Einer Studie des „Instituts für angewandte ökonomische Forschung“ (IPEA) zufolge ist die Anzahl alleinerziehender Mütter in Brasilien von 19,7 Prozent 1993 auf 28,8 Prozent 2006 gestiegen. Wenn diese Frauen als Hausangestellte arbeiten, versucht der Rest der Familie, die Kinder irgendwie großzuziehen, oft passen dann die älteren Kinder auf die jüngeren auf. Viele Kinder aus den ländlichen Gebieten werden auch in die Städte geholt, um dort auf Kinder aufzupassen. Am schlechtesten sind normalerweise die Überlebensbedingungen an den Rändern der Städte. Dort fehlt es an allem, ausreichender Ernährung, sauberem Trinkwasser, Abwasserleitungen, Straßen, menschenwürdigen Behausungen. Der Kontakt zwischen den Familien und den Schulen ist äußerst dürftig. Trotzdem stammen sehr viele Lehrerinnen und Erzieherinnen aus diesen Vorstädten, wo die Gewalt alltäglich ist. Hier sind die dauernden Sirenen der Polizei- und Ambulanzwagen ein ständiger sozialer Stimulus.
Die Betreuung der Kleinkinder in Brasilien (Kinderkrippe: 0-3 Jahre und Vorschule: 3 bis 6 Jahre) lag früher im Verantwortungsbereich der Sozialhilfe und ist erst seit 1996 Angelegenheit des Erziehungsministeriums. Offiziell lautet die Aufgabe, die Familie bei der Erziehung zu unterstützen. Das System funktioniert überwiegend durch Verträge zwischen öffentlichen und privaten Einrichtungen, wie Kirchen und sozialen Zentren.
Offiziellen Statistiken zufolge besuchen in Brasilien weniger als die Hälfte aller Kinder (insgesamt 21 Millionen) Kinderkrippen oder Vorschulen. Bei uns im Amazonasgebiet befinden sich nur vier Prozent aller Krippen und acht Prozent aller Vorschulen des Landes. In den Städten besuchen ungefähr 40 Prozent der unter Sechsjährigen eine vorschulische Einrichtung, auf dem Land nur 27 Prozent. 65 Prozent der ErzieherInnen haben den segundo grau abgeschlossen (die brasilianische High School, umfasst die Klassen 9 bis 11). Diejenigen mit einer höheren Schulbildung arbeiten normalerweise in den privaten Einrichtungen für Kinder der Mittel- und Oberschicht. In diesen Kindergärten und Vorschulen sind Ausstattung und Versorgung wesentlich besser. Nur vier Prozent der öffentlichen Krippen haben einen Wickeltisch, nur fünf Prozent eine Krankenstation.
Auch die Verfügbarkeit von Spielzeug, didaktischen Materialien, Mal- und Bastelsachen, Büchern, Stiften, Heften und Hilfsmitteln für physische Aktivitäten variiert sehr, je nach ökonomischem Hintergrund oder nach Region. Und im Norden und im Nordosten gibt es von allem am wenigsten. In manchen Quilombos[fn]Ein Quilombo war ursprünglich der Ort, wo sich entflohene SklavInnen niederließen. Der berühmteste Quilombo war der von Palmares, wo sich mehrere 10 000 Menschen jahrzehntelang gegen die portugiesischen Kolonialherren zur Wehr setzten. Heute heißen die meist im Urwald oder an abgelegenen Stellen gelegenen Dörfer der NachfahrInnen der ersten Quilombolas so.[/fn] nehmen die ErzieherInnen ihre Aufgabe sehr ernst. Große Anstrengungen werden unternommen, damit die Kinder das Fehlen von Entwässerungsanlagen, Gesundheitsversorgung und Elektrizität nicht so sehr spüren. So genannte brinquedistas versuchen mit Liedern und Erzählungen aus der schwarzen Geschichte den Kindern eine Perspektive zu geben. In den meisten Quilombos – nicht nur in dieser Region – gibt es nur eine Lehrerin für alle Alterklassen (Krippe, Vorschule und Schule), doch nicht alle Quilombos haben eine eigene Schule und nach der vierten Klasse ist meist sowieso Schluss. In vielen afrikanischstämmigen Familien ist es üblich, die Kinder für eine bestimmte Zeit in eine andere Familie zu schicken (meist zu Onkeln oder Tanten), damit sie lernen, selbstständiger zu werden – was in der westlichen Kultur als schädlich für die Kinder angesehen wird.
Eine alte Forderung der afrobrasilianischen (und indigenen) Gemeinden ist eine eigene, an ihre Bedürfnisse und Lebensweise angepasste Erziehung in Kindergarten und Schule. Doch die offizielle Linie propagiert stets eine urbanisierte (und europäisierte) Lebensweise, in der die lokalen Quilombos oder Indigenen nicht vorkommen bzw. nicht wertgeschätzt werden. Heilpflanzen z.B., die für das Überleben der Kinder und Erwachsenen wichtig sind, kommen im Standardunterricht nicht vor. Für die indigenen Gemeinden ist die Situation noch komplizierter. Bis heute hat die brasilianische Gesellschaft die lange vernachlässigte Frage der Gleichstellung der heute rund 200 indigenen Völker nicht gelöst. Nach den – oft widersprüchlichen – Daten des staatlichen Indigenen-Verbands FUNAI leben mindestens 54 Indígena-Gruppen im Amazonas, die noch nie Kontakte mit den „Weißen“ hatten. 90 Prozent der indigenen Gruppen leben im Amazonasgebiet. In allen Amazonasländern verlangen die indigenen Organisationen, dass sich die jeweiligen Länder als multiethnische und plurinationale Staaten definieren und begreifen – was den Nationalstaaten meist ein Dorn im Auge ist.
Die brasilianischen indigenen Völker versuchen seit Jahren, ihre Organisationen zu stärken und zu vernetzen. 2008 organisierte das brasilianische Erziehungsministerium die „Erste Nationale Konferenz über indigene Schulbildung“. Darin sprachen sich die indigenen Völker für gute indigene Schulen aus, in denen die Besonderheiten und Unterschiede gewürdigt und vermittelt werden und gleichzeitig eine vernünftige Allgemeinbildung angestrebt wird. Sie forderten, dass das didaktische Material nicht nur von indigenen LehrerInnen hergestellt wird, sondern dass auch auf die jeweiligen Völker, in denen unterrichtet wird, eingegangen wird und das auch in zwei Sprachen.
Die Frage der Kindererziehung in verschiedenen Kulturen ist ein schwieriges und komplexes Thema. Polemische Diskussionen erwähnen z.B. bestimmte Rituale oder Strafen, die als „barbarisch“ angesehen werden, oder die in den meisten ländlichen Gebieten übliche Kinderarbeit (vor allem bei der Rodung, der Ernte und beim Fischen).
Aufgrund der oben beschriebenen schlechten Bedingungen der unteren Einkommensklassen bleibt die Frage der „merienda escolar“ (Schulessen) ein entscheidender Faktor bei der Frage, wie viele Kinder die (Vor-)Schule besuchen, egal ob die Lehrerinnen nach der Methode Piaget, Vigotsky, Paulo Freie, Emília Ferreiro oder einer Kombination daraus unterrichten. Für viele Kinder ist das Schulessen die einzig sichere Mahlzeit am Tag. Obwohl nur ein geringer Teil des öffentlichen Haushalts in die Erziehung geht (u.a. weil die Erzieherinnen und Lehrerinnen sehr schlecht bezahlt werden), kommt es immer wieder vor, dass diese Ausgaben zurückgehalten werden (meist um am Jahresanfang kein Minus in der Kasse zu haben).
Wenn wir an unsere eigene Kindheit denken – mit gehörigem Abstand! – können wir sagen, dass es früher noch schlimmer war. Es bleibt zu hoffen, dass die neuen linken und halblinken Regierungen in Amerika die Lage der Kinder auf dem Kontinent verbessern können.