Anfang der 2000er-Jahre sorgte eine Compilation aus Haiti für Begeisterungsstürme unter den LiebhaberInnen akustischer Sounds aus Afrika, Lateinamerika oder eben auch der Karibik: Haïtian Troubadours (Vol. 1 und 2), erschienen auf dem Label des karibischen Superstars Jacob Desvarieux. Damit wurde hierzulande ein Genre breiteren Hörerkreisen bekannt, das DIE Musik Haitis ist: Kompa. Seit den 50er-Jahren extrem populär, Midtempo, dennoch äußerst tanzbar (paarweise, bien sûr!), thematisch um die Sujets Liebe, Alltag, Verbundenheit mit Land und Leuten kreisend. Eine der musikalischen Zutaten des Kompa ist der cubanische Son, dank der haitianischen Wanderarbeiter auf den cubanischen Zuckerrohrfeldern in den 20er-/30er-Jahren, die bei ihrer Rückkehr diesen Stil nach Haiti brachten. Kompa wird von kleineren akustischen Ensembles, aber auch von großen Orchestern gespielt; das Genre ist allerdings nicht vor digitalen Verwerfungen wie billigen Synthesizersounds und Stimmverzerrern gefeit.
„In Haiti selbst sind Musiker populärer als Maler oder Schriftsteller, in der internationalen Wahrnehmung ist es eher umgekehrt“, stellt Pascale Jauny, Manager der Band Boulpik fest. Bis auf die anfangs genannten Compilations gibt es wenige Gruppen oder Tonträger, die außerhalb Haitis bekannt sind. Boulpik hat es jedoch geschafft, ohne dafür ins Exil zu gehen. Selbst im deutschen Radio (im Sender, der auf Global Sounds spezialisiert ist) läuft Boulpiks Hit Nèg Dafrik. Der in Haiti allgegenwärtige Kompa ist auf den Straßen und Plätzen entstanden; Kompa-Gruppen sind unverzichtbarer Bestandteil auf privaten Partys. Die Hochzeit dieses Genres fällt mit dem Tourismusboom der 1970er-Jahre zusammen. Auch wenn diese Ära lange vorbei ist, lebt der haitianische Kompa weiter. Allerdings sind das Erdbeben von 2010, der schleppende Wiederaufbau, die politische und wirtschaftliche Krise in Haiti auch für die Musiker fatal gewesen. Da grenzt es schon an ein Wunder, dass Boulpik letztes Jahr durchstarten konnte. Produzent José Da Silva vom Plattenlabel Lusafrica, der schon Cesária Evora entdeckte und förderte, hörte Boulpik 2012 bei einem Auftritt im Hotel Plaza in Port-au- Prince. Es war Liebe auf den ersten Blick. Er nahm sie unter seine Fittiche.
Boulpik-Gründer Franckel Sifranc konnte zu dem Zeitpunkt auf eine lange Musikerkarriere zurückblicken. Aufgewachsen ist er in einer Bauernfamilie in der westhaitianischen Provinz, musikalisch sozialisiert mit der Musik der ti djaz, der „kleinen“ akustischen Ensembles (in Abgrenzung zu den gwo djaz, den großen Orchestern mit modernen Instrumenten und elektronischer Verstärkung), die auf lokal hergestellten Instrumenten musizierten: Gitarre oder Banjo, Kontrabass oder Maniboula (äquivalent zur cubanischen Marímbula, einem Lamellophon mit Resonanzkasten), Trommeln, Maracas (Rumba-Rasseln) oder Kaskayèt (Klanghölzer), Solostimme und Chor.
Ende der 70er-Jahre, Franckel ist gerade einmal 14, geht er nach Port-au-Prince. In der Hauptstadt arbeitet er als Laufbursche, dann in der Musikgruppe „Ti Okap“, in der er singt sowie Maracas und Kaskayèt spielt. Im Jahr 1980 gründet er seine eigene Gruppe, Frère Desjeunes, mit der er 24 Jahre lang zusammen Musik macht. 2004 benennt er die Gruppe um, nimmt jüngere Musiker auf, die Geburtsstunde des Sextetts Boulpik. Heute gehört Franckel Sifranc zu den ältesten Troubadouren von Port-au-Prince. „Ich bin der Vater, besser: der Großvater aller Troubadourgruppen in Port-au-Prince“, meint er gänzlich unbescheiden. „Ich habe mit so vielen Musikern zusammengearbeitet. Wer behauptet, mich nicht zu kennen, ist ein Lügner.“
Boulpiks Album Konpa Lakay (in etwa „hausgemachter Kompa“) wurde auf diversen Hitlisten des Jahres 2014 weit oben platziert: Platz neun der World Music Charts Europe, Platz zwölf der Albums World/Afrique von Radio France International.
Dank der für den Kompa typischen mittelschnellen, dennoch treibenden perkussiven Grundlage hat „Konpa Lakay“ etwas entspannt Puckerndes; durch die Instrumente (zwei Banjos!), Melodien und Stimmen bekommt das Ganze einen geschmeidigen, sämigen Sound, ohne dabei schwer zu sein; gleichzeitig ist da diese Grundmelancholie, die man von der Musik aus den Kapverden, aus Angola, dem portugiesischen Fado oder bestimmter brasilianischer Musik kennt.
Der Hit des Albums, Nèg Dafrik, endet mit den Zeilen: Nou pa janm bliye Henri Christophe / Nou pa janm bliye Kwame Nkrumah / Nou pa janm bliye Capois-La-Mort / Nou pa janm bliye Mandela / Nou pa janm bliye Amilcar Cabral – eine Aufzählung historischer Persönlichkeiten, die die Sänger „niemals vergessen werden“: Henri Christophe, der in der Haitianischen Revolution gegen die Franzosen kämpfte und von 1811 bis 1820 König von Nord-Haiti war; Capois-La-Mort, ein anderer haitianischer Freiheitskämpfer; des Weiteren Idole der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen, was den panafrikanischen Charakter der Hommage unterstreicht. Auch Souvenir d’Afrique erinnert an die Wurzeln der ersten Schwarzen Republik. Hinzu kommen Alltagserzählungen. In Twa Zan erzählt Franckel von seinen Erfahrungen während des verheerenden Hurrikans Allen im Jahr 1980. Lakay, eine Liebeserklärung an Haiti, ist eine Coverversion der bekannten haitianischen Exilformation Tabou Combo. Und in Rele heißt es schlicht und optimistisch: „Gott hat uns zu Troubadouren gemacht. Lasst uns auf die Liebe, die Freude und das Leben singen.“