Nur wer sich ändert bleibt sich treu

Bei den Interviews mit Andreas, Bettina und Gernot über ihre Arbeit in der ila klang an, dass ihnen Raum für inhaltliche Diskussionen fehlt. Die monatliche Erscheinungsweise der Zeitschrift ist ein enormer Sachzwang, der immer wieder die Konzentration der Kräfte auf die nächste Ausgabe einfordert und wenig Zeit für weitergehende Debatten lässt. Gernot meinte im Interview, dass früher mehr diskutiert worden sei und gemeinsame Positionen erarbeitet wurden. Das ist sicher richtig: Die Dynamik etwa der Mittelamerika-Solidaritätsbewegung verlangte geradezu, sich zu bestimmten Entwicklungen zu „verhalten“, wie es damals formuliert wurde. Wir wurden häufiger konkret gefragt, was sagt die ila zur Politik der FSLN gegenüber den Miskito-Indígenas, was zum bewaffneten Machtkampf innnerhalb der salvadorianischen FPL, wie haltet ihr es mit der Kampagne „Waffen für El Salvador“ oder unterstützt ihr einen Kongress, auf dem die Politik der cubanischen Regierung abgefeiert werden soll? Dann haben wir uns nach entsprechenden Debatten auf der ila-Sitzung „verhalten“. Diese Stellungnahmen haben uns in der Regel etwas Lob, ein paar kritische Leserbriefe und die ein oder andere empörte Abokündigung eingebracht. Heute wird wesentlich seltener eingefordert, sich derart zu äußern. Entsprechend weniger wird über gemeinsame Haltungen zu diesem oder jenem Phänomen diskutiert. Doch so präsent derartige Debatten bei vielen von uns noch sind, wie sehr wir dabei mit uns gerungen haben, manchmal um einzelne Worte (und wie trocken und verkrampft diese Papiere trotz allen Herzbluts manchmal daherkamen), wie viel Kraft das mitunter gekostet hat, waren sie – in der Rückschau – dennoch nicht unbedingt die entscheidenden Punkte, an denen wir uns wirklich weiterentwickelt haben, an denen uns Dinge klar wurden und an denen wir neue Perspektiven entwickelt haben. Diese Anstöße waren oft eher unspektakulär. Meist waren es einzelne Artikel, manchmal von ila-Leuten, manchmal von externen AutorInnen. Einige stießen Debatten an, andere wurden zustimmend zur Kenntnis genommen, weil uns die Argumentation überzeugte oder die Zeit einfach reif dafür war.

Eines der Themen, mit denen wir uns naturgemäß  immer wieder in unserer Geschichte auseinander gesetzt haben, war die Frage der „Solidarität mit wem“. Diese Debatte wurde in der Solidaritätsbewegung intensiv nach dem Sieg der Guerilleros/as von der FSLN über die Somoza-Diktatur in Nicaragua geführt. Die nicaraguanische Entwicklung hatte scheinbar bewiesen, dass die bewaffnete Revolution in Lateinamerika möglich war, zumindest in den Ländern Mittelamerikas unmittelbar auf der Tagesordnung stand. Aber wofür kämpften die GenossInnen? Wogegen sie kämpften, war klar, in Nicaragua gegen die Bereicherungsdiktatur des Somozaclans, in El Salvador gegen die Herrschaft der sogenannten 14 Familien, der tatsächlich aus einigen hundert Familien bestehenden Kaffeeoligarchie, die allen fruchtbaren Boden des kleinen dichtbesiedelten Landes unter sich aufgeteilt hatte. In den Diskussionen auf den Bundestreffen, manchmal auch bei Besuchen in der ila, erklärten die VertreterInnen der FSLN, der salvadorianischen FMLN und der guatemaltekischen URNG ihre Konzepte von nationaler Befreiung. Da sich ihre Länder in einem halbkolonialen Status befänden, stünde zunächst nicht die sozialistische Revolution auf der Tagsordnung, sondern der Kampf um nationale Befreiung, das Recht auf einen nationalen Entwicklungsweg. Dazu bedürfe es eines Klassenbündnisses mit den patriotischen Teilen des Bürgertums, gegen den US-Imperialismus und seine lokalen Statthalter. Noch 1980 wurde in der ila zwischen bösem und gutem Nationalismus unterschieden, nämlich dem imperialistischen, auf die Unterdrückung anderer Völker zielenden Nationalismus und dem fortschrittlichen Nationalismus, der die Befreiung von imperialistischer Unterdrückung anstrebe. Diesen Ansatz stellten wir in der ila aber bald in Frage. Konkreter Anlass waren Berichte über zunehmende Konflikte zwischen der sandinistischen Regierung in Managua und der indigenen bzw. schwarzen Bevölkerung an der Atlantikküste. Wiewohl wir in einer Erklärung darauf hinwiesen, dass diese Konflikte von der US-Regierung geschürt wurden, und uns weigerten, von einer systematischen Unterdrückung der Indígenas zu sprechen, gab es uns doch zu denken, dass die revolutionäre Führung aus RepräsentantInnen der spanisch-kreolischen Mehrheitsbevölkerung offensichtlich Angehörige ethnischer Minderheiten diskriminierte. Der Nationalismus hatte also auch bei „unterdrückten Völkern“ eine hässliche, ausgrenzende Seite.

Überhaupt bekamen wir zunehmend Probleme mit dem Begriff Volk. Wurde Anfang der achtziger Jahre noch gerne auf Demos die Parole „Un pueblo unido jamas será vencido“ („Ein vereinigtes Volk wird niemals besiegt werden“) skandiert, wurde zumindest den eher undogmatischen Teilen der Solibewegung zunehmend klar, dass nicht das „nicaraguanische Volk“ um die Verteidigung der Revolution kämpfte, genausowenig wie das „salvadorianische Volk“ um „seine“ Befreiung. Es waren die Leute aus den revolutionären Organisationen, den bäuerlichen und studentischen Gruppen, den Kooperativen, die mit großer Entschlossenheit und oft enormem persönlichen Risiko für die Revolution kämpften. Ich erinnere mich an eine hitzige Debatte Mitte der achtziger Jahre, als ein Repräsentant einer linken chilenischen Organisation auf einer Veranstaltung erklärte, das Volk in Chile stände hinter ihnen, und Gernot ihn daraufhin angriff und meinte, es sei doch Unsinn, immer noch so zu tun, als ob es in Chile die einfache Frontstellung Diktatur vs. Volk gäbe. Ganz offensichtlich habe das Pinochet-Regime eine Basis in der Bevölkerung und jedeR, der/die die Diktatur beseitigen wolle, müsse sich dieser Realität stellen.

Als Ergebnis solcher Diskussionen haben wir uns zunehmend gegen einfache Denkschemata vom Widerspruch zwischen Diktaturen/Regierungen und Völkern oder gar dem Imperialismus auf der einen und unterdrückten Völkern auf der anderen Seite gewandt. Unsere Solidarität sollte nicht „Völkern“ gelten, sondern den um ihre Emanzipation und Befreiung kämpfenden Menschen. Und mit diesen musste auch eine kritische Auseinandersetzung möglich sein. In einer Erklärung zu einem bewaffneten Fraktionskampf innerhalb der FPL, einer Mitgliedsorganisation der FMLN, schrieb die ila-Redaktion im Mai 1983: „Die Probleme, die sich den Menschen in der Dritten Welt stellen, sind dabei – ganz anders als bei uns – vor allem von dem Wunsch geprägt, die furchtbare physisch-soziale Lage zu verbessern. Vielerorts in der Dritten Welt besteht für die Menschen keine andere Möglichkeit mehr, als die bestehenden Herrschaftsstrukturen zu zerbrechen. Daß sich diese Befreiung jedoch nicht immer ohne Widersprüche und für uns manchmal Unverständliches vollzieht, müssen wir dabei auch bedenken, wenn wir nicht nur unsere eigenen Wunschvorstellungen auf ‚exotische’ Länder projizieren wollen. Wünsche, Ziele und konkrete Aufgaben zwischen Solidaritätsbewegung und den Freiheitsbewegungen in der Dritten Welt unterscheiden sich daher sehr, indessen bleibt als gemeinsame Grundlage beider Bewegungen das Streben nach Emanzipation, das Streben nach der Rückverwandlung des Menschen vom Objekt zum Subjekt der Geschichte. Wenn dies zuerkannt wird, muß die Frage der Emanzipation zur politischen Leitlinie der Solidaritätsbewegung und der Befreiungskämpfe in der Dritten Welt werden. Entlang dieser Leitlinie haben die entsprechenden Bewegungen nicht nur das Recht, sondern die politische Pflicht, sich gegenseitig zu kontrollieren und zu kritisieren.“ (ila-info 66, Mai 1983)

Emanzipation war also die politische Leitlinie. So weit, so gut. Aber die Frauen in der ila machten klar, dass es nicht damit getan sei, statt von unterdrückten Völkern nun von um ihre Befreiung kämpfenden Menschen zu sprechen. Es gäbe nicht nur eine Unterdrückung, sondern vielfache Formen von Unterdrückung, von der die Menschen hier wie in Lateinamerika ganz unterschiedlich betroffen wären. Im Februar 1983 veröffentlichten wir den ersten Schwerpunkt zum Thema „Frauen in Lateinamerika“, den die 1982 gegründete ila-Frauengruppe autonom zusammengestellt hatte. In ihrem Editorial schrieben die ila-Frauen: „Was die Situation der Frauen in Lateinamerika von unserer unterscheidet, ist nicht die Unterdrückung, die Objektrolle, die Abhängigkeit an sich. Es ist nur die unverhohlene Offenheit, in der sie zutage tritt. (…) Doch genauso alt wie die Unterdrückung der Frauen ist auch ihr Kampf dagegen. In der aktiven Teilnahme am Befreiungskampf, in Frauenkomitees, -gruppen und Parteien führen Frauen heute ihren doppelten Kampf gegen Klassen- und Geschlechterunterdrückung, um die Befreiung von der Diktatur zu erreichen. Mit der Revolution sollen wirtschaftliche und gesellschaftlich-rechtliche Bedingungen geschaffen werden können für die Gleichberechtigung und Selbstverwirklichung der Frauen. Cuba, Grenada und Nicaragua sind in diesem Kampf vorangegangen, doch die Realität zeigt, daß mit der rechtlichen Gleichstellung der Frauen der Machismo noch nicht gebrochen ist (…). Es wird noch ein langer und harter Kampf für die Frauengruppen in Lateinamerika und hier sein, frauendiskriminierende Strukturen aufzuheben und die Ideologie aus den Köpfen von Männern und Frauen zu vertreiben, bei dem wir uns gegenseitig unterstützen wollen.“ (ila-info 63, Februar 1983)

Die ila-Frauengruppe und die anderen Feministinnen betrachteten sich als Teil der Solidaritätsbewegung mit den revolutionären Bewegungen in Mittelamerika. Wenn auch die Revolution als noch nicht hinreichend betrachtet wurde, um die Unterdrückung der Frauen zu beenden, wurde sie doch als entscheidender Schritt zur Befreiung betrachtet. Dies wurde später, aufgrund vielfältiger Erfahrungen und Kontakte mit zentralamerikanischen Frauen, wesentlich kritischer gesehen. In der ila 167 schrieb Christa Weber vom Frankfurter El Salvador-Komitee über die Rolle der Frauen im salvadorianischen Befreiungskampf: „Während des Krieges waren Frauen auf allen Ebenen beteiligt, Kommandantinnen oder militärische Führerinnen waren jedoch die Ausnahme. Die meisten Frauen waren über Jahre in den mobilen Küchen, als Sanitäterinnen oder als Funkerinnen eingesetzt. Aus diesen Positionen heraus hatten sie wenig Möglichkeiten, sich an politischen Entscheidungen aktiv zu beteiligen. Die hierarchischen Strukturen waren nach oben nicht besonders durchlässig. Gerade für Frauen war es schwer, aus einem ihnen zugewiesenen Arbeitsbereich in einen anderen, besseren zu wechseln. Jetzt, nach dem Ende des Krieges, sind die Frauen auch bei den Wiedereingliederungen in das Zivilleben marginalisiert. Vielen wird bestenfalls ein Schneiderei- oder Bäckerei-Kurs angeboten. Sie werden wieder auf traditionelle Frauenberufe verwiesen, obwohl sie sich z.B. als Funkerinnen jahrelang mit Technik auseinandergesetzt haben. Wie wenig die Geschlechterproblematik innerhalb der FMLN thematisiert wurde, ist auch daran zu erkennen, daß viele Frauen selbst eine Ausbildung in traditionellen Bereichen fordern. Sie haben keine Vision für ein anderes Leben. Tabuisiert ist bis heute die sexuelle Gewalt, die Frauen in den kämpfenden Einheiten der FMLN erlitten haben. Diese Gewalt hatte viele verschiedene Ebenen, immer wieder wurden Frauen von Genossen vergewaltigt.“ (ila 167, Juni 1993)

Galt die Solidarität zunächst Frauen in revolutionären Organisationen, wurde zunehmend hinterfragt, ob diese überhaupt eine Perspektive für die Überwindung patriarchaler Strukturen bieten. Viele Companeras aus Lateinamerika berichteten, dass sie irgendwann entnervt die linken Parteien verlassen und sich autonomen feministischen Organisationen angeschlossen hätten. Im Dezember 1989 widmeten wir erstmals den „Frauenbewegungen in Lateinamerika“ (ila 131) einen Schwerpunkt. Der Plural „-bewegungen“ wurde wegen der Beobachtung gewählt, dass es in Lateinamerika nicht nur eine der europäischen vergleichbare mittelständisch-universitäre feministische Bewegung gab, sondern auch starke Organisationen von Frauen aus den Unterschichten, die in vielfältigen Bewegungen kollektiv um soziale Verbesserungen kämpften.

Mit dem Verlust allzu euphorischer revolutionärer Hoffnungen (oder Illusionen) begannen wir uns verstärkt die konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen (und Männern) in Lateinamerika anzuschauen, sei es im informellen Sektor, in der Landwirtschaft oder in der Maquilaindustrie, den Niedriglohn-Weltmarktfabriken vor allem in Mexiko und Zentralamerika. Neben der Berichterstattung über diese sozialen Realitäten interessierte uns natürlich vor allem der Widerstand der Leute gegen miese Bedingungen und soziale Ausgrenzung. Dabei faszinierten uns bei verschiedenen Bewegungen, etwa den Landlosen von der brasilianischen MST, den Piqueteros in Argentinien oder den Nachbarschaftsvereinigungen in Bolivien die Verbindung sehr konkreter Ziele mit längerfristigen politischen Perspektiven. Spannend war dabei für uns, dass viele der AktivistInnen nicht nur politische Forderungen nach Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen erhoben, sondern diese selbstbewusst als ihre Rechte einforderten. Weil sie menschliche Wesen seien, hätten sie das Recht auf Nahrung, würdige Unterkunft und Gesundheitsversorgung. Jene Weiterentwicklung des Menschenrechtsgedanken, der nicht nur bürgerliche Freiheiten, sondern auch wirtschaftliche und soziale Rechte umfasst (vgl. Interview mit Camilo Castellanos in dieser Ausgabe), hat in Lateinamerika Eingang ins öffentliche Bewusstsein gefunden und stärkt das Selbstbewusstsein der sozialen AkteurInnen, während sich bei uns viele Hartz IV-EmpfängerInnen als VersagerInnen fühlen und daran kaputt gehen.

Der Einsatz für die Menschenrechte gehörte von Beginn an zu den Schwerpunkten der ila. Schließlich ist sie hervorgegangen aus der bundesdeutschen Unterstützergruppe für das Internationale Russelltribunal „Unterdrückung in Chile und Menschenrechte in Lateinamerika“, das 1975/76 in Paris und Rom stattfand. Politische Verfolgung und Haft, Folter und das „Verschwindenlassen“ von AktivistInnen waren in immer mehr lateinamerikanischen Ländern auf der Tagesordnung. Darüber zu informieren, dagegen zu protestieren, die Aufnahme politischer Flüchtlinge sowie den Abbruch der Beziehungen zu den Diktatoren von der Bundesregierung zu fordern, stand im Mittelpunkt unserer Aktivitäten, vor allem im Rahmen der bundesweiten Kampagne „Fußball ja – Folter nein“ zur WM 1978 in Argentinien, die die ila koordinierte. Das Engagement gegen die politische Repression sahen wir als moralische Aufgabe und gleichzeitig als Unterstützung des revolutionären Kampfes, denn schließlich zielte der Staatsterrorismus ja auf Leib und Leben der GenossInnen aus den linken Organisationen. Natürlich war Ende der siebziger Jahre, als fast ganz Lateinamerika von Militärdiktaturen beherrscht wurde, der Kampf gegen die politische Unterdrückung das Gebot der Stunde, aber erst später wurde uns klar, dass Einsatz für die Menschenrechte noch mehr bedeutete. Als Ulf Baumgärtner Ende der achtziger Jahre in der ila vorschlug, ein Tagesseminar zum Thema Menschenrechte mit Ramón Custodio, dem Vorsitzenden der honduranischen Menschenrechtskommission, zu machen, gab es viele staunende Gesichter. Wozu ein Seminar über Menschenrechte? Was soll Ramón uns da erzählen? Als das Seminar dann stattfand, erfuhren die TeilnehmerInnen, wie die Menschenrechtsorganisationen in Lateinamerika arbeiten. Sie klagen nämlich nicht nur die staatliche Repression an, sondern machen auch Menschenrechtserziehung und vermitteln Leuten, die immer nur als Objekte behandelt wurden, dass Menschenrechte nicht etwas sind, was ihnen die Herrschenden gewähren, sondern dass sie Rechte haben und diese einfordern können. Durch diese Begegnung und weitere Treffen mit MenschenrechtskämpferInnen aus Lateinamerika lernten wir auch, die Bedeutung des Kampfes gegen die Straflosigkeit verstehen, der seit den späten achtziger Jahren im Zentrum der Arbeit der Menschenrechtsbewegung steht. In der ila 168 schrieb dazu Rainer Huhle vom Nürnberger Menschenrechtszentrum: „Anders als der hölzerne deutsche Begriff ‚Straflosigkeit’ suggeriert, geht es bei diesen Bemühungen keineswegs in erster Linie um ein Verlangen nach Strafe. Hintergrund der Kampagne gegen die ,impunidad‘ ist vielmehr ein Spezifikum lateinamerikanischer politischer Kultur: die Komplizität der Macht über alle ideologischen Grenzen hinweg. Straffreiheit läßt sich in Lateinamerika als Schutzwall eines bis heute praktisch uneinnehmbaren Territoriums beschreiben, der die Sphäre politischer Macht gegen jeden Versuch gesellschaftlicher Demokratisierung abschottet und von dem aus immer wieder zerstörerische Attacken auf diese Versuche geritten werden. (…) Die Garantie der Straflosigkeit auch nach dem jeweiligen Ende einer diktatorischen Herrschaft ist für die Gewaltherrscher ein wesentliches Instrument zur Aufrechterhaltung ihrer repressiven Apparate und deswegen in allen „Übergangsprozessen“ ein essentielles Element in den Verhandlungen zur Machtübergabe. Die nächste Diktatur ist damit gleichzeitig im Kern schon angelegt.“ (ila 168, September 1993)

In den letzten Jahren stand die Kritik an der neoliberalen Wirtschaftspolitik mit ihren katastrophalen Folgen für Menschen und Umwelt im Zentrum unserer Arbeit. Dabei spüren wir immer wieder, dass wir unser Verhältnis zur Rolle der Staaten stärker reflektieren und definieren müssen. Obgleich viele von uns aus einer eher staatskritischen libertären Tradition kommen und gegen Staatsbürokratien (begründete) Vorbehalte haben, merken wir, dass wir in der Abwehr der permanenten neoliberalen Angriffen dazu kommen, den Staat als Regulierungsinstrument zu verteidigen. Das geht nicht nur uns so, sondern auch vielen anderen Gruppen in der globalisierungskritischen Bewegung. Gerade weil wir die Staatsfixiertheit vieler traditioneller Linker sehr kritisch sehen, den repressiv-bevormundenden Charakter staatlicher Politik immer kritisiert und dargestellt haben, wie staatliche Politik primär die Interessen der wirtschaftlichen Machtgruppen bedient, müssen wir reflektieren, welche Aufgaben unter staatliche Obhut gehören und welche nicht. Bereiche wie Umweltschutz, Gesundheitsversorgung, Bildungswesen, Infrastruktur sollten sicher in öffentlicher Verantwortung organisiert werden. Wenn dem so sein soll, müssen wir aber darüber nachdenken, wie die staatlichen – oder auch supranationalen – Bürokratien gesellschaftlich kontrolliert werden können. Bei diesen Überlegungen stehen wir noch ziemlich am Anfang, gar nicht zu reden von über Nischenprojekte hinausgehende tragfähige Konzepte für eine ökologisch-soziale Organisation der Wirtschaft. Hier gibt es noch viel Raum für neue Lernprozesse, mit denen wir genug zu tun haben, mindestens die nächsten dreißig Jahre.