Die Romanistikprofessorin Doris Sommer untersucht in ihrem Buch Foundational Ficitions. The National Romances of Latin America die Rolle der Literatur im 19. Jahrhundert bei der Herausbildung der Nationen in Lateinamerika. Darin untersucht sie, wie die erotische Rhetorik der patriotischen Romane eine heteronormative[fn]Heteronormativität beschreibt ein binäres (zweiteiliges) Geschlechtssystem, in dem nur zwei Geschlechter akzeptiert sind, und das Geschlecht mit Geschlechtsidentität, Geschlechtsrolle und sexueller Orientierung gleichsetzt. Verhalten oder Gefühle, welche dieses System destabilisieren könnten, werden in vielen Fällen streng sanktioniert. Dieses System lässt keinen Raum für Intersexuelle, Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transgender.[/fn] Vorstellung von Sexualität reproduziert. Die nationalistischen Ideale stützen sich auf die Liebe, Ehen werden geschlossen, damit sie auf einer symbolischen Ebene gewaltsame Konflikte friedfertig lösen. Als die Kreolen die Unabhängigkeitskriege gewonnen hatten, mussten sie schließlich die verschiedenen sozialen Gruppen erobern und in ein nationales Projekt integrieren. 

An diesem Integrationsprojekt beteiligten sich viele Schriftsteller, die damit die entstehenden Nationen zu legitimieren halfen. Die Gründungsromane äußern sich also nicht nur als literarische Produktion, sondern machen die LeserInnen mit ihrer Geschichte, ihren Gewohnheiten, ihrer Kultur und ihren Ideen bekannt. Die Literatur war also ein zuverlässiger Ausdruck der nationalen Gefühlslage und trug dazu bei, eine „imaginierte Gemeinschaft“ zu schaffen. Laut Sommer glaubte man damals, dass die Liebesbeziehung zwischen den Geschlechtern der Rohstoff war, um heterogene Elemente, entfernte Regionen, widerstreitende ökonomische Interessen, ethnische Gruppen und verschiedene Religionen zu modellieren und miteinander zu vereinen: „Das half die Probleme des weißen Mannes, die er beim Etablieren seiner Legitimität in der Neuen Welt hatte, zu lösen; jetzt, nachdem die illegitimen Eroberer verdrängt worden waren. Die Kreolen hatten keinen eigenen Stammbaum, der sie im Land verwurzelt hätte, so dass sie zumindest eheliche Rechte und später auch Vaterschaftsrechte etablieren mussten. Sie mussten Amerikas Herz und Körper gewinnen.“

Die von Sommer untersuchten Romane wurden zwischen 1850 und 1880 veröffentlicht und stellen verweiblichte nationale Helden dar, idealisierte junge Männer, die erhabene Gefühle und Einstellungen mit den Frauen teilen, die sie lieben. Carlos Monsiváis beobachtet, wie sich dies im 20. Jahrhundert radikal ändert, als die nationalen Projekte in eine Krise geraten. Der verweiblichte Mann wird zum Homosexuellen oder zum Transvestiten und die Männlichkeit wird mit einer Hypermaskulinität in Verbindung gebracht, die sich durch den Einsatz von Gewalt und durch den Archetypen des Macho auszeichnet, der wiederum seine Männlichkeit nur insofern bestätigen kann, als er alle weiblichen Elemente seiner Identität auslöscht. Im 19. Jahrhundert wurden die homosexuellen Handlungen, die in die Öffentlichkeit gelangten, unterdrückt und ignoriert. Im 20. Jahrhundert werden sie zu einer Bedrohung für die nationalen Projekte.

Warum findet diese Verschiebung im heterosexuellen Modell von Männlichkeit statt? Die Romane des 19. Jahrhunderts stellten die kreolische oligarchische Nation dar, die es trotz großer Anstrengungen nicht vermochte, die unteren Schichten und die ethnischen Minderheiten in das nationale Projekt zu integrieren. Die rhetorische Erotik schaffte es nicht, die Väter und Mütter der Nation mit den Massen und Mehrheiten zu verbinden, im Gegenteil, sie öffnete einen Abgrund zwischen ihnen und führte dazu, dass sich die heterosexuelle Männlichkeit neu bildete. Als der hegemoniale nationalistische Diskurs in eine Krise gerät, zeigt sich, dass es für die ethnischen, „rassischen“, sozialen und politischen Konflikte keine Lösung gibt. 
Ab den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts waren die Romane nun nicht mehr der Mikrokosmos einer Nation, sondern vielmehr ein Raum, in dem sich verschiedene historische Entwicklungen zeigten, unterschiedliche Kulturen begegneten und die Niederlagen der Vergangenheit dokumentiert wurden. In den Romanen des Boom (der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts) treten an Stelle der Romanze Vergewaltigungen, Entführungen und Frauenhandel. Auch die Literatur des Boom vermochte es nicht, das heterosexuelle Männlichkeitsmodell aus den nationalistischen Diskursen zu vertreiben, wie der Literaturwissenschaftler Ben Sifuentes-Jáuregui feststellt: „Am eindrucksvollsten an Lateinamerikas Männlichkeit ist, dass sie schon immer heterosexuell gewesen ist. Geschlecht, Sexualität und Gender werden auf ein metakulturelles System heruntergebrochen, das oft machismo genannt wird und das die Art und Weise, wie das männliche Subjekt sich selbst sieht – und wie es von anderen gesehen wird – durchdringt“.

Was passiert mit der hegemonialen heterosexuellen Männlichkeit, wenn sich die männlichen Subjekte zwischen verschiedenen geografischen Gebieten und nationalen Vorstellungswelten bewegen? Die Migrationserfahrungen bringen die hegemoniale heterosexuelle Männlichkeit, die den nationalistischen Diskursen zugrunde liegt, ohne Zweifel in eine Krise, indem sie mit Brüchen und Veränderungen in den transkulturellen und transnationalen Räumen konfrontiert werden. Diese Räume zeichnen sich dadurch aus, dass sie mehrdimensional sind, heterogen, widersprüchlich und dynamisch. Die Erfahrungen, die in diesen Räumen gemacht werden, verursachen Unordnung und stellen die Aktionsmuster der sozialen Subjekte in Frage. Diese wiederum versuchen die Konflikte und Widersprüche, die ihnen begegnen, zu lösen und beginnen die sexuellen Identitäten, die in den verschiedenen nationalistischen Diskursen Lateinamerikas verbreitet sind, in Frage zu stellen; gleichzeitig nehmen Auswirkungen und Kraft der hegemonialen Identitätsmodelle ab. 

Sexuelle Identitäten sind immer wieder neuen Situationen ausgesetzt – hier zeigt sich die Möglichkeit, den Männlichkeitsmodellen neue Bedeutungen zu geben. So tauchen Strategien auf, um die neuen Gebiete zu erobern und sich in dem kulturellen Umfeld einzuschreiben, ohne deswegen die Handlungsweisen aufzugeben, die aus anderen symbolischen Gebieten mitgebracht wurden. Darauf bezieht sich der Dichter Luis J. Rodríguez, wenn er analysiert, wie die Männlichkeit der Chicanos konstruiert wird: Er formuliert die Notwendigkeit, Wurzeln in den neuen Gebieten zu schlagen, wobei gleichzeitig die existierenden Verbindungen mit den Ursprungsnationen – den realen oder fiktiven – neu artikuliert werden. Das bedeutet, „unsere Vorfahren zu ehren, unsere Rituale, unsere Männer und Frauen. Unsere richtigen Namen zu kennen. Unsere richtigen Sprachen. Unsere verschiedenen Vergangenheiten zu feiern, unsere Geschichten, Sprachen, Gesichter und Lieder.“ Rodríguez spricht hier nicht davon, den Glauben an die essentialistischen kulturellen Identitäten, an die sich die Individuen festklammern, wieder neu zu errichten. Er bezieht sich auf die Vielfalt an Interpretationen und Darstellungen von Männlichkeiten und auf die Art und Weise, wie sie wieder neu geschaffen werden mit Hilfe von bestimmten sozialen und symbolischen Handlungsweisen. Wie artikulieren sich also die verschiedenen Formen der hegemonialen oder kontrahegemonialen männlichen Subjektivität in der literarischen Produktion innerhalb dieser hybriden Räume?

Die literarischen Texte, die ich in diesem Kontext untersuchen möchte, stammen von Dichtern und Schriftstellern lateinamerikanischen Ursprungs, die seit langer Zeit in den USA leben und die unterschiedliche Verbindungen zu den verschiedenen Kulturräumen Lateinamerikas aufrecht erhalten, die wiederum Thema ihrer literarischen Produktion sind. Diese Texte befinden sich in dem Buch Muy Macho. Latino Men Confront Their Manhood, das von dem Dichter Ray González 1996 herausgegeben wurde. In diesem Sammelband stellen die Autoren ihre Überlegungen zur Männlichkeit dar. Dies geschieht in Form von Essays, Erzählungen und autobiografischen Gedichten. Im Folgenden werde ich einige diskursive Operationen vorstellen, die uns zeigen, wie Männlichkeitsmodelle dekonstruiert werden. Dabei konzentriere ich mich auf die beiden Autoren Rudolfo Anaya (1937 in Pastura, New Mexico geboren) und Elías Miguel Muñoz (1954 auf Cuba geboren und seit 1969 in den USA). Bei beiden werden Männlichkeiten (de)konstruiert und eine neue Dialektik zwischen Nation, Gender und Gründungsmythen formuliert. Ich habe diese beiden Autoren ausgewählt, weil sie gegensätzliche Positionen in der Debatte um Männlichkeiten einnehmen. 

In seinem Artikel „I’m the King“: The Macho Image beschreibt uns Anaya sehr genau die Situation, in der sich die Generation seines Vaters wiederfand, die unter einem Regime der sprachlichen und kulturellen Codes der Hispano-Latinos aufgewachsen war und sich nun einem radikalen Wandel hinsichtlich der kulturellen Bestimmungen ausgesetzt sahen, die von der angelsächsischen Kultur der USA bestimmt wurden, die damals die Koexistenz multikultureller Codes ablehnte: „Es war schwer, ein Mann unter der Anglo-Herrschaft zu sein, wenn du nicht die Werkzeuge dafür hattest. Ich sah Männer, die unter der neuen Zeit und der neuen Umgebung zusammenbrachen (…). Heute verstehe ich das Verhalten meines Vaters besser. Er hatte nicht die Sprache, das Werkzeug, mit dem er seine eigene Würde, sein eigenes Konzept des Macho hätte schützen können.“ Sowohl die Verschiebung der Subjekte als auch das Aushandeln der neuen kulturellen Muster stellen die Geschlechter-Autorität in Frage. Anaya nimmt diesen Verlust der Autorität als Bedrohung der Identität wahr. Wenn ich von Geschlechter-Autorität spreche, beziehe ich mich auf das System von kollektiven Zwangsmaßnahmen, die der Männlichkeit zugrunde liegen und die dazu dienen die Identität und die sexuellen Handlungsweisen zu normalisieren. Pierre Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von Kriegsspielen und Spielen um die Ehre, denen sich Männer nicht entziehen können. Die Geschlechter-Autorität, der sich die Männer unterwerfen, wird von den wichtigsten Institutionen der Gesellschaft wie der Kirche, der Schule, der Familie, der Medien, der Armee, der Kultur und dem politischen System reproduziert sowie von den Diskursen, die in diesen Institutionen herrschen. 

Die Analyse der Texte zeigt eine Reihe von Aspekten auf, die für die Konstruktion der Männlichkeiten wichtig sind. Zunächst erscheinen die Beziehungen innerhalb der Familie, besonders das Verhältnis zum Vater und zu den Brüdern. Während die verinnerlichte Figur des Vaters das Männlichkeitsmodell zunächst legitimiert und die Geschlechter-Autorität vertritt, tragen die Brüder und andere Mitglieder der Großfamilie zur Reproduktion des Modells bei. Dann stoßen wir auf die Gewalt, die eine zentrale Rolle spielt. Die Mehrheit der Autoren des Sammelbandes stimmen darin überein, dass die beiden Dimensionen der Gewalt für die Männlichkeit bestimmend sind. Die erste Dimension bezieht sich auf die Funktion der Gewalt, die Männlichkeit zu formen: „Von uns wird verlangt, unseren Schmerz herunterzuschlucken und niemals zu weinen, como una niña. Wie ein Mädchen. Bewahre ein ruhiges Gesicht, atme tief durch – se muy macho.“ (Ilan Stavans im Sammelband) Die zweite Dimension zeigt sich in der fortwährenden Aggression gegenüber anderen Männern, sei es zwischen Vater und Sohn, zwischen Brüdern, Freunden, Jugendbanden oder in den anderen unzähligen Situationen, in denen Männer untereinander konkurrieren, um die Machtverhältnisse klarzustellen, mit Hilfe der Spiele, die ihnen von der Gesellschaft zugedacht werden und die laut Bourdieu im Krieg ihre Form schlechthin haben: „Er war 
selbstsüchtig, aggressiv; niemals aufmerksam und zärtlich zu ihr, Mami gehorchte ihm still, ging zur Seite, wenn seine Faust mein Gesicht erreichte. Anstatt meinem Folterer entgegen zu treten, weinte sie. Die Angst lähmte sie.“ (Elías Miguel Muñoz) 

Die Geschlechter-Autorität zeigt sich auch in der Macht, die die Väter haben, um symbolische Gewalt über ihre Söhne auszuüben. Der Vater ist derjenige, dessen Worte die einzige Wahrheit darstellen und dessen Vorhersagen eintreten. Elías Miguel Muñoz beschreibt in seiner autobiografischen Erzählung From the Land of Machos: Journey to Oz with Father die absolute Macht des Vaters. Muñoz erinnert sich daran, als er mit seiner Familie im Urlaub in Varadero (Cuba) war. In einem Kino wurde der Film „Aladin“ gezeigt, den er gerne sehen wollte. Der Vater willigte ein, unter einer Bedingung: „Ich sollte sagen ‚So Gott will’. Was ich nicht machte … Ich sagte weiterhin nein, nur um ihn zu ärgern, im Vertrauen darauf, dass Gott zu beschäftigt sei, um Papas Charaktertest zu bemerken. Am selben Tag wollten wir zur Nachmittagsvorstellung gehen, doch der Film war gestrichen worden.“ So sah der Junge die Autorität des Vaters bestätigt, schließlich hatten sich seine Worte auf magische Art und Weise bewahrheitet. „Er gab mir den überwältigenden Beweis seiner Macht. Ja, er hatte eine spezielle Macht, um seinen Willen durchzusetzen und die Welt – meine Realität – nach seinen Vorstellungen zu erschaffen. Gott und mein Vater wurden zu einer Einheit.“

Die Präsenz schwuler Schriftsteller in der Debatte um Männlichkeit trägt dazu bei die Heterosexualität als Norm der männlichen Identität zu zerlegen, wobei sie die Ausschlussmechanismen der nationalistischen Diskurse kritisieren. In ihrer Eigenschaft als Opfer der Gewalt, die vom heterosexuellen Regime ausgeht, entwickeln die schwulen Schriftsteller andere Männlichkeitsmodelle. In diesem Zusammenhang ergeben sich aus den veränderten kulturellen Horizonten im Zuge der Migrationsbewegungen neue Möglichkeiten, um andere Sexualitäten zu leben – ohne auf Homophobie oder Diskriminierung zu treffen. Das ist der Fall des cubanischen Autors Elías Miguel Muñoz, der in seiner autobiografischen Erzählung den schmerzhaften Weg hin zu seiner homosexuellen Identität beschreibt. Seine Erzählung zeigt, wie schrecklich die brutale Verfolgung des Vaters ist, der ihn vor der Homosexualität zu bewahren versucht. Der Vater betont fortwährend den Unterschied zwischen der wirklichen Männlichkeit und dem, was er als mariquita wahrnimmt – wobei der Autor diesen Begriff benutzt, um die Homosexuellen aus Sicht der männlichen Herrschaft zu beschreiben.

Emilio Bejel rekonstruiert in seinem Buch Gay Cuban Nation die homophoben Momente in der cubanischen Geschichte, besonders nach der Revolution, und erörtert das Verhältnis zwischen den Darstellungen des Nationalismus’ und der Homosexualität sowie die Verfolgungs- und Ausschlussmechanismen, die Bestandteil der revolutionären Regierungspolitik waren. Er hebt vor allem die „Militärischen Hilfseinheiten für die Produktion“ (UMAP) hervor, die ab 1965 eingerichtet wurden, um diejenigen Subjekte zu rehabilitieren, die aus revolutionärer Perspektive als antisozial wahrgenommen wurden. Auch wenn diese Arbeitslager 1968 abgeschafft wurden, hatte sich bis zu dem Zeitpunkt ein Diskurs etabliert, der die Homosexuellen als korrupt und amoralisch sowie als Bedrohung für die nationale männliche Identität darstellte. Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre begann die cubanische Regierung liberalere Einstellungen im Hinblick auf Homosexualität zu akzeptieren, brachte sie jedoch nach wie vor mit jenen negativen Eigenschaften in Verbindung, die von der revolutionären cubanischen Nation abgelehnt wurden. Diese Öffnung erlaubte es jedoch in den 90er Jahren, dass die Homosexuellen eigene Organisationen gründeten. Langsam begannen auch einige Intellektuelle, Homophobie und Homosexualität auf Cuba zu diskutieren.

In der autobiografischen Erzählung von Elías Miguel Muñoz erscheint der nationalistische cubanische Diskurs als gescheitert, weil er dem heterosexuellen Modell treu bleibt. Für Muñoz ist die Männlichkeit, die dem Cubanischen zugrunde liegt, zutiefst machistisch und deshalb lehnt er sich dagegen auf. Die Familienerfahrungen im Exil, die Ortswechsel und die Widersprüche zwischen den Generationen eröffnen ihm neue Identifikationsmöglichkeiten, die sich der Beherrschung durch den cubanischen Nationalismus entziehen. Während die Familie in der nostalgischen Stimmung einer möglichen Rückkehr nach Cuba lebt, sucht Muñoz nach alternativen Horizonten, um sich nicht vom Weg abbringen zu lassen. Sein Vater hingegen verfolgt ihn, foltert ihn und verdammt ihn dafür, dass er sich nicht der hegemonialen Männlichkeit unterwirft und die Geschlechter-Autorität nicht respektiert. Die Antwort von Muñoz ist nur außerhalb der symbolischen cubanischen Welt möglich: „Ich begann mich zu schminken und meine Haare zu färben. Ich kam barfuß von der Schule nach Hause, trug Blumen im Haar und bunte Muschelketten um den Hals. Ich war tagelang bei Freunden gewesen, während er auf mich zu Hause wartete, besorgt, beschämt und wütend. Sein Sohn war ein Hippie! Es fühlte sich großartig an ihn herauszufordern. Ein ekelhafter maricón! Es war ein Vergnügen anders als er zu sein.“ Diese Reaktion des Sohnes ist nur möglich, da das Bild vom Vater und seiner allmächtigen Männlichkeit entkräftet ist. Da der Vater sich im Exil in einer kulturellen Umgebung befindet, in der die Grammatik der Handlungen und der symbolischen Codes anders ist, schafft er es nicht, die Autorität seiner Männlichkeit zu stärken wie er es in der cubanischen Gesellschaft vermocht hatte. Der Vater sieht sich außerdem sozialen Konflikten gegenüber, die er nicht lösen kann, so dass sein Bild kontinuierlich abgewertet wird und immer mehr an Macht verliert: „Ich sah ihn zum ersten Mal weinen, nachdem wir in Los Angeles angekommen waren. Mein Bild vom teilnahmslosen Macho verschwand für eine Zeit und das Bild eines schwachen, verletzbaren Wesens kam auf.“ In dieser Dynamik schafft Muñoz es, seine neue sexuelle Identität zu festigen und gleichzeitig die herrschende Männlichkeit zu dekonstruieren. Seit dem Zeitpunkt versteht er, warum sein Vater den Machismo verkörpert, während er ständig dafür kämpfen muss, die männliche Herrschaft zu zerstören, deren Opfer nicht nur sein Vater, sondern viele Männer sind: „Papi war auch ein Opfer. Auch er musste Erniedrigungen, Schläge, ungerechtfertigtes Leid ertragen. Sein Vater war ein spanischer Patriarch, der das Haus mit eiserner Faust führte. Wie der Vater, so der Sohn. Oder, wie wir auf Spanisch sagen, de tal palo, tal astilla – ‚wie der Ast, so auch der Zweig’. Bis ich der Zweig wurde und den Ast des Machismo zerbrach.“

Rudolfo Anaya entwickelt eine ganz andere Strategie als Muñoz. Er verortet sich im nationalistischen Chicano-Diskurs, der Anfang der 60er Jahre in den USA aufkommt und sich auf bestimmte hegemoniale mexikanische Männlichkeitsmodelle bezieht, mit traditionellen sexuellen Rollen, die auf einer mythischen heldenhaften Hypermaskulinität beruhen sowie auf einer Idealisierung einer passiven und unterwürfigen Weiblichkeit. Gleichzeitig wird ein neuer Gründungsmythos formuliert, um das, was Machismo genannt wird, zum Bestandteil einer ethnischen Identität werden zu lassen. In seinem Text „I’m the King“: The macho image betont Anaya das Historische der Chicano-Wurzeln: die mediterrane Welt sowie die präkolumbianische Welt Amerikas. Anaya sieht es als notwendig an, ein neues Fundament für die Chicano-Männlichkeit zu suchen. Deshalb reinterpretiert er einige der Mythen des mexikanischen Nationalismus’ und benennt sie als kulturelles Erbe der Chicanos. Das symbolische Material, mit dem er arbeitet, entnimmt er der mexikanischen Legende der Llorona, mit deren Hilfe er auch das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und die männliche Identität neu formuliert. Die Legende der Llorona hat ihre Wurzeln in der Mythologie der Azteken: Die Göttin Cihuacoatl war ein häufig schreiendes und weinendes Wesen. Die Azteken glaubten, dass sie die Zerstörung des Aztekenreiches ankündigte. Später wurde diese Legende mit der Legende der Malinche verbunden, die ihre eigenen Leute verraten und den Fremden dabei geholfen hatte, sie zu unterwerfen. Auch Anaya verbindet die beiden Legenden in seinem Roman The Legend of La Llorona. Hier interessiert sich Anaya nicht für die sexuellen Identitäten – wobei er die traditionellen Modelle von Männlichkeit und Weiblichkeit reproduziert – sondern erzählt die Eroberung Mexikos aus einer untergeordneten Sichtweise, in der Malinche von der Schuld, ihre Söhne getötet zu haben, freigesprochen wird. Aus der subalternen Perspektive fordert Malinche die Notwendigkeit ein, ihre Söhne umzubringen, als einzige Kampfstrategie, die sie hat, um ihre Söhne vor der Sklaverei zu bewahren. 

In seinem Essay über das Bild des Macho beschreibt Anaya die Llorona als eine Frau, die von ihrem Mann betrogen und verlassen wurde, darüber verrückt wird, ihren Sohn umbringt und seinen Leichnam in den Fluss wirft. Sie weiß, dass sie ihren Sohn umbringen muss, damit er als höherwertigeres Wesen als sein eigener Vater auferstehen wird. Da die väterliche Männlichkeit machistisch ist, möchte sie ihren Sohn davor bewahren: „Das Bewusstsein kommt auf und in diesem Fall spielt die Mutter/La Llorona eine Schlüsselrolle für dieses neue Bewusstsein. Mit anderen Worten: La Llorona erschafft eine neue Menschheit.“ In diesem Text geht er auch auf die Kritik von Seiten einiger feministischer Chicanas ein und fordert sie auf, eine aktive Rolle bei der Konstruktion der Männlichkeit einzunehmen: „Die größte Veränderung im Hinblick auf das Bild des Macho und seiner Verhaltensweise ist heutzutage der Einfluss einer neuen Generation von befreiten Chicanas. Diese zeitgenössischen Lloronas können befreiende Mütter sein, die neue Konzepte und Verhaltensweisen erschaffen. Oder sie können sich kurzsichtig in alten Geschlechter-Vorwürfen ergehen, die uns bei der Definition eines neuen Paradigmas nicht weiterhelfen.“
Damit wird zum einen die dominante Rolle des Vaters bei der Konstruktion der Männlichkeit auseinandergenommen; andererseits zerschlägt er die feministische Kritik am heterosexuellen Modell, das er nach wie vor aufrecht erhält. Er entwirft eine starke ethnische und beherrschende Männlichkeit, die sich in einem transkulturellen und transnationalen Umfeld behaupten kann und stets heterosexuell ist.