter den TeilnehmerInnen der humanitären Karawane, die die beiden ermordeten MenschenrechtlerInnen eigentlich schützen wollten, rund 20 Verletzte, die als ZeugInnen infrage kämen, dazu weitere ZeugInnen aus der Umgebung. Die das Ziel der Karawane, die autonome indigene Gemeinde San Juan Copala, belagernde paramilitärische Gruppe Ubisort war bekannt. Ihr Chef Rufino Juárez saß seit 2011 in Haft, wegen eines anderen Mordfalls. Die Anwälte von Jyri und Bety, Micheel Salas und David Peña, hatten die Identifizierung und Lokalisierung der 14 Tatverdächtigen sowie die Suche nach aussagewilligen ZeugInnen selbst durchgeführt, da Ermittlungen in Strafsachen in Mexiko ein so gut wie unbekanntes Handwerk sind. Betys Witwer Omar Esparza hatte dann im April 2014 aus Verzweiflung wegen der Untätigkeit der Behörden Namen, Fotos und Daten der 14 an den Zaun der Generalstaatsanwaltschaft in Mexiko-Stadt gehängt und an Ort und Stelle mit Freunden einen Hungerstreik begonnen.
Im November 2014, mittlerweile international im Fokus wegen der 43 Verschwundenen und sechs Toten in Iguala, sagte die Regierung (wieder einmal) zu, bis Weihnachten drei der gefährlichsten Tatverdächtigen – alle drei in Gemeinden Oaxacas mit öffentlichen Ämtern betraut! – festzunehmen. Nur einen von ihnen erwischte es dann am 20. Januar, Elías Cruz Merino, bis Ende Dezember Standesbeamter in Tuxtlahuaca. Sein Vater Toño Pájaro setzte umgehend eine Drohungsmaschinerie in Gang. ZeugInnen, die ausgesagt hatten, mussten mit ihren Familien fliehen. Sie, die Anwälte wie auch der Witwer Betys hatten nun Angst vor Angriffen und baten die Regierung um Schutz. Doch die Regierungen auf Bundestaats- wie auf föderaler Ebene zeigten ein dickes Fell und spielten sich gegenseitig die Bälle zu. „Dieses Pingpong ist nur ein Versteckspiel. Mir ist egal, wie die Verantwortlichkeiten in Mexiko verteilt sind. Es muss einfach endlich vorwärtsgehen“, sagte Ex-MEP Satu Hassi in Oaxaca auf einer Pressekonferenz nach einer Unterredung mit Gouverneur Gabino Cue und VertreterInnen der Staatsanwaltschaft und der Menschenrechtsabteilung. „Aber Überlebende und ZeugInnen brauchen endlich wirksamen und andauernden Schutz.“ Sie forderte dies auch im Außen- und Innenministerium in der Hauptstadt, nicht zum ersten Mal.
Satu Hassi ist in diesem Februar zum siebten Mal in Oaxaca und will das Verfahren durchkämpfen bis zum Ende. Die allgemeine Straflosigkeit soll einmal exemplarisch durchbrochen werden. Dazu wird sie wiederkommen, jedes Jahr. Auch wenn Ska Keller fürchtet: „Wenn die Festnahmen weiterhin nur dann passieren, wenn wir anreisen, brauchen wir noch ein bis zwei Jahrzehnte bis zum Prozess.“ Satu Hassis Landsfrau und MEP Heidi Hautala verweist auf die mit der Straflosigkeit verbundenen Gefahren: „Die gesamte Gesellschaft bricht zusammen, wenn die Regierung es nicht schafft, ein unabhängiges und funktionierendes Rechtssystem zu etablieren.“
JournalistInnen verfolgten die Reise sehr aufmerksam. Dutzende Artikel erschienen. Immer wieder wollte die Presse wissen, ob die Abgeordneten den Eindruck hätten, die Lage in Mexiko habe sich verschlimmert, seit sie vor knapp fünf Jahren zum ersten Mal im Land waren. Satu Hassi verwies auf die erschreckenden Berichte, die ihnen MenschenrechtsverteidigerInnen in Oaxaca und in Mexiko-Stadt vorgelegt haben. „Aber auch ohne diese Daten“, sagte sie, „war meine Familie in Finnland erschrocken, als ich sie von meinen neuerlichen Reiseplänen informierte. Seit der Tragödie von Ayotzinapa halten sie Mexiko für ein Land, in das man nicht mehr sicher fahren kann.“
Auch in Oaxaca ist Ayotzinapa überall, stellen die grünen Europaabgeordneten fest. Am Flughafen steht eine Boeing 747 mit der Aufschrift Policía federal. Die örtliche Polizei ist wegen ausbleibender Gehaltszahlungen im Streik und hat sich in ihrer Kaserne verbarrikadiert. Zwei Tage vor der Ankunft der MEPs hatte die föderale Polizei die Kaserne beschossen. Es gab Verletzte. Doch die lokale Polizei gab nicht auf. So war in der Stadt keine Polizei zu sehen. Doch auf den ersten Blick war alles ruhig. An Wänden prangten die Fotos der 43 Verschwundenen. Aus einem Tor des Museums für Moderne Kunst Oaxacas klingt die Rezitation eines Gedichts. Im Innenhof, schwarz ausgemalt, hockt ein junger Mann und zündet Totenkerzen an. Hinter ihm stehen Leute und blicken auf ein langes, großflächig auf die schwarze Wand aufgetragenes Gedicht, das gerade über Lautsprecher rezitiert wird. Es heißt Ayotzinapa.
Bei der 18. Sitzung des Gemeinsamen Parlamentarischen Ausschusses (GPA) EU-Mexiko in Mexiko-Stadt, die sich an die Oaxaca-Reise anschließt, ist das Drama von Iguala ebenfalls das beherrschende Thema. Zum ersten Mal sind damit Menschenrechte direkt ins Zentrum des GPA gerückt. Bis 2012 waren sie überhaupt nicht und dann nur im Hinblick auf den „Einzelfall“ Jyri und Bety vorgekommen. Diesmal jedoch will nur noch ein PRI-naher Europaabgeordneter innerhalb der 11-köpfigen MEP-Gruppe lieber einfach die „historische Wahrheit“ glauben, wie sie Präsident Peña Nieto ausgerufen hatte: es handele sich um einen Einzelfall, verwickelt seien lediglich lokale Politiker und die lokale Polizei in Iguala, die die von einem gegnerischen Kartell (Los Rojos) infiltrierten Studenten Bandenmitgliedern der Guerreros Unidos übergeben hätten. Diese hätten die 43 um die 20 Jahre alten Männer, sicher keine gebrechlichen Krüppel, auf einen Laster geladen, dann erstickt oder erschossen, auf einer Müllkippe in Cocula verbrannt und die Asche in einen Fluss geschüttet. Keine weiteren Spuren vorhanden. Soweit die haarsträubende Räuberpistole, die Generalstaatsanwalt Murrillo Karam im Wesentlichen schon am 7. November mit der Geste „Mir reicht’s“ (Ya me cansé) der Presse und dann den Eltern vorgestellt hatte. Nach den erheblichen neuerlichen Protesten am 27. Januar, vier Monate nach den fürchterlichen Ereignissen, dekretierte der Präsident dann den Carpetazo, das Zuschlagen des Dossiers, da alles geklärt sei.
Um diese hanebüchene Version den MEPs schmackhaft zu machen und danach zu ernsteren Themen wie der Modernisierung des Globalabkommens EU-Mexiko aus dem Jahr 2000 überzugehen, wählte die Regierung diesmal die Vorwärtsverteidigung. Die ersten offiziellen Vorträge seitens der Regierung kreisten um das Thema Menschenrechte. Doch schon Vizeaußenminister Icaza musste auf Einspruch der MEPs zurückrudern, nachdem er erst vom Abschluss des Falles gesprochen hatte. Den folgenden Staatssekretären aus dem Innenministerium, einschließlich der Beauftragten für Menschenrechte Lia Limón, ging es nicht anders. Die Pirouette des Staatssekretärs Felipe Solís, der die gerade eingegangenen, Mexiko ohrfeigenden Empfehlungen des UN-Komitees für das Verschwindenlassen lobte, um sie dann als unbotmäßig ideologisierenden Unsinn abzutun, konnten die MEPs nur als Reaktion eines in die Enge Gedrängten begreifen.
Inzwischen hatten einige Abgeordnete die seit dem 7. Februar zirkulierende glasklare Absage der argentinischen Forensiker der EAAF an einen Abschluss der Untersuchungen in den Händen.[fn]http://kehuelga.sancristencia.org/spip.php?article89[/fn] Sachlich-wissenschaftlich wiesen die Forensiker darin nach, warum derzeit keineswegs davon ausgegangen werden kann, dass die Studenten in der Müllkippe von Cocula verbrannt wurden.
Das anschließende Treffen mit MenschenrechtsverteidigerInnen und danach mit rund 20 Elternteilen der 43 Studenten ließ niemanden ungerührt. Aber die Regierung wähnte sich noch im Besitz eines Jokers: Omar Fayad, PRI-Abgeordneter, Vorsitzen- der des Sicherheitsausschusses, enger Gewährsmann von Peña Nieto und Murillo Karam. Am folgenden Tag, dann schon im Beisein der mexikanischen Abgeordneten des GPA, erschien er am Tagungsort, dem Plenarsaal des Senats. Arrogant und laut verteidigte er den Abschluss der „Aufklärungen“ und die lediglich lokale Dimension des Verbrechens und beschuldigte die Eltern, radikalen ideologischen Rattenfängern auf den Leim zu gehen, wenn sie behaupteten, ihre Kinder seien nicht dort, wo die Regierung sie verortet, und die Geständnisse seien ein Fake. Zum besseren Verständnis kündigte er ein vierminütiges Video an, das tatsächlich 40 Minuten dauerte.
Die konservativen Europaabgeordneten waren erschüttert, zumindest halb überzeugt. Pina Picierno, sizilianische Abgeordnete von der sozialdemokratischen PD (Partito Democratico), die mit einem Vortrag zur Mafia angereist war, indessen riss es schier vom Sitz. Wieso man behaupten könne, das organisierte Verbrechen und nationale Politiker hätten nichts mit Iguala zu tun, rief sie empört. Claudia Moi von den italienischen Cinque Estelle („Fünf Sterne“) nannte das Video empört eine Mischung zwischen Ami-Krimi und Science Fiction.
Die Presse auf der Tribüne war begeistert. Für einmal funktionierte die Kunst des Simulacro, des „So-tun-als-ob“, um die Ihrigen zu schützen, der mexikanischen Regierung offensichtlich nicht. Mindestens ein Dutzend Artikel und etliche Radiobeiträge sprachen von der Demontage der PRI-Version zu Ayotzinapa durch Europaabgeordnete und die Abschlusserklärung des GPA von der Notwendigkeit, die Untersuchungen fortzuführen.[fn]www.polcms.europarl.europa.eu/cmsdata/upload/8ea086b6-147f-4629-ab51-49a41b3ff1a6/Joint%20Declaration%20-%2018th%20JPC%20EU-Mexico%20-%2019&20%20Feb%202015%20-%20Mexico%20-%20ES.pdf[/fn]
Die Regierung Mexikos ist im Zugzwang. Der Vertrauensverlust in den Rechtsstaat geht erstmals weit über die Menschenrechtsszene hinaus und hat internationale Dimensionen. Es gibt ein Vor und ein Nach Ayotzinapa, heißt es im diplomatischen Corps. Zitiert wird gern Finanzminister Videgaray. Dieser ließ jüngst den Economist wissen, dass Mexiko sein wirtschaftliches Potential nicht ausschöpfen könne, wenn es die Krise des Rechtsstaats nicht überwinde. Nach Ayotzinapa erkundigten sich Verbände in Mexiko angesiedelter europäischer Unternehmen bei ihren Mitgliedern nach der Stimmungslage. Ob die Bedingungen für Präsenz und Produktion denn noch gegeben wären. Eine Mehrheit sagte ja, mit einigen Bauchschmerzen (immerhin!). Schließlich ist Mexiko der weltweit zehntgrößte Exporteur und neuntgrößte Importeur, hat Freihandel seit 20 Jahren in der DNA, wie der mexikanische Botschafter in Brüssel es formuliert, in den letzten zwei Jahren in Rekordzeit sieben Großreformen und mit 50 Änderungen ein Drittel seiner Verfassung geändert. Das ist nichts anderes als die Versiegelung einer völligen Umkrempelung des mexikanischen Wirtschaftssystems. Telekommunikation, Energie und Infrastruktur stehen zum Verkauf. Dazu bietet sich ein dichtes Netz an Freihandelsverträgen als Sprungbrett in Märkte, Rohstoffe und Wirtschaften von Drittländern an. Peña Nieto sprach vom Mexican Moment. Und als der im Herbst zum „Hoppla, Moment mal?“ zu degenerieren drohte, legte der Präsident noch einmal mit zehn Reformen und einem Sonderprogramm für Chiapas, Guerrero und Oaxaca nach. Die drei ärmsten Staaten sollen mit Autobahnen, Häfen und anderer Infrastruktur über Public Private Partnerships (PPP) an den Fortschritt angeschlossen werden. Deutsche Kommunen ächzen unter solchen PPPs. Sie stehen mit den Schulden da, während die Firmen mit dem Profit davonziehen.
Die Europäische Kommission aber sieht die mexikanische Reform- und Projektwut mit Behagen. Vor zwei Jahren beschlossen EU-Ratspräsident van Rompuy und Mexikos Präsident Peña Nieto gerade deswegen eine Modernisierung des Globalabkommens EU-Mexiko. Angeblich sind die Verhandlungen der Kapitel Politischer Dialog und Kooperation bereits abgeschlossen. Die EU-Handelsdirektion lotet gerade in einem sogenannten Scooping exercise die wünschenswerten Dimensionen des künftigen Freihandelskapitels aus. Die Europaabgeordneten in Mexiko sollten das Vorhaben ausdrücklich unterstützen.
Aber das Thema verblasste hinter Ayotzinapa. Die Abgeordneten forderten, eine robuste Menschenrechtsdimension in das Abkommen einzuziehen. Doch die wird es im Handelskapitel nicht geben. Die Handelsdirektion versteht unter Rechtsstaat Investorensicherheit und hofft, diese im Abkommen zu verbessern. Schon klagen Menschenrechtsorganisationen, dass die Energiereform die Konsultation etwa von großen Projekten entscheidend erschwere.
Transnationale Unternehmen werden 2015 ihre Investitionen um 57 Prozent steigern, schreibt El Financiero am 19.2.2015. Und an anderer Stelle: Mexiko ist Lateinamerikameister in Fusionen und Firmenübernahmen. Diese Art von Investitionen führt in aller Regel zu Restrukturierungen und diese zu Entlassungen. Nur ein Beispiel: Bier. 2010 entfiel das Gros der europäischen Direktinvestitionen auf die Übernahme mexikanischer Brauereien durch Heineken. 2013 kaufte die belgische InBev den Bierbrauer Grupo Modelo, was 38 Prozent der europäischen Investitionen des Gesamtjahres ausmachte.
Ein dicker Batzen. Aber Bier ist Mexikos Nahrungsmittelexportprodukt Nummer eins in die USA. Das rechnet sich schnell für InBev. Rationalisierungen im Großbetrieb, niedriges Lohnniveau und Standortvorteil machen’s möglich. Sofern das modernisierte Globalabkommen im Kapitel „Nachhaltige Entwicklung“ Arbeitsrechte aufnimmt, wird deren Einhaltung nur angemahnt, nicht durchgesetzt werden können, denn das Kapitel hat keine Sanktionsgewalt. Die europäische Industrie freut sich. Wenn aber Europaabgeordnete lokale Entwicklung über höhere Investitionen aus Europa ankurbeln wollen, haben sie entweder etwas nicht verstanden oder sind Lobbyisten. Seitdem das Globalabkommen im Jahre 2000 in Kraft trat, sind organisierte Kriminalität, Korruption, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen in Mexiko enorm angestiegen. Auch wenn man keinen kausalen Zusammenhang sehen möchte, stellt sich die Frage, inwieweit Drogengelder in europäischen Unternehmen stecken oder von europäischen Banken gewaschen werden und damit das System als Komplizen schmieren. Nach Schätzungen fließen allein aus den USA jährlich zwischen 19 und 40 Milliarden US-Dollar Drogengeld nach Mexiko. Die Schweizer Niederlassung der Großbank HSBC wurde 2012 wegen Geldwäsche von US- Gerichten bereits zu rund zwei Milliarden US-Dollar Geldstrafe verurteilt. Nach den Lux- und Swissleaks kann niemand mehr ernsthaft glauben, dass europäische Banken bei Geldwäsche, Steuerhinterziehung und Steuervermeidung in Mexiko nicht mitmachen und europäische Firmen und Einzelpersonen davon profieren.
Auf Anfrage hat die EU-Handelsdirektion dazu keinerlei Zahlen, ja sich angeblich nicht einmal die Frage gestellt. In Zeiten von globalen Finanzströmen und Wertschöpfungsketten muss diese Frage aber gestellt und beantwortet werden. Zumindest einige der parlamentarischen Mexikofahrerinnen werden da nachhaken. Denn illegale Profite und Menschenrechtsverletzungen gehören direkt zusammen. Siehe oben.