Ohne Ruhepause

Sie wird uns fehlen, aber wir werden unsere Arbeit im Sinne von Sonia weiterführen“, sagt Sirana von der Bewegung dominikanisch-haitianischer Frauen (MUDHA) mit Tränen in den Augen. Sonia Pierre hatte die Gruppe haitianischer MigrantInnen, die in der Dominikanischen Republik leben, mitgegründet, sie war deren Vorsitzende und das bekannte Gesicht von MUDHA, die sich für die Rechte der Eingewanderten einsetzt. Und sie hat den Hass derjenigen auf sich gezogen, die rassistische Vorurteile gegen die aus Haiti stammenden ArbeitsmigrantInnen in Wort und Tat schüren.

Angst kannte sie nicht. Jedenfalls hat sie sich dies nicht öffentlich eingestanden. „Ich muss eben aufpassen. Es gibt viele Interessen, die wir stören, wenn wir uns für ein Aufenthaltsrecht für die Einwanderer einsetzen oder gegen Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen vorgehen“, bemerkte Sonia Pierre mir gegenüber vor ein paar Jahren. Regelmäßig erhielt sie Drohanrufe, im vergangenen Jahr brannte ihr Haus ab. Angeblich ein Kurzschluss, obwohl zu diesem Zeitpunkt der Strom im Viertel abgestellt war. Die Brandursache wurde nie gefunden.

Mehr als einmal musste sie in den letzten Jahren bei Nacht und Nebel die Koffer packen und für einige Zeit von der Bildfläche verschwinden, um sich in Sicherheit zu bringen. Sie bekam Todesdrohungen von erzürnten Nationalisten, weil sich im Land geborene Kinder von sogenennten Haitianos mit Hilfe von MUDHA das staatlich garantierte Recht auf eine dominikanische Staatsbürgerschaft erstritten, unter anderem mit Hilfe von Klagen vor dem Interamerikanischen Menschengerichtshof, und die Einwanderungspolitik des Landes international in Verruf geriet. „Nestbeschmutzerin“ und „Landesverräterin“ waren noch die harmloseren Titulierungen, die für Sonia Pierre in der dominikanischen Presse gebraucht wurden. Wiederholt wurde sie öffentlich beschuldigt, sich unter Angabe falscher Tatsachen die dominikanische Staatsbürgerschaft erschwindelt zu haben. „Wir sind Dominikaner mit haitianischen Wurzeln“, betonte die Verstorbene bei zahlreichen öffentlichen Auftritten immer wieder, „und wir fordern unser Recht – und wir sind stolz darauf.“

Sonia Pierre wurde 1963 in der Dominikanischen Republik geboren, in einem sogenannten Batey in der Nähe von Villa Altagracia, knapp 40 Kilometer von der dominikanischen Hauptstadt Santo Domingo entfernt. Das Batey La Lechería gehörte damals noch zur Zuckerrohrfabrik der Stadt. In den langgestreckten Gebäuden, in denen sich Zimmerchen an Zimmerchen reihte, drängten sich unzählige haitianische Braceros, Zuckerrohrschneider, mit ihren Familien. Viele waren vor Jahren für die Ernte angeheuert worden und geblieben.

Sonias Eltern stammen aus Haiti. Was Diskriminierung bedeutet, musste sie schon früh lernen: Ihren französischen Vornamen „Solange“ glich ihre Lehrerin einfach mit „Sonia“ dem Spanischen an. Ihren Nachnamen verballhornte sie in „Pied“ – Fuß. Am Unabhängigkeitstag der Dominikanischen Republik mussten „Sonia Pied“ und die anderen Kinder haitianischer Eltern den Klassenraum verlassen, weil ihre Anwesenheit die „dominikanische Ehre beleidige“. Ein Erlebnis, das sie geprägt hat.

Während der „blutigen zwölf Jahre“ des Autokraten Joaquín Balaguer, der jahrzehntelang die Geschicke des Landes mit harter Hand bestimmte, lernte Sonia Pierre das erste Mal den Knast kennen. Als 13-Jährige kochte sie für die streikenden Zuckerrohrarbeiter und weil das junge Mädchen lesen, schreiben und vor allem sowohl die haitianische Landessprache Kreyól als auch Spanisch sprechen konnte und nicht aufs Maul gefallen war, wurde sie zu einer der SprecherInnen der Streikenden. Sie wurde inhaftiert, aber die Aktion hatte letztlich Erfolg. Die heruntergekommenen Häuser wurden gestrichen, die Arbeitswerkzeuge verbessert und die Löhne erhöht. Mit einem Stipendium ließ sich Pierre in Cuba zur Sozialarbeiterin ausbilden. „Ich kehrte nach Santo Domingo zurück, denn mir war klar, dass ich unseren Kampf fortführen muss“, erzählte mir die vierfache Mutter. 1983 gehörte Pierre dann zu den Gründerinnen von MUDHA.

Heute leben weit über eine Million haitianischer EinwanderInnen und deren Nachkommen in der Dominikanischen Republik, die sich mit der Nachbarrepublik Haiti die knapp 78 000 Quadratkilometer große Karibikinsel Hispaniola teilt. Das im Westteil gelegene Haiti hat eine afrikanisch-frankophone Gesellschaft, die sich 1804 für unabhängig von Frankreich erklärte. Die Dominikanische Republik, seit 1844 mit Unterbrechungen unabhängig, beruft sich auf ihre spanischen Gründer. Wer auf dominikanischem Boden geboren wird, hatte bisher – dieses Gesetz wurde inzwischen modifiziert – aufgrund der Verfassung einen Rechtsanspruch auf Staatsbürgerschaft.

Dem Kampf von MUDHA und anderen dominikanisch-haitianischen Migrant-Innenorganisationen ist es zu verdanken, dass viele der Nachfahren der EinwanderInnen heute die Staatsangehörigkeit haben. Der Name von Sonia Pierre wird immer damit verbunden sein. Seitdem die Verstorbene 2003 von der US-Sektion von amnesty international mit dem Ginetta Sagan Award und 2006 mit dem Robert F. Kennedy Human Rights Award ausgezeichnet wurde und der Menschenrechtsgerichtshof in Costa Rica zugunsten der Haitianos entschied, sind die Stimmen der rassistischen Angreifer zwar leiser, aber leider nicht weniger geworden.

MUDHA kümmert sich heute um die Kinder der EinwanderInnen, unterhält Schulen, hilft beim Bau von besseren Unterkünften, bei Behördengängen und gewährt Rechtsberatung mit einem eigenen Anwaltsteam. Auch eine schwere Herzerkrankung und –operation führten nicht dazu, dass Sonia ihre Aktivitäten eingeschränkt hätte. „Jedes Mal, wenn ich einen Alten sehe, der ohne Pensionsanspruch im Batey krepiert, wo er sich ein Leben lang für den dominikanischen Staat abgerackert hat, und jedes Mal, wenn ich eine Frau sehe, die für das Überleben ihrer Familie kämpft, dann sage ich zu mir: Ich kann mir den Luxus nicht leisten, mich auszuruhen“, erzählte sie der österreichischen Journalistin Ulla Ebner in einem Rundfunkinterview im April vergangenen Jahres.

Als in Haiti die Erde bebte, gehörten Sonia und die Frauen von MUDHA zu den Ersten, die über die Grenze gingen, um mit ihren wenigen Mitteln dort zu helfen, wohin die großen Hilfsorganisationen noch nicht „vorgedrungen“ waren. Ein zerstörtes Waisenhaus konnte wieder aufgebaut, ein Frauentreff eröffnet und für beim Erdbeben verstümmelte Frauen konnten Häuser gebaut werden.

Sie wusste um die Länge des Kampfes. „Das waren aber nur kleine Siege. Den Kampf haben wir noch lange nicht gewonnen.“ Bis zuletzt hat sie sich für eine bessere Welt eingesetzt und gegen die Herzkrankheit angekämpft, die sie immer mehr schwächte. Am 4. Dezember endete das kämpferische Leben von Solange „Sonia“ Pierre.