Der Bevölkerung geht es inzwischen um weit mehr als nur die erhöhten Sozialabgaben. Die aufgestaute Wut gegen die andauernde Repression, den Autoritarismus und die Straflosigkeit, gegen die Politik der letzten zehn Jahre hat sich entladen. Bereits 2013 hatte es einen kleinen Protest von Rentner*innen gegen Dekapitalisierung und Korruption in der staatlichen Sozialkasse INSS gegeben, der massiv niedergeschlagen wurde. Jetzt solidarisierten sich schnell die Studierenden aller Universitäten sowie die bäuerliche Bewegung, die seit zwei Jahren im Widerstand gegen das Kanalgesetz und damit verbundene Enteignungsdrohungen mit dem Rücken zur Wand steht (vgl. Beitrag in der ila 415). Obwohl sie niemals Renten zu erwarten haben, nahmen 1000 Bauern und Bäuerinnen an den städtischen Demonstrationen teil.

Die Teilnehmer*innen der Demonstrationen am 18. und 23. April forderten den Rücktritt der Polizeispitze, eine inter-nationale Wahrheitskommission zur rückhaltlosen Aufklärung und Verurteilung der Verantwortlichen für die Toten und Verschwundenen, einen nationalen Dialog über den zukünftigen Weg des Landes und den Rücktritt der Regierung.

Das Informationsbüro Nicaragua und das Ökumenische Büro für Frieden und Gerechtigkeit sowie mehrere Städtepartnerschaftsgruppen haben sich in einem offenen Brief an die nicaraguanische Regierung mit den Protestierenden und deren Forderungen solidarisiert. Anknüpfend an die Ideale und Erfolge der sandinistischen Revolution könne eine weitere Vertiefung nur mit und nicht gegen die Bevölkerung und im Dialog mit den verschiedenen Sektoren der nicaraguanischen Gesellschaft angestrebt werden, was die Studierenden, die Frauen- und Umweltbewegung, die Landbevölkerung wie auch die Bewegung gegen den interozeanischen Kanal mit einschließe.

Die aktuelle Bewegung in Nicaragua ist autonom, sie hat keine Führer und verbindet sich mit keiner der existierenden Parteien (Der Unternehmerverband COSEP und die katholische Kirche waren in Nicaragua nie autonom oder progressiv – d. Säz.), wie dies im Aufstand gegen Somoza passierte. Ihre Demonstrationsformen ähneln stark dem antisomozistischen Widerstand der 70er-Jahre. Es werden Barrikaden gebaut, brennen-de Reifen erleuchten abends die Straßen in den Stadtteilen. Symbole der Macht werden geschleift, bisher sind über 20 der großen blechernen Lebensbäume Rosario Murillos gekippt worden und schwarz-rote Sandinostatuen werden in den Landesfarben blau-weiß angestrichen. Parolen werden gerufen wie Ortega y Somoza son la misma cosa (Ortega und Somoza sind der gleiche Mist) oder Un pueblo unido jamás será vencido (Ein Volk vereint, dann wird es nicht besiegt). Als Antwort richtete das Parlament eine nationale Kommission ein, die von den Studierenden aber nicht anerkannt wird, weil sie sich aus regierungshörigen Leuten zusammensetzt. Ortega war anfangs nur bereit, mit dem Unternehmerverband in einen Dialog einzutreten, willigte aber schließlich in einen personell und thematisch geöffneten Dialog unter Moderation der Kirche ein.

Es gibt aber auch unter den Demonstrierenden viele Stimmen, die den Dialog ablehnen, solange die Repression weitergeht. Ernesto Cardenal, Kulturminister während der sandinistischen Revolution 1979-1990, bezog sich auf die prophetischen Worte seines Bruders Fernando, der die sandinistische Alphabetisierungskampagne leitete und 2016 starb: „Meine Hoffnung ist, dass die Jugendlichen auf die Straße zurückkehren, um Geschichte zu schreiben“, und forderte, „es dürfe keinen Dialog zwischen Ortega und der Zivilgesellschaft geben“; nach der Welle der Gewalt müsse eine „andere Regierung, eine demokratische Republik“ gewählt werden. „Ein Dialog ergibt keinen Sinn, wo es nichts zu verständigen gibt!“ Seit Mitte Mai finden jetzt zweimal wöchentlich bis Mitte Juni sogenannte Dialogrunden statt. Der Regierungsdelegation gehören neben einigen Ministern und Beratern regierungsnahe Gewerkschafter der Frente Nacional de los Trabajadores (FNT) und der Landarbeitergewerkschaft ATC sowie Rektorinnen der Universitäten sowie 15 Mitglieder der Studierendenvertretung UNEN an. Besonders verhasst sowohl bei den Studierenden als auch bei den Bauern ist Telemaco Talavera, Vorsitzender des nationalen Universitätsrates CNU, gleichzeitig Präsident der Agraruniversität UNA und Regierungssprecher für das Kanalprojekt. 90 Prozent der Universitätsdozent*innen der UNA erklärten, dass sie sich nicht von ihm vertreten fühlten, da er das Vorgehen der Polizei in und vor den Universitäten akzeptiert habe, was zu mindestens 30 Toten führte, und vor der Presse behauptete, er sei von Studenten entführt worden. Nach der zweiten Runde gab die Bischofskonferenz bekannt, dass die Regierung versprochen habe, die Polizei und die Schlägertrupps in ihre Kasernen zurückzuziehen. Die Student*innen machten jedoch auch klar, „dass dies nicht bedeutet, dass die Bevölkerung, die das volle Recht hat zu demonstrieren, sich zu mobilisieren und sich auf friedliche und zivilisierte Weise auszudrücken, jetzt nach Hause geht“.

Der Koordinator der Bauernbewegung gegen den Kanal, Medardo Mairena, erklärte, man werde die Straßensperren so lange nicht aufheben, bis Ortega abtrete. In der Tat sind die Straßensperren im Süden, in Chontales, Juigalpa, in Nueva Guinea trotz des Dialogs bisher nicht verschwunden. Sie sind aber flexibilisiert worden, um bestimmte Bevölkerungsgruppen durchzulassen beziehungsweise werden zyklisch geöffnet. In Nueva Guinea verteilten die Bauern kostenlose Milch an die Bevölkerung, um die Versorgungsengpässe zu überwinden. Barrikaden sind das stärkste Druckmittel, weil sie Wirtschaft und Regierung in die Knie zwingen können. Umgekehrt redet die Regierung jetzt nur noch von Wirtschaft und malt die Millionenschäden an die Wand, die durch die Demonstrant*innen entstanden sind. Tourismus, Handel, Investitionen und Produktion gingen wegen der Unruhen zurück und das prognostizierte Wirtschaftswachstum von 4,5 bis 5 Prozent würde 2018 nicht mehr erreicht.

Bezüglich der Ernsthaftigkeit und Wirksamkeit des Dialogs sind Zweifel angebracht. So werden die Protestierenden in den regierungsnahen TV-Kanälen 2, 4, 6, 8 und 13 als Kriminelle bezeichnet. Die Proteste der Bürger nannte Vizepräsidentin Murillo „eine Plage, wie die sieben biblischen Plagen, die uns seit genau einem Monat verheeren“ und beschimpfte die Studentenvertreter Lesther Alemán und Víctor Cuadras als „dissonante und schlecht erzogene Stimmen“. Gleichzeitig wird die Polizei mit massiver Gewalt eingesetzt, um die Barrikaden zu räumen, wie in Juigalpa. Und während der Dialogrunden gibt es weiter Tote und Verletzte, wie in den Städten Matagalpa und Sébaco. In Sébaco und der Provinzstadt Juigalpa hatten sich katholische Bischöfe und Priester schützend vor Demonstrant*innen gestellt, um die Polizei von weiterer Repression abzuhalten. Am 23. Mai haben Truppen der Aufstandsbekämpfungspolizei in Uniform und Zivil und Banden der Sandinistischen Jugend bewaffnet mit Pistolen, Steinen, Knüppeln und Macheten die Barrikaden in León, Télica, Estelí und Ocotal angegriffen. Und in der zweiten Dialogrunde sind Ortega und Murillo gar nicht erst erschienen. Auch der schleppende Zyklus von nur zwei Dialogrunden pro Woche kann Taktik der Regierung sein, den Widerstand zu ermüden, zumal die Bewegung über keine Führungspersonen verfügt und die entstehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten dazu führen, dass die Unterstützung durch die Bevölkerung abnimmt. In Jinotega versammelte das INSS die um ihre Rente besorgten Empfänger und erklärte ihnen, die Rente könne nicht ausgezahlt werden, weil die Student*innen die Straßen blockierten.

Unklar ist die Rolle der Wirtschaftsvertreter. Sie profitierten lange von der in Mittelamerika einzigartigen politischen und sozialen Stabilität Nicaraguas, den extraktivistischen Möglichkeiten, den gut qualifizierten Arbeitskräften und hohen Zuwendungen aus Venezuela und haben Sorge, dass es damit nun zu Ende geht. Unter dem Druck der Straße können sie sich aber eine weitere Zusammenarbeit mit dem Regime nicht leisten. So erklärte der Vertreter der landwirtschaftlichen Produzenten (UPANIC), dass es kein Zurück mehr zur Situation „vor den 76 Toten“ gebe: „Wir können sofort wieder unsere Arbeit aufnehmen, wenn Daniel Ortega und Rosario Murillo abtreten.“ Auch am 21.Mai, dem dritten Tag des nationalen Dialogs, erreichte die Regierung Daniel Ortegas und Rosario Murillos nicht ihr Ziel, die Straßensperren abzubauen und die Proteste der Campesino/as und Student*innen in den Gemeinden und Universitäten des Landes zu beenden, war aber auch nicht bereit, über einen Rücktritt zu diskutieren.

Die Studierendenvertreter*innen fordern eine Übergangsregierung, die die inhaltlichen Forderungen umsetzt. Die Regierung erklärte, die OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) zum weiteren Dialog einzuladen, um sich deren Vorschläge zu einem verfassungsgemäßen Regierungsübergang anzuhören. Gleichzeitig befand sich auch eine Untersuchungskommission der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) im Land, um Gefängnisse und Krankenhäuser zu besuchen. verschiedene Sektoren der Gesellschaft zu treffen, die Opfer und ihre Vertreter*innen zu hören und dadurch die Verantwortung des Staates für Verletzungen der international vereinbarten Menschenrechte zu ermitteln. Unter ihren Empfehlungen waren das unmittelbare Ende der Repression, Demonstrationsfreiheit, internationale Mechanismen zur Untersuchung der Verantwortlichkeiten, die Entwaffnung der paramilitärischen Gruppen, Pressefreiheit, keine Stigmatisierung von Demonstrant*innen. Die Regierung akzeptierte den Abschlussbericht mit den dort aufgeführten Todesopfern grundsätzlich und alle Beteiligten kamen überein, eine Kommission zu bilden, die die Einhaltung der Empfehlungen der CIDH überwachen soll.

Wie kann es weitergehen? Dass das aktuelle Wirtschaftsmodell Nicaraguas an seine Grenze gekommen und die vermeintliche Stabilität rissig geworden ist, war durchaus vorher abzusehen (vgl. ila 404 vom April 2017). Mit dem Rückgang der venezolanischen Hilfe waren die Sozialtransfers nicht mehr finanzierbar und das System von Kooptation und selektiver Repression konnte nicht mehr funktionieren. Bislang sind soziale Fragen maßgeblich zwischen Regierung, Vertretern der sandinistisch kontrollierten Gewerkschaften und dem Unternehmerverband ausgehandelt worden. Die Interessenkonflikte werden stärker und die Ausgegrenzten wehren sich. Dies zeigte sich bereits an der Dekapitalisierung des INSS. Auch die Ausplünderung der Bodenschätze und Waldreserven kann nicht weiter vertieft werden, die Ressourcen gehen zu Ende und Landnutzungskonflike mehrten sich schon seit Jahren. Nachdem im März die letzten Wälder in der Bioreserve Indio Maíz zwei Wochen brannten, haben zuerst Umweltorganisationen und indigene Gruppen gegen die Untätigkeit der Regierung und die Verantwortung von „Kolonisatoren“ protestiert, die sich neues Land durch Brandrodung erschließen; die Studierenden haben sich dem Protest angeschlossen.

Als mögliche Szenarien werden diskutiert: Erstens, die Regierung nutzt den Dialogprozess dazu, Zeit und die Oberhand zu gewinnen und die Repression zu verstärken. Es bleibt fraglich, wie lange die Regierung die Opposition durch Kooptation und Repression neutralisieren kann, zumal wenn sich die verschiedenen Kräfte der Opposition (Frauenbewegung, Bäuerliche Bewegung, Studierendenbewegung) nicht mehr ausgrenzen lassen, sondern sich zusammenschließen. Nach Einschätzungen aus der Frauenbewegung stünden etwa 40 Prozent der Nicaraguaner*innen aktiv gegen die Regierung, 30 Prozent seien passiv kritisch entweder aus Angst oder weil sie an Frieden und Stabilität interessiert sind und 30 Prozent stünden aktiv hinter der Regierung.

Eine zweites Szenario wäre, der Konflikt spitzt sich weiter zu und die Regierung wird nach einem Generalstreik oder einem Bürgerkrieg gezwungen, abzutreten oder das Land zu verlassen. Darauf hofft die Protestbewegung. Eine dritte Möglichkeit wäre, im Dialog werden Kompromisse für eine Übergangsregierung und Neuwahlen geschlossen. Wird die Revolution nun 40 Jahre nach ihrem Beginn vertieft oder beendet? Die dissidente Sandinistin Mónica Baltodano hofft, dass nicht nur Gesichter in der Regierung ausgetauscht werden, sondern dass sich eine kritische Masse organisiert und die Nicaraguaner*innen den Wandel, „ein anderes Gesellschaftsmodell“, selbst bestimmen.