Operation Wunder in Bolivien

Doña Matilde ist 58 Jahre alt. Vor dreißig Jahren starb ihr Ehemann, der ihr drei Kinder hinterließ. Damals beschloss sie ihr Heimatdorf Machaca in den Zentralanden Boliviens zu verlassen, um in Cochabamba zu leben, einem der neun Departements Boliviens (natürlich das schönste!). Seitdem arbeitet sie als fliegende Straßenhändlerin, wie die Mehrheit der MigrantInnen in Bolivien. Jeden Morgen geht sie raus, um Süßigkeiten und Zigaretten in einem kleinen Korb feil zu bieten. Obwohl sie schlecht Spanisch spricht, da ihre Muttersprache Quechua ist, hat Doña Matilde ihre „Stammkunden“ – aus Solidarität oder Mitleid. Ihre Stammkunden, die ihr vollstes Vertrauen genießen, wissen, dass der Ehemann ihrer Tochter ein schlechter Mann ist, der sie mit einer Tochter sitzen ließ, die Doña Matilde mit großzieht. Sie wissen, dass die andere Tochter an der staatlichen Universität studieren wird und dass der einzige Mann der Familie geistig behindert ist. Sie wissen auch, dass Doña Matilde langsam ihr Sehvermögen verliert. Doña Matilde ist nur eine von vielen in Lateinamerika, die Schwierigkeiten mit dem Sehvermögen haben. Laut Studien von cubanischen SpezialistInnen leiden die meisten unter schweren Augenschäden oder gar Blindheit aufgrund zweier heilbarer Krankheiten: Pterigium und Grauer Star. Doña Matilde hatte Pterigium, das erfuhr sie in der Sprechstunde von der Doktorin Elena. 

Elena García kam im September 2005 zusammen mit anderen cubanischen FachärztInnen nach Bolivien. Ursprünglich sollten die PatientInnen nach Cuba geschickt werden, um dort operiert zu werden. So lief es ab, als Elena in Venezuela auf Mission war. Doña Matilde sollte eine dieser PatientInnen sein. Aber dann teilten sie ihr mit, dass sie nicht so weit reisen müsse und dass sie in Bolivien operiert werden würde. Nein, sagte Doña Matilde zur Doktorin, ich wollte doch so gerne deinen Präsidenten kennen lernen. Cuba spendete zu diesem Zeitpunkt moderne Ausstattung an Bolivien, die zunächst nach La Paz, dann nach Cochabamba gelangte. So kam es, dass Matilde ein Auge in La Paz und das andere in Cochabamba operieren ließ. In Bolivien verhalten sich viele ÄrztInnen überheblich gegenüber ihren PatientInnen. Vor allem diejenigen, die für den Staat arbeiten und keine zusätzlichen Einnahmen haben. Schlechte Behandlung in Krankenhäusern von Seiten des medizinischen Personals wird als normal hingenommen, noch schlechter werden Indígenas behandelt. Deswegen sind Matilde und die anderen PatientInnen vor allem von der Warmherzigkeit beeindruckt, die ihnen die CubanerInnen entgegen bringen. Wenn sie nicht im Rahmen dieses Projektes behandelt worden wäre, hätte Doña Matilde 800 US-Dollar bezahlen müssen, um ihr Sehvermögen wiederherzustellen. Eine unerreichbare Summe für jemanden, der ein tägliches Einkommen von gerade mal zehn Bolivianos (ungefähr einem Euro) hat. 

Das cubanische Angebot sorgte in den Schulen für Augenheilkunde natürlich für Empörung. Das konnte mal wieder nur eine Idee der CubanerInnen sein – umsonst operieren! In den vielen bezahlten Anzeigen, die in den Zeitungen Cochabambas erschienen, wurde das cubanische Personal als nicht qualifiziert genug dargestellt, wurde behauptet, dass es die Operationen in unangemessenen Räumlichkeiten durchführen würde, dass dies die Souveränität Boliviens untergraben würde etc. Einer der Unterzeichnenden war Dr. Campero, ein Augenarzt, der in Cochabamba eine moderne Klinik aufgezogen hatte, in der sehr viel Geld steckt. Am 29. April dieses Jahres unterzeichneten Bolivien, Cuba und Venezuela im Rahmen der ALBA, der Bolivarianischen Alternative für Lateinamerika, das TPC, das Handelsabkommen der Völker. Dieses Abkommen sichert der „Operation Wunder“ einen legalen Rahmen und Fortbestand. Für den Präsidenten und die venezolanische Regierung, die die Arbeit der cubanischen ÄrztInnen finanziert, ist dies ein geeignetes Vorgehen, um den bedürftigsten Menschen dieser Region zu helfen. 100 000 Operationen im Jahr sind vorgesehen – 100 000 mal die Chance, sein Sehvermögen wiederzuerlangen und damit in vielen Fällen auch seinen Arbeitsplatz, die Möglichkeit, sich selbst und die Seinen über Wasser zu halten.