Die 2000 Frauen, die auf dem Gelände des autonomen Bezirks Morelia herumwuseln, wo das Internationale „Festival von Frauen, die kämpfen“ stattfindet, sind Zapatistinnen. Doch eine davon herauszupicken und ihr Antworten über die Situation in ihrer Heimatgemeinde aus der Nase zu ziehen, ist gar nicht so einfach. Sie haben die sieben zapatistischen Prinzipien der Regierungsführung, unter anderem „gehorchen und nicht befehlen“, gut verinnerlicht. Egal welche der Vermummten man anspricht, keine fühlt sich in der Lage, für alle zu sprechen. Zenaida traut sich schließlich, zusammen mit der älteren Esmeralda, die mit einem Meter Abstand zuhört und ab und zu etwas auf Tzotzil souffliert. Sie kommen aus Oventic, dem so genannten „Caracol 2“ (siehe Kasten). Wie bei allen Zapatistas teilt sich ihre Welt in eine vor und eine nach Beginn des Aufstands von 1994, wobei Zenaida und viele andere nur von einer Vergangenheit berichten können, die ihnen von Müttern und Großmüttern erzählt worden ist. Vor dem Aufstand seien viele Kinder und Frauen an heilbaren Krankheiten gestorben wie Fieber oder Durchfall. „Es gab keine Krankenhäuser. Die Menschen mussten ein, zwei oder drei Tage laufen, um zum Krankenhaus zu kommen. Und wenn sie ankamen, wurden sie nicht behandelt, nicht beachtet durch den Rassismus, den es gab”, erzählt Zenaida. „Deshalb sind wir voller Wut. Auch wenn die Regierung jetzt Kliniken hat bauen lassen. Aber das ist ein Betrug. Die Medikamente zum Beispiel muss man bezahlen.“
Das Projekt der Zapatistas dagegen, in jedem Dorf Gesundheitspromotor*innen auszubilden, scheint geklappt zu haben. Sowohl Zenaida und Esmeralda als auch die anderen Interviewten, Yohari aus dem Bezirk Realidad an der Grenze zu Guatemala sowie Maribel aus dem Bezirk Morelia rund um das Städtchen Altamirano, berichten davon. Die Gesundheitspromotor*innen würden beispielsweise Gespräche über Familienplanung anbieten. Zudem gebe es in jedem Bezirk ein Gesundheitszentrum, teilweise sogar mit Betten. Dort werden einfachere Krankheiten behandelt, Proben und Abstriche entnommen, und zeitweise sind solidarische Ärzt*innen aus aller Welt vor Ort, die Operationen und komplexere Behandlungen durchführen.
In den Zentren ist auch die Abteilung „Pflanzenheilkunde“ angesiedelt, in der laut den Befragten besonders viele Frauen arbeiten. Sie erforschen die Heilkräfte der Pflanzen ihrer Umgebung und versuchen, das Wissen ihrer Ahnen über deren Wirkung zu retten. „Schließlich funktionieren Antibiotika auch nicht immer“, meint Yohari. Die Kinder in ihrer Gemeinde kämen aber immer noch meist als Hausgeburt auf die Welt, mit der Hilfe von Hebammen. Nur in sehr schwierigen Fällen würden sich die Frauen auf den Weg in das Krankenhaus der „schlechten Regierung“ machen. Die Kindersterblichkeit, da sind sich die vier Frauen einig, sei seit Beginn des Aufstands deutlich zurückgegangen.
Dabei steht Chiapas, der ärmste mexikanische Bundesstaat, mit einem hohen Anteil indigener Bevölkerung, nicht besser da als vor 24 Jahren. Laut der letzten Erhebung des staatlichen Forschungsinstituts Coneval aus dem Jahr 2012 galten 75 Prozent der chiapanekischen Bevölkerung als arm und 32 Prozent als extrem arm. Nach Angaben des mexikanischen Gesundheitsministeriums lag die Müttersterblichkeit hier im Jahr 2015 um 43 Prozent höher als im Rest des Landes. Die Nichtregierungsorganisation Melel Joxobal schätzt, dass Komplikationen während der Schwangerschaft und Geburt in Chiapas die Todesursache Nummer eins unter indigenen Frauen sind.
Inwiefern die autonomen Gebiete besser dastehen, lässt sich statistisch nicht belegen. Es gibt nur die Eindrücke von Zenaida, Esmeralda, Yohari und Maribel, die übereinstimmend fast nur positiv aus ihren Bezirken berichten. Bei schwereren Krankheiten wie Krebs seien die Grenzen ihrer Gesundheitszentren erreicht. Dann müssten die Patientinnen außerhalb Hilfe suchen; Maribel etwa erzählt von einem Doktor, der Chemotherapien durchführt, und Yohari vom Krankenhaus in La Realidad. Dort aber stoßen die Zapatistas auf das Problem, dass sie sich Therapie und Medikamente oft nicht leisten können.
Beim Thema Bildung stehen die autonomen Gemeinden seit langem auf eigenen Füßen. In den Schulen der „schlechten Regierung“ seien Rassismus und Diskriminierung noch immer an der Tagesordnung. Ihr Lehrer habe die spanischsprachigen Mädchen den kleinen Indígenas immer vorgezogen, erzählt Zenaida, die schätzungsweise Anfang zwanzig ist: „Die Verachtung war schon an der Türschwelle spürbar.“ Diese Benachteiligung, der sie sich erst in einem regionalen Schulwettbewerb gänzlich bewusst wurde, habe sie dann vollkommen davon überzeugt, sich dem Zapatismus anzuschließen.
„Die schlechte Regierung gibt uns keine gute Bildung, so war das früher. Du konntest weder lesen noch schreiben, und sie schmeißen dich raus. So sind wir groß geworden. Erst in der Organisation haben wir das gelernt, als wir dort Ämter übernommen haben“, berichtet die ältere Maribel. Heute dagegen würden die Kinder alles in den autonomen Grundschulen lernen, von denen es in jedem Bezirk eine gibt. Laut Yohari werden Mathematik, Umwelterziehung, Geschichte und Sprachen unterrichtet, neben der spanischen die eigene Sprache wie Tzotzil oder Tseltal.
Chiapas ist laut nationalem Statistikinstitut immer noch der Staat mit den meisten Personen, die nur ihre indigene Muttersprache sprechen und damit am stärksten von Diskriminierung betroffen sind.
Vor allem die jüngeren Frauen unter zwanzig stechen auf dem Festival aber dadurch heraus, dass sie sehr gut Spanisch sprechen, in den Workshops fleißig mitschreiben und moderne Technik beherrschen. Für Ton und Beleuchtung ist unter der Bühne ein Tisch mit mehreren Laptops aufgebaut. Die mediale Begleitung der Veranstaltung findet nicht nur durch die angereisten Gäste statt, sondern auch durch die Zapatistinnen selbst: Viele Workshops und vor allem alle Aufführungen der Hauptbühne werden von einem zapatistischen Kamerateam aufgenommen.
In Morelia, wo das Festival stattfindet, gibt es auch die einzige weiterführende Schule. Fast alle Mädchen besuchten sie, sagt Maribel. Dort würden sie auf die von ihnen gewählten Berufszweige vorbereitet, als Lehrerin, Gesundheitspromotorin, für die kollektive Arbeit auf dem Feld oder in der Tierzucht oder für Aufgaben für die Gemeinde. In La Realidad gibt es so etwas nicht. Und es gebe auch kein Mädchen, das Abitur machen und studieren wolle, behauptet Yohari. Alle seien damit zufrieden, in ihrer Gemeinde zu bleiben. Ebenso wie dieCompañeras aus Oventic erzählt sie, dass die jungen Frauen „die Schule dann verlassen, wenn sie glauben, dass sie genug gelernt haben.“ Das Leben in den autonomen Bezirken ist auf die Gemeinschaft ausgerichtet, alle Entscheidungen werden im Kollektiv und wenn möglich im Konsens getroffen, das stellen die Zapatistinnen immer wieder heraus. Klar wird aber auch, dass das anzustrebende Ideal die heterosexuelle Familie ist. Die meisten Jugendlichen verlassen die Schule mit 14 bis 16 Jahren und heiraten auch schnell.
„Früher haben die Eltern gesagt, wen die Töchter heiraten sollen. Heute ist das nicht mehr so, sie entscheiden selbst“, erzählt Maribel. Das würde bedeuten, dass einer der wesentlichen Punkte, den die zapatistischen Frauen bereits ein Jahr vor dem Aufstand in ihrem „Revolutionären Gesetz der Frauen“ festgelegt hatten, mittlerweile Realität ist. Auch über die Zahl der Kinder entschieden die Paare bewusst: „Sie lernen Familienplanung in der Schule. Denn Kinder kosten ja auch Geld, vor allem wenn sie schnell hintereinander kommen“, meint Yohari. Und Maribel fügt an: „Als Zapatistas haben wir ja auch Ämter. Wenn wir ein Baby haben, können wir all das nicht mehr machen.“
Die politische Beteiligung der Frauen sei gestiegen, berichten die vier Frauen. In Morelia sei der zapatistische Regierungsrat mit 24 Frauen und 24 Männern besetzt. In La Realidad sei die Parität noch nicht ganz erreicht, „aber fast“. Mit der Diskussionskultur sei es hingegen noch ein wenig schwierig, das geben die Zapatistinnen zu, auch wenn deutlich wird, dass sie die Compañeros nicht schlecht machen wollen. „Wir Frauen wissen, dass wir das Recht haben, aber manchmal wollen wir nicht mitmachen“, sagt Maribel. Auch das sei einer der Gründe für die Idee eines Frauentreffens gewesen, meint Yohari: „Manchmal, wenn die Männer dabei sind, sagen wir nicht, was wir genau fühlen. Denn es gibt ja immer noch viel Machismus, auch bei euch. Und damit wir wirklich erzählen können, wie wir leiden, wollten wir das Treffen so machen, 100 Prozent Frauen.“ Das Gefühl, auf dem Gelände einen ungewöhnlichen Freiraum geschaffen zu haben, teilt auch Zenaida: „Zapatistische Frauentreffen gab es ja früher schon, aber die Männer liefen immer zwischendurch überall umher, haben geholfen und so weiter. Dieses Mal haben wir gesagt: Nein. Wir fühlen uns ohne Männer freier. Irgendwie sicherer, keiner kritisiert dich, schreibt dir dies oder das vor. Wenn man sich nur unter Frauen trifft, kommen immer so viele Ideen zustande.“
Mit ihren Ideen haben die Zapatistinnen tatsächlich einen bleibenden Eindruck hinterlassen bei den Besucherinnen. Nicht nur, dass sie die hohe Zahl der Gäste ohne logistische Schwierigkeiten unterbrachten. Auch das Programm beeindruckte. Während die Angereisten rund 350 Workshops anboten, wurde das Bühnenprogramm des gesamten ersten Tages von den Zapatistinnen gestaltet. Dabei gab es nicht nur Reden der EZLN und der Repräsentantinnen der Bezirke, sondern auch mehrere Theaterstücke inklusive selbst gebastelter Requisiten, den Auftritt der vierköpfigen Band Dignidad y Resistencia und ein Lichtspektakel am Ende des Abends. Auf ein Signal hin erloschen sämtliche Lampen der Bühne und auf dem Platz, und das Publikum wurde gebeten, sich um 180 Grad zu drehen. Da standen sie, ein großer Teil der 2000 Gastgeberinnen, in mehreren Reihen hintereinander am Ende des Sportplatzes. Jede von ihnen hatte eine Kerze in der Hand und schwenkte sie als Zeichen des Willkommens auf und ab. Eine Geste, die viele rührte und wohl eine von diesen Ideen war, die nur aus einem Treffen von 100 Prozent Frauen stammen konnten.