Ohne Würde gibt es keinen Grund zum Überleben

Du wurdest 1933 in Uruguay als Sohn polnischer jüdischer Emigranten geboren. Welchen Einfluß hatte diese Herkunft auf Deine persönliche und politische Entwicklung?

Mein Vater war aus Polen nach Uruguay ausgewandert. Er gehörte zu einer Auswanderungswelle armer polnischer Juden, die in den 30er Jahren nach Uruguay kamen. Später kam meine Mutter mit meinem Bruder nach. Sie stammte aus einem kleinen jüdischen Bauerndorf, Belsice, in der Nähe von Lublin und von Auschwitz. In meinen ersten Kindheitserinnerungen sehe ich ein armes, bescheidenes Zuhause. Mein Vater war Schneider. In dieser Umgebung habe ich wohl die erste Prägung für den Klassenkampf empfangen. Ich muß Euch das erzählen. Mein Vater war ein richtiger Bolschewik. Diese Strömung war damals so stark, daß die erste kommunistische Wochenzeitung, die in Uruguay erschien, in jiddischer Sprache herauskam. Sie nannte sich „Unser Frajnd“, also „Unser Freund“. Dazu gehört auch folgende Geschichte: Auf dem jüdischen Friedhof in Montevideo tragen alle Grabsteine den sechseckigen Davidstern; nur der Grabstein von Abramovic, dem Gründer von „Unser Frajnd“, hat stattdessen Hammer und Sichel eingraviert. Mein Vater war Mitbegründer der Schneidergewerkschaft. Ich erinnere noch, daß bei den Versammlungen der Sektion Süd der Kommunistischen Partei aus den Zimmern mehr Jiddisch als Spanisch zu hören war. Als sie mich später auf die Straße schickten, um Silberpapier von Zigarettenschachteln für Spanien zu sammeln – es war die Zeit des spanischen Bürgerkriegs – haben die Frauen in unserer Straße Wollsocken für die republikanischen Kämpfer gestrickt. In dieser Umgebung war es fast normal, daß ich mit 12, 13 Jahren auch aktiv in der KP wurde. Die Parteiführer verkehrten bei uns zu Hause, besuchten oft meinen Vater; das alles hatte natürlich einen nachhaltigen Einfluß auf mich. Mit 13 Jahren war ich bereits offizielles Mitglied der Partei.

Damit begann ein langer Prozeß; ich war Schülersprecher, baute die kommunistische Jugend mit auf, gründete die Tageszeitung der Partei mit. Dann beginnt auch schon meine Freundschaft mit Raúl Sendic, und unter dem Einfluß der Geschehnisse in Lateinamerika damals entwickelten wir auch andere Vorstellungen darüber, wie der Kampf zu führen sei. Dazu fällt mir eine Anekdote ein. Mein Vater wußte damals schon, daß ich zu den Tupamaros gehöre. Raúl Sendic und andere Genossen besuchten mich schließlich öfters. Aber er sagte nie auch nur ein Wort. Und während wir Sitzungen durchführten, stellte er sich, ohne etwas zu sagen, auf den Balkon, um die Straße zu beobachten. Er wachte für uns. Dann kam die Zeit im Untergrund und meine Festnahme. Während all der Jahre im Gefängnis besuchten mich meine Eltern, wann immer man es ihnen gestattete. Nie ein Wort der Kritik von meinem Vater. Nach unserer Freilassung hatten uns unsere Freunde zunächst in ein Franziskanerkloster gebracht. Von dort brachten sie mich in das Altersheim, in dem meine Eltern inzwischen lebten. Ich komme also in das Zimmer, sie hatten sich hingelegt. Wir lächelten uns an, als wäre ich erst vor zwei Tagen aus dem Haus gegangen. Mein Vater winkte mich zu sich heran, und ich setzte mich zu ihm auf die Bettkante. Seine allererste Frage an mich war folgende: „Jetzt, wo Du wieder frei bist, mußt Du mir erklären, was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Kommunisten und einem Tupamaro?“ Das war das erste, was er zu mir sagte. Ich schaue ihn an, mit seinen 80 Jahren, krank, aus seinem Haus vertrieben; sogar aus dem Altersheim hatten sie eine Zeitlang evakuiert werden müssen, da das Heim bedroht wurde, weil es meine Eltern beherbergte. Das alles sehe ich also vor mir, als ich ihn anschaue, und ich sage ihm: „Was soll ich Dir da erklären?“ Ich sagte ihm: „Schau mal, wir Tupamaros sind die Kommunisten.“ Er legte sich zurück und sagte: „Aha, und wir sind Tupamaros“.

Lebte Deine Familie eher im jüdischen Immigranten-Ambiente, oder hat sie sich rasch in das „normale“ Leben der UruguayerInnen eingegliedert?

Im allgemeinen tendierten arme Juden dazu, sich rasch zu integrieren. Natürlich gab es auch Schulen, an denen Jiddisch unterrichtet wurde, aber die besuchte ich nicht. Heute bedauere ich das, denn dann könnte ich jetzt hier besser Deutsch verstehen… Meine Eltern waren keine religiösen Juden, sondern links und internationalistisch eingestellt. Natürlich traf man gern die Menschen gleicher Sprache, solange man die neue noch nicht gelernt hatte. Aber wer in der Gewerkschaft kämpfte oder in der Partei, kam auch schnell aus diesen Kreisen hinaus, denn es gab eben keine Gewerkschaft für Juden und Nichtjuden, sondern nur eine. So etwas förderte die Integration.

Welche Sprache wurde zu Hause gesprochen?

Meine Eltern sprachen miteinander Jiddisch. Mit mir sprachen sie Spanisch.

Wie ist es Deinen Verwandten ergangen, die nicht ausgewandert waren?

Unsere übrige Familie, die in Polen geblieben war, starb entweder im Ghetto von Warschau, viele schlossen sich den Partisanen an, die meisten kamen in Auschwitz ums Leben. Ein Bruder meiner Mutter gehörte zu den Überlebenden von Auschwitz, die von den Russen befreit worden waren. Alle anderen waren tot, nur Fotos sind der Familie geblieben.

Eure Fragen erinnern mich an ein Gespräch, das ich mit Ñato im Gefängnis hatte. Wir sagten damals, wie hätten wir nicht Tupamaros werden können angesichts des Schicksals unserer Familien? … Wir kamen aus zutiefst antifaschistischen Familien. Es war irgendwie in uns drin.

Wie kam es dazu, daß aus dem Schneidersohn Mauricio Rosencof ein Theaterautor und Dichter wurde?

Ich war sehr mit meinem Stadtviertel verbunden, bewegte mich viel auf der Straße. Außerdem habe ich früh zu arbeiten begonnen. Ich arbeitete in einer Textilfabrik, auf dem Gemüsemarkt, wo ich Zwiebeln und Knoblauch verkaufte. Ich habe also viel von den Menschen um mich herum mitbekommen. Mein Vater war zweifellos mein politischer Tutor, der meine ersten Schritte wesentlich beeinflußte. Er wollte mich auch in anderer Hinsicht leiten. So wünschte er, daß ich lernte. Ich ging zur Abendschule, und danach wollte er, daß ich seinen Beruf erlerne. Ich sah an meinem Vater, was es heißt, Schneider zu sein, und deswegen wollte ich es nicht. Mit dem Journalismus begann ich bei der Zeitung der Partei. Danach schrieb ich meine ersten Verse, dann Erzählungen und Stücke. Ich hatte Glück. Mit 25, 30 war ich bereits als Dramaturg bekannt und hatte zwei oder drei Uraufführungen realisiert.

Das war die Etappe, in der ich die Literatur eng verknüpft mit dem politischen Kampf sah. Heute bin ich dazu gekommen zu sagen, daß eine Sache die Literatur, eine andere der politische Kampf ist. Wobei natürlich unvermeidlich bleibt, auch zum Ausdruck zu bringen, was der Autor zu bestimmten sozialen Fragen denkt. Trotzdem ist diese Unterscheidung für mich wichtig geworden, da klar sein muß, daß eine Revolution weder durch Literatur noch durch Theater gemacht werden kann. Eine Revolution ist Werk von Revlutionären. Und die Schöpfung literarischer Werke ist das Werk von Literaturschaffenden. Diese Unterscheidung ist mir wichtig, denn es gibt noch immer Leute, die meinen, mit einem Gedicht die Welt ändern zu können. Das funktioniert aber anders. In keiner der Etappen meines politischen Kampfes habe ich das künstlerische Schaffen aufgegeben.

Warum hast Du den Beschluß gefaßt, aus der Kommunistischen Partei hinaus den Schritt zur Guerilla, zu den Tupamaros zu machen?

In der Aufbauphase der MLN kursierte dazu folgender Witz: Ein Vater zeigt seinen Kindern neugeborene Hündchen und erklärt ihnen, daß dies Kommunisten seien. Nach einer Woche gehen sie wieder gucken und die Kinder sagen, „oh, da sind ja die kleinen Kommunistenhunde.“ „Nein“, sagt der Vater, „jetzt sind das Tupamaros.“ „Warum?“ fragen die Kinder. „Weil sie jetzt die Augen geöffnet haben,“ sagt der Vater.

Es war eine bewegte Zeit mit vielen Erwartungen und Ereignissen., wie z.B. 1952 die nationalistische Revolution in Bolivien unter Paz Estenssoro und der MNR, 1954 die Invasion in Guatemala und dann natürlich die kubanische Revolution. Das alles hat uns damals sehr bewegt. Vor allem die Studentenbewegung verfolgte das sehr aufmerksam. Das Problem mit der Kommunistischen Partei Uruguays, mit allen KPs Lateinamerikas, war, daß sie lediglich auf Einfluß in der Regierung aus waren. Das heißt auf drei, statt auf zwei Abgeordnete zu kommen und weitere 40 Jahre zu warten, bis es fünf sind. So war wirklich deren Gangart, aber so ändert sich natürlich nichts.

Es gab also eine Mittelklasse, die sich Zeit lassen konnte, denn ihre wirtschaftlichen Bedingungen ließen das zu. Aber viele andere konnten nicht einfach abwarten. Zum Beispiel die Reispflücker, bei denen ich 1956 zusammen mit Raúl war. Oder die Zuckerarbeiter, die 12 Stunden am Tag arbeiteten, deren Frauen sich prostituieren mußten, weil es keinen anderen Ausweg gab, deren Kinder nicht wußten, was Schokolade ist, die an Ruhr und Durchfall starben; man entlohnte sie nicht mit Geld, sondern mit Papiergutscheinen, das alles auf Latifundien von 30 000 ha Größe.

Eine der ersten Aktionen der Zuckerarbeiter war, die Plantage zu besetzen und Landverteilung zu fordern. Die Polizei verfolgte sie, die Organisation entstand, die Waffen einer Kolonie Schweizer Einwanderer, die sie nach mitgebrachtem Brauch in ihren Häusern hatten, wurde enteignet, die Arbeiter wurden bewaffnet, um ihre Landbesetzungen zu verteidigen. So entstand die MLN.

Wir wandten wieder revolutionäre Konzepte an, die aus Lateinamerika verschwunden waren, bzw. aus dem Programmen und Ansprachen der kommunistischen Parteien. Das hatte mit der Linie und der Ausrichtung durch die Komintern zu tun, die, auch wenn sie offiziell nicht mehr existierte, weiter wirkte. Es wurde nicht mit eigener Stimme gesprochen, sondern nachgeplappert, was die Sowjetunion vorgab. Jedenfalls begannen wir in Lateinamerika nach einer eigenen Sprache zu suchen, einer eigenen Ausdrucksform, nach einer Methodologie, die mehr mit unserer eigenen Geschichte verwurzelt ist.

Mein erstes ernsthaftes Problem mit der Partei hatte ich, als ich zum 47. Jahrestag der KPdSU als Vertreter des Jugendverbandes in die Sowjetunion delegiert wurde. Dorthin zu kommen war für mich wie für den Moslem nach Mekka zu kommen. Ich fühlte die Verpflichtung, nicht nur mir selbst, sondern auch den anderen gegenüber aufrichtig zu sein. Verschiedenes hat meine Aufmerksamkeit erregt, auch in den Volksrepubliken, die ich besuchte, u.a. Polen, wo ich ein Erlebnis hatte, das zu unserem ersten Gesprächsthema paßt. Nun ja, die sozialistische Realität erschien mir gar nicht so edel und würdig. Es war nicht schön, den Bürokratismus und die Korruptheit der Parteigenossen, die uns betreut haben, mitzubekommen. Ich habe Buchara, Samarkand, Taschkent besucht und war betroffen vom russischen Kolonialismus gegenüber diesen tausendjährigen Kulturen, der bis zum Auswechseln der Straßenschilder ging. Vor meiner Rückkehr besuchte ich noch die KP Griechenlands und Italiens. Durch die Genossen in Italien lernte ich das politische Testament Togliatis kennen, dessen Veröffentlichung die KPdSU verhindern wollte. Aber die KPI hatte das abgelehnt mit der Begründung, daß sie nicht das Testament eines ihrer populärsten Führer unterschlagen könne.

Ich kehrte also nach Uruguay zurück und wollte über all diese Dinge berichten. Aber die Zeitung, meine Zeitung, weigerte sich, das zu veröffentlichen. Ich habe andere Wege gefunden. Es gab eine Riesendiskussion mit dem Parteivorstand. Ich wies auf drei, vier Genossen im Raum und rief ihnen zu, daß wir alle dasselbe in der Sowjetunion gesehen hätten, und der einzige Unterschied sei, daß ich es auch sage. Denn ich bin überzeugt davon, daß nur die Wahrheit revolutionär ist. Damit hat die Distanzierung von der Partei begonnen.

In der MLN war für uns grundlegend, die Wahrheit zu sagen, bis dahin, daß wir es eingestanden, wenn wir Fehler begangen hatten. Das führte dazu, daß die Leute wußten, daß wir in unseren Verlautbarungen nicht logen.

Du hast vorhin ein Erlebnis in Polen erwähnt, das zu unserem ersten Gesprächsthema passe.

Während der Reise wurde ich auch nach Polen eingeladen. Ich akzeptierte. Was mich besonders interessierte war, nach meinem Familiennamen zu forschen. In keinem der Register wurde ich fündig. Schließlich willigte man ein, mich in den Geburtsort meiner Eltern zu begleiten. Wir fuhren also nach Belsice. Wir kamen in einem amtlichen Fahrzeug auf den Dorfplatz dieses kleinen und armen Ortes an. Sofort haben sich die Leute um uns versammelt, auch eine Kuh hat sich dazugestellt. Auf dem Platz gab es einen Gedenkstein für die im Kampf gegen die Nazis Gefallenen. Mein Dolmetscher erklärte den Leuten, daß mein Vater in diesem Dorf geboren und ich auf der Suche nach Spuren meiner Familie sei. Ich nannte den Familiennamen meines Vaters, den meiner Mutter, aber keiner hatte irgendeine Erinnerung. Ich schlug vor, in die Synagoge zu gehen, um dort im Totenbuch nach Familienangehörigen zu suchen. Darauf sagte jemand etwas in Polnisch, und die Leute begannen zu lachen. Thomas, mein Dolmetscher, wollte nicht übersetzen, worüber die Leute lachten. Es sei nicht wichtig, meinte er, aber ich insistierte. Schließlich erzählte er, worüber die Leute lachten: Warum sollte es hier noch eine Synagoge geben, wo es doch keinen einzigen Juden mehr gibt? Mir gab das einen bitteren Nachgeschmack von der Stimmung während der Judenverfolgung. Das war ein „Scherz“ der Nachfahren der Pogrom-Beteiligten. Danach sind wir nach Auschwitz gefahren. Und dort, unter den Bergen von Haaren und Schuhen, konnte ich davon ausgehen, meine Familienangehörigen gefunden zu haben. Ich muß nachtragen, daß bei Verlassen des Dorfes ein Alter sich daran erinnerte, daß Jahre zuvor ein Lahmer mit Namen Silbermann – das war der Familienname meiner Mutter – als Friedhofswächter gearbeitet hatte. Er sei dann nach Warschau gezogen und habe dort seinen Nachnamen geändert, einen polnischen Namen angenommen.

Gehen wir zurück zum Schritt von der KP zu den Tupamaros. Du sagtest vorhin, daß sich die Mittelklasse den Luxus des Abwartens erlauben konnte. Umgekehrt schrieb der nach Uruguay emigrierte deutsche Antifaschist und Kommunist Ernesto Kroch in einem Buch über Uruguay sinngemäß, daß die Stadtguerialla keine Sache der Arbeiter gewesen sei, sondern eher ein Ausdruck der Ungeduld der Mittelklasse.

Klar, Ernesto war auch Mitglied der Kommunistischen Partei. Für die waren wir ja Abenteurer. Ich erzählte bereits, daß ich meinem Vater im Altersheim sagte, daß die Tupamaros Kommunisten sind. Und das stimmt insofern, als die Kommunisten zu einer bestimmten Zeit Revolutionäre waren, nämlich 1917. Auch in China. Aber in Lateinamerika hat zu keinem Zeitpunkt eine kommunistische Partei eine Revolution angeführt. (Einmal doch – die KP El Salvadors den Volksaufstand von 1932, vgl. Nachruf auf Miguel Mármol in dieser Nummer – die Red.) Im Gegenteil. Sandino haben sie kritisiert als einen Nationalisten. Die kubanischen Revolutionäre in der Sierra Maestra haben sie als Abenteurer beschimpft. Als Che in Bolivien den Kampf aufnahm, hat ihm die Partei die Unterstützung verweigert. Die wenigen, die in Lateinamerika wirkliche Revolutionen anstrebten, mußten sich von diesen Strukturen befreien. Zurück zur Definition von Ernesto Kroch. Er hat im Süden von Montevideo Bewohner von Armenvierteln organisiert, die um bessere Unterkünfte kämpften. Eine wichtige Sache. Er hat das sehr gut gemacht, und es ist gut, daß er es weitertut. Aber das kann man nicht verwechseln mit der Vorbereitung einer Revolution. Was eine Revolution anstreben muß, ist die Machtergreifung, und nicht Einfluß in einer Regierung. Und das hatten wir vor, die Macht zu erobern.

Waren die Tupamaros nun eine Bewegung der Mittelklasse?

Ich habe vorhin über die Entstehungsgeschichte erzählt. Die Kader und Führer gingen aus Leuten hervor, die nicht lesen und schreiben konnten. Die Leute, die Raúl heimlich nachts organisierte – denn die Gründung einer Gewerkschaft war verboten – waren die Nachkommen der Gauchos, die für die Unabhängigkeit Uruguays gekämpft hatten. Gegründet haben sie die Gewerkschaft in einem Puff, denn das war der einzige Ort, an dem sie sich versammeln konnten. Diese Leute bildeten die Basis der Organisation. Von diesen Leuten sind viele tot, viele im Gefängnis gewesen, viele ins Exil gegangen, und haben in Argentinien, Chile und Nicargua gekämpft. Sie konnten nicht lesen und schreiben und haben sich zu Kommandanten weiterentwickelt, zu Führern. Natürlich haben die Arbeiter und Bauern weder die Bildung noch die Zeit für Theoriestudium, wie die Kader, die die Organisationen gegründet haben. Lenin und Trotzki waren gebildete Persönlichkeiten, Che Guevara, Raúl Sendic oder Fidel Castro ebenso. Ich denke, Teil der Arbeiterklasse zu sein, bedeutet zunächst nichts anderes, als daß du eben Arbeiter bist. Damit begründet sich nicht per se eine spezielle Befähigung, genauso wenig wie bei Intellektuellen, Kleinbürgern oder Bourgeois. Die Integrität einer Person, ihr Engagement, Ehrlichkeit oder ihre Entwicklung sind davon unabhängig.

Kehren wir zu Dir zurück. Du warst inzwischen Tupamaro und führendes Mitglied der Bewegung im Untergrund. Was bedeutete das für Dein Leben als Kulturschaffender: War es ein Widerspruch für Dich oder eine notwendige Entwicklung?

Es hat in Lateinamerika keinen einzigen Intellektuellen von Rang gegeben, der nicht gesellschaftlich engagiert gewesen wäre. Hinzu kommt, daß nur sehr wenige von der Schriftstellerei leben können. Sie sind Bankangestellte, arbeiten im öffentlichen Dienst, sind Ärzte, Anwälte oder wie die Mehrheit der Schriftsteller, Journalisten. Die Literatur sagt auch immer etwas über den sozialen Kontext des Autoren aus. Ich halte „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel García Márquez zum Beispiel für ein überaus realistisches Werk. „Pedro Páramo“ von Juan Rulfo ist genauso realistisch. Von außen erscheinen diese Werke als Halluzinationen, Träume, Fantasie. Das sind sie aber nicht. Vielmehr ist Lateinamerika ein surrealistischer Kontinent. Dort passieren Sachen, die man sich nur in Romanen vorstellen kann. Lateinamerikanische Autoren sind also in der Regel engagiert. Es ist schwer, einen Schriftsteller zu finden, der sich nicht mit Politik befaßt, sich nicht zum Zeitgeschehen äußern würde, nicht engagiert wäre, nicht Sprecher irgendeiner Organisation wäre. Insofern habe ich Politik und Literatur nie als unvereinbar gesehen, im Gegenteil.

Wie kam es dann zu Deiner Festnahme?

Das war am 19. März 1972. Ich war damals politischer Verantwortlicher der Organisation. Zu diesem Zeitpunkt war die Bewegung zu einem Schmelztiegel verschiedenster Erfahrungen geworden, auch Christen waren beteiligt. Das hatte uns erlaubt, die politische Abteilung aufzubauen, gleichzeitig eine legale Bewegung, die Bewegung 26. März. Der Einfluß war so in die Breite gegangen, daß wir unbedingt eine legale politische Organisation brauchten. Wir gründeten legale Zeitungen und Zeitschriften, wie „Cuestión“ oder „La Idea“. Die Aktionseinheitspolitik kam gut voran. Wir bereiteten damals gerade eine Gegenoffensive vor, an der sich auch andere Organisationen beteiligen wollten. An jenem Tag also geriet ich in einen Hinterhalt. Es war Verrat einer Gruppe führender Kader im Spiel, die zum Feind übergelaufen waren. So wurde ich Gefangener. Ich habe ihre Fragen nicht beantwortet. Sie wußten mich zunächst nicht genau innerhalb der Organisation zu verorten. Während neun, zehn Monaten haben sie mich verhört. Drei Mal in dieser Zeit mußten sie mich ins Krankenhaus einliefern. Danach wurde unsere Führungsgruppe, wie ihr wißt, in völliger Isolationshaft gehalten, während elfeinhalb Jahren.

Habt Ihr Euch irgendwie auf den Moment Eurer Festnahme vorbereitet?

Wir wußten, daß wir Tod, Folter oder Gefängnis riskierten. Das war Teil der Spielregeln. Deswegen haben wir nach unserer Entlassung nichts dazu gesagt, wie sie uns behandelt haben. Wir wußten vorher, auf was wir uns eingelassen hatten – daß sie uns töten, foltern oder zum Krüppel schlagen können. Jeden Moment konnte so etwas passieren.

Wir möchten Dich nicht weiter zu den Jahren im Gefängnis befragen, da Ihr diese Jahre eindrucksvoll in Eurem Buch „Wie Efeu an der Mauer“ beschrieben habt. Aber vielleicht kannst Du uns erklären, was Dir die meiste Kraft gegeben hat, all diese langen Jahre nicht nur zu überleben, sondern dabei auch Deine Würde und Persönlichkeit zu bewahren?

Ohne Würde gibt es keinen Grund zum Überleben. Ich glaube, die Würde ist etwas dem Menschen Innewohnendes, ebenso inhärent wie die Liebe zum Leben. Das ist keine Frage von Ideologien. Überzeugter oder weniger überzeugter Marxist zu sein, sagt nichts darüber aus, wie du so etwas aushalten kannst. Für mich geht es hier um Grundfragen des Menschseins. Ich bin überzeugt, daß jeder andere Würde empfindende Mensch dieselben Bedingungen genauso hätte ertragen können. Die Geschichte ist voll von ähnlichen Erfahrungen. Nach unserer Entlassung haben wir allen Genossen die gleiche Frage gestellt. Wir fragten, wie sie es geschafft haben, ihren Widerstand aufrechtzuerhalten. Ich bin überzeugt davon, daß jeder einen Zeugen in sich trägt, dem gegenüber er sich würdig verhalten, bestehen will. Denn wenn du der Repression gegenüber Schwäche zeigst, nachgibst, wie willst du deinen Kindern in die Augen schauen, deinem Bruder, deiner Frau. Unter anderem habe ich auch „Negro“, einen schwarzen Genossen, gefragt. Er erzählte mir: „Wenn sie mich folterten, habe ich an Patrice Lumumba gedacht“. Auch mit katholischen Priestern und evangelischen Pastoren habe ich darüber gesprochen, und sie erzählten mir, daß Jesus bei ihnen war. Viele andere Genossen spürten in diesen Momenten die Gegenwart von Che Guevara. Jesus, Lumumba, Buddha, Che oder wer auch immer – wir alle haben eine Referenz, ein Vorbild, vor dem wir erhobenen Hauptes bestehen wollen.

Welche Rolle spielte der Gedanke an die politischen Ziele, an die Revolution hinter den Mauern?

Das hatte nur eine relative Bedeutung. Ich will da ganz ehrlich sein. Ich weiß, die klassische Antwort auf diese Frage wäre zu sagen, „daß wir nie das Vertrauen in die Massen, das Volk, die Partei verloren haben“. Wir mußten uns von der Außenwelt lösen, um überleben zu können, teilweise bis zu einem Grad emotionaler Abstumpfung. Die Welt existierte nur in unserem Inneren. Wenn du ein Hemd besaßt, konnten sie es dir wegnehmen. Die Tasse, die deine war, konnten sie dir wegnehmen. Was du fühltest und dachtest, das konnten sie nicht stehlen. Solidarische Aktionen sind nicht bis zu uns durchgedrungen. Während all der elfeinhalb Jahre gab es für uns keinerlei Veränderungen, keine Nachrichten von außen. Außen existierte nicht. Es hätte Solidarität mit uns geben können, aber ebenso nicht. Erst später erfuhren wir, daß an Rettungsaktionen gedacht worden war wie die Besetzung von Kasernen etc. Das ist alles ganz toll, aber unter unseren Bedingungen war das reine Illusion und Fantasie. Widerstand und Durchhaltevermögen konnten wir daraus nicht ziehen, genauso wenig wie Proteine und Hoffnung. Wir mußten davon ausgehen, daß wir nicht mehr rauskommen würden, und uns nur bleibt, in Würde zu widerstehen.

Wie war es nach Eurer Entlassung? War es ein Neubeginn oder ein Wiederanknüpfen an Vorheriges? Wir stellen uns vor, daß es schwierig ist, solche Erfahrungen, die Du gerade geschildert hast, zu vermitteln und zu teilen mit Menschen, die sie nicht auch erlebt haben. Die Haft- und Foltererfahrungen bleiben ein Problem in der Freiheit?

Keiner kommt heil da raus, ohne irgendein Trauma. Ich war neben Ñato, Pepe in der Zelle neben uns wurde wahnsinnig. Man erzählte uns, daß ein weiterer Genosse verrückt geworden war, und daß es „Bebe“ (Raúl Sendic) sehr schlecht ging. Eine andere der neun Geiseln versank in Agonie. Vor diesem Hintergrund haben Ñato und ich uns geschworen, über all das Zeugnis abzulegen, wenn wir überleben sollten. Beide sind wir freigekommen und haben, wie Ihr wißt, unsere Geschichte aufgeschrieben. Das war also unser Vorhaben für die Zeit nach einer Freilassung. Andere Genossen hatten große Probleme, einige haben sogar Selbstmord begangen nach der Freilassung. Denn was ihnen widerfahren war, waren nicht nur dreizehn, vierzehn oder zehn Jahre Gefängnis unter Sonderbedingungen, sondern das waren auch dreizehn oder vierzehn Jahre ihres Lebens. Frauen, die jung verhaftet wurden und vielleicht den Wunsch hatten, einmal Kinder zu bekommen, waren bei ihrer Entlassung oft schon zu alt dafür.

Uns ging es bei unserer Entlassung ein wenig so, als reiße uns ein Wildbach mit. Es war ein wenig so, wie es in einer Anekdote über Miguel de Unamuno erzählt wird, der Universitätsdozent in Salamanca war und unter Franco verhaftet wurde. Als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, kehrte er an die Universität zurück und begann seine erste Vorlesung mit den Worten: „Wo waren wir gestern stehengeblieben…“. Bei uns war es ein wenig ähnlich – natürlich waren alle ein bißchen älter, aber auch erfahrener.

Gab es keine Verständigungsschwierigkeiten zwischen den freigelassenen Genossen und denen, die nie verhaftet waren?

Es gab Kommunikationsprobleme zwischen denen draußen und denen drinnen, zwischen denen draußen und denen im Exil, zwischen denen im Exil und denen im Gefängnis, zwischen denen im Gefängnis. Da passierten Dinge, die nicht mehr politisch, sondern nur physisch und psychisch erklärt werden können. Das Gefängnis „La Libertad“ (Die Freiheit) beispielsweise hatte fünf Stockwerke. Ein hoher Turm in der Mitte, von dem rechts und links zwei Flügel abgingen. Die Flügel hatten einen nach Westen und einen nach Osten gerichteten Sektor. Die Kommunikationsbarrieren für die Leute verliefen entsprechend der Stockwerke, der Flügel und der Sektoren. Alle zusammen waren abgetrennt von der Außenwelt. Was geschah war, daß sich ideologische Zirkel bildeten, um irgendwie in Bewegung zu bleiben. Der Zirkel vom ersten Stock grenzte sich also ab von dem im dritten Stock und vertrat auch nicht dasselbe wie der vom zweiten Stock des anderen Flügels… Als die Genossen entlassen wurden, blieben sie diesem Zirkeldenken verhaftet. Das ist auch genau das, was den Veteranen der Kommunistischen Partei passiert, daß nämlich ihr Denkschema weiterläuft, obwohl alles zusammengebrochen ist.

Es gibt Leute, die meinen, die Tupamaros seien zu ihrer eigenen Legende geworden. Ohne so weit zu gehen, kann man sagen, daß es eine reale Gefahr für eine politische Organisation gibt, die eine bedeutende Geschichte hat und nach einer langen Phase der Verfolgung neu aufgebaut wird, einer gewissen Mystik zu verfallen. Nehmen wir als Beispiel die sozialistische POUM (Partido Obrero Unificado Marxista) in Spanien, die sich nach dem Tode Francos 1975 wiedergründete. Das hat aber nicht funktioniert, denn sie hatten nur ihre heroische Geschichte, aber keine aktuelle Politik anzubieten. Gibt es bei den Tupas eine bewußte Politik, um dies zu vermeiden?

Zunächst möchte ich festhalten, daß es nie Ziel oder Absicht der MLN war, Mythen oder Legenden zu schaffen. Wir sind nicht verantwortlich für das, was sich außerhalb unseres Wollens entwickelt hat. Daß die Leute uns mögen, wurde bei unserer Entlassung aus dem Gefängnis deutlich und bei anderen Gelegenheiten. Eine Sache ist sicher, und zwar: genauso wie die Organisation in einem bestimmten historischen Moment in der Lage war, eine bestimmte historische Antwort zu geben, damals der bewaffnete Kampf – wobei das nicht richtig ist, wir sind immer auf beiden Beinen gegangen, haben bewaffnet gekämpft oder besser gesagt bewaffnete Propaganda betrieben und gleichzeitig in legalen Massenorganisationen. Auf die gleiche Weise haben wir in der Phase des Wiederaufbaus ein politisches Konzept für die neue historische Etappe entwickelt, das sich nicht wesentlich von dem anderer Organisationen in Uruguay unterscheidet, mit denen wir in der „Frente Amplio“ zusammenarbeiten, die wir mitgegründet haben und in der achtzehn Organisationen vertreten sind. Im Politisch-Konzeptionellen gibt es keine großen Unterschiede zu all diesen Organisationen. Der Unterschied liegt in der Geschichte. Ich will hier nicht von Legende sprechen, sondern von Geschichte. Und die Geschichte ist sehr wichtig in dieser Hinsicht. Die Leute wissen, daß wir für dieses Programm bereit waren, unser Leben zu geben, unsere Freiheit eingesetzt haben. Das wissen die Leute sehr gut. Als wir weitermachten, gab es viele laute Stimmen, die uns zur Selbstkritik gerufen haben. Das ist aber unsere eigene Angelegenheit. In der Zeit, als wir täglich mindestens drei Reporter im Hause hatten, erzählte ich einmal die Episode von einem fanatischen Genossen, der in einer Sitzung zu mir sagte: „Komm jetzt her und setz dich hin, ich werde Selbstkritik mit dir machen.“ Was steckt hinter solchem Ansinnen? Da wird doch nichts anderes erwartet, als daß du deine Auffassungen denjenigen anpaßt, die der Mahner zur Selbstkritik selbst für die einzig richtigen hält.

Du hast einem neuen Roman fertiggestellt?

Die erste Auflage ist in Uruguay bereits vergriffen. Ich haben diesen Roman Raúl Sendic gewidmet. Ich fahre jetzt nach Spanien weiter, um an der Präsentation des spanischen Verlages teilzunehmen.

Wann wird die deutsche Fassung erscheinen?

Vielleicht im nächsten Jahr…

Wir danken dir für dieses Gespräch!