Papst Franziskus, der Argentinier

Die Mütter der Plaza de Mayo in Buenos Aires sind über die Papstwahl entsetzt. Sie drehen weiter schweigend ihre Runden und halten Bilder ihrer vermissten Kinder hoch. Sie wollen wissen, was mit ihnen geschah, wer sie entführt, gefoltert und getötet hat, wie sie ihre Kinder beerdigen können. Die Großmütter der Plaza de Mayo fordern Auskunft über den Verbleib ihrer in der Gefangenschaft geborenen Enkelkinder; viele von ihnen wurden anonym zur Adoption freigegeben. Diese Kinder, die oft in Familien aufwuchsen, die der Militärdiktatur nahestanden, suchen nach ihrer Herkunft, ihrer Identität, nach dem Schicksal ihrer leiblichen Eltern. Sie haben sich in der Vereinigung H.I.J.O.S. (Töchter und Söhne) organisiert. Ihnen allen steht das von Emilio F. Mignone (1922-1998) gegründete Centro de Estudios Legales y Sociales (CELS, Zentrum für Rechts- und Gesellschaftsstudien) zur Seite. Mignone war ein hochrangiger Peronist. Er war zeitweise Vorsitzender der Jugendorganisationen in der argentinischen Acción Católica, von 1966-1970 war er Vizeminister (Staatssekretär), außerdem war er Gründungsrektor der staatlichen Universität zu Luján.

Seine Tochter Mónica María Candelaria Mignone wurde am 14. Mai 1976 an ihrem Arbeitsplatz als Sozialarbeiterin der katholischen Pfarrei Santa María del Pueblo des Elendsviertels Bajo Flores verhaftet und in der Ingenieurhochschule der Marine (Escuela Mecánica de la Armada, ESMA) gefoltert: Seitdem setzte Emilio F. Mignone unerschrocken seine ganze Kraft zur Erhellung des Schicksals seiner Tochter ein. Er war u. a. ein wichtiger Kontaktmann für amnesty international. Seine Frau verlangte – vergeblich – als eine der Mütter der Plaza de Mayo Auskunft über das Schicksal ihrer Tochter. In diesem Zusammenhang gründete er CELS. Der Journalist Horacio Verbitsky, Mitbegründer der Tageszeitung Página 12, wurde Nachfolger von Mignone in der Leitung des CELS.

Die Mütter und die Großmütter der Plaza de Mayo rekonstruieren zusammen mit den Enkeln von H.I.J.O.S. das Handeln der Militärs. Dabei stießen sie zu ihrem Entsetzen auf die Zuarbeit vieler Priester und Bischöfe bei der Verhaftung, Folterung und Tötung der „Verschwundenen“ sowie bei Entscheidungen über das Schicksal der in der Gefangenschaft Geborenen. Sie baten Repräsentanten der katholischen Kirche um Trost, Hilfe und Unterstützung, in den meisten Fällen ohne Erfolg. Der ehemalige Jesuitenprovinzial (Landesleiter des Ordens in Argentinien) Bergoglio gehört auch als späterer Erzbischof und Kardinal von Buenos Aires zu denjenigen, die ihnen fast immer Hilfe und Unterstützung verweigerten. Anderen mag er spontan beigestanden haben, z. B. den Überlebenden und den Familienangehörigen der Opfer eines Anschlags auf das jüdische Wohlfahrtszentrum AMIA, eines Zugunglücks oder des Brandes in einer Diskothek. Die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo oder die Kinder, die ihn nach dem Schicksal ihrer Eltern fragten, prallten fast immer bei ihm ab.

Die Jesuiten Orlando Yorio und Franz Jalics wurden am 23. Mai 1976 von den Militärs verhaftet und fünf Tage lang gefoltert, sie überlebten ihre Haft fast sechs Monate lang mit verbundenen Augen. Yorio starb 2000, Jalics leitete von 1984 bis 2004 das Haus Gries, ein Meditationshaus im oberfränkischen Wilhelmsthal. Beide haben kurz nach ihrer Feilassung Bergoglio für ihre Entführung verantwortlich gemacht. Jetzt widerspricht Jalics dieser Darstellung. Sicher ist, dass Yorio und Jalics damals andere Vorstellungen vom Aufgabenbereich eines Jesuiten als ihr Vorgesetzter Bergoglio hatten.

Aber jenseits des möglichen Verrats Bergoglios an seinen Untergebenen bleiben andere Fragen: Was geschah mit Mónica Mignone, die bis zu ihrer Verhaftung eng mit den Patres Yorio und Jalics zusammenarbeitete? Was geschah mit den anderen kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Armenviertels Bajo Flores nach ihrer Verhaftung? Welche kirchlichen Stellen drehen zusammen mit den Müttern der Plaza de Mayo ihre Runden auf der Plaza de Mayo und tragen offen die Bilder ihrer Katechetinnen und Katecheten? Wo bleibt die Solidarität mit den anderen 30.000 Verschwundenen?

Jorge Bergoglio war Anfang der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts fest als geistlicher Betreuer in die am rechten Rande des Peronismus stehende militante Gruppe Guardia de Hierro (Eiserne Garde) eingebunden, die nach dem Führerprinzip organisiert war und sich ihren Namen in Anlehnung an eine paramilitärische, antisemitische Organisation aus Rumänien (1930-35) gegeben hatte. Aus dieser Tätigkeit stammen seine engen Kontakte zur Regierung der später abgesetzten Präsidentin María Estela Martínez de Perón und zur Nachfolgeregierung, insbesondere zum Vertreter der Marine in der Junta, Admiral Emilio Massera. Diese Verbindungen konnten bei gelegentlichen Interventionen hilfreich sein, schürten aber Misstrauen bei den Opfern.

Während seiner Zeit als Provinzial sorgte er dafür, dass kein Mitbruder „auffiel“. Emilio F. Mignone kommentiert diese Zeit in seinem Buch Iglesia y dictadura so: „Der übergroße Einfluss von P. Jorge Bergoglio und seiner Gruppe innerhalb der (argentinischen) Gesellschaft Jesu hatte einen Rückgang der Lebendigkeit des Zentrums (gemeint ist CIAS, ein von Jesuiten geleitetes Sozialforschungsinstitut) zur Folge.“ Viele argentinische Jesuiten kritisierten ihn deshalb nach Beendigung seiner Amtszeit als Provinzial (1973-79) heftig.

Das Netz, das Bergoglio während seiner Zeit bei der Eisernen Garde und als Provinzial geknüpft hatte, nutzte seiner Karriere. Antonio Kardinal Quarracino, der enge Kontakte zum Militärregime unterhielt und sich 1978 als Visitator (Beauftragter des Papstes – die Red.) in El Salvador für die Absetzung des zum Befreiungstheologen konvertierten Erzbischofs Oscar Romero ausgesprochen hatte, sorgte dafür, dass Bergoglio 1992 „sein“ Weihbischof und 1997 sein Koadjutor (Bischof, der einem anderen Bischof zur Seite gestellt wird – die Red.) mit dem Recht der Nachfolge wurde: Dabei besitzt Bergoglio keinen theologischen Doktortitel, eine für das Bischofsamt notwendige Voraussetzung.

Mit der Bischofsweihe schied Bergoglio aus dem Wirtschafts- und Organisationsverband der Jesuiten aus, er untersteht keinem Oberen des Ordens, darf sich aber weiterhin Jesuit nennen und in den Häusern des Ordens wohnen. Nach dem Tod Quarracinos 1998 wurde Bergoglio sein Nachfolger als Erzbischof von Buenos Aires. Er steht ideologisch in der Linie seines Vorgängers. Das wird u. a. an seiner Weigerung deutlich, offen auf die Familien zuzugehen, die Opfer der Militärdiktatur geworden sind. In seinen Augen finden die Theologen, die wie Oscar Romero nach den gesellschaftlichen Ursachen der Armut in Lateinamerika fragen, keine Gnade. Es darf, so argumentierte er bereits als Provinzial der Jesuiten, „kein zweites Lehramt“ geben; abweichende Meinungen sind nicht erlaubt. Theologisch lässt sich sein Denken auf wenige Sätze reduzieren: Sünde ist der Ungehorsam des Einzelnen gegen die Gebote Gottes, und zwar auch und insbesondere dann, wenn Dritte geschädigt werden. Die Heilung der Sünde erfolgt im Sakrament der Versöhnung bzw. der Beichte.

In diesem Denken gibt es die Vorstellung einer strukturellen bzw. kollektiven Sünde nicht (Beispiele: Das Elend der Landlosen, das eine Folge des Großgrundbesitzes ist, ist eine strukturelle Sünde. Die gegen seinen Willen erfolgende Beteiligung eines Soldaten an Folter und Mord ist eine kollektive bzw. strukturelle Sünde.). Auch kann demnach die Kirche als Institution nicht sündigen (Beispiel: Unterstützung des Militärregimes und dessen Zuordnung von Gut und Böse). Die Kirche kann sich deshalb nicht an die Riten halten, die für jeden gelten, der das Sakrament der Versöhnung empfangen will: die Sünden, die durch Handeln oder Unterlassungen begangen worden sind, sind zu bekennen und zu bereuen; der angerichtete Schaden ist, wenn möglich, wieder gut zu machen. Die Kirche müsste aber öffentlich ihre Sünden bekennen und die Geschädigten um Vergebung bitten. Die Vorgänger von Papst Franziskus auf dem Petrusstuhl haben das zum Beispiel getan, als sie das jüdische Volk um Vergebung gebeten haben.

Bergoglio sorgte in der Verwaltung seines Erzbistums Buenos Aires für klare Verhältnisse und schaffte weitgehend Korruption und Misswirtschaft ab. Vielleicht ist er in der Erwartung zum Papst gewählt worden, Korruption und Misswirtschaft auch in der Verwaltung des Vatikans zu beenden. „Bei seiner Predigt in der kleinen Kirche innerhalb der vatikanischen Mauern zitierte der Papst die biblische Geschichte von der zum Tode verurteilten Ehebrecherin, die von Jesus gerettet wurde. Er betonte, daß die Barmherzigkeit ‚die wichtigste Botschaft des Herrn’ sei, der nicht für die Gerechten, sondern für die Sünder zu den Menschen kam. Daher die Aufforderung, ‚nicht den Stab über die anderen Menschen zu brechen’ und anzuerkennen, daß man immer der Vergebung Gottes bedarf. Er versicherte: ‚Der Herr wird es nie müde, zu vergeben: nie! Wir sind diejenigen, die müde werden, ihn um Verzeihung zu bitten.’“

Dieses Zitat aus dem Osservatore Romano vom 18. März 2013 kann auch politisch gedeutet werden: „Jetzt, wo ich Papst bin, versuchen andere Menschen wegen meiner Handlungen während der letzten Militärdiktatur in Argentinien und danach den Stab über mich zu brechen. Diesen sage ich: Auch ich werde nicht müde, denen zu vergeben, die mich um Vergebung bitten.“ Am 15. März 2013 erklärte Federico Lombardi SJ, der Pressesprecher des Vatikans5, bei der Kritik an Bergoglio wegen seiner Nähe zur Militärdiktatur handele es sich um eine Kampagne „linker antiklerikaler Elemente, um die Kirche anzugreifen“. Lombardi „übersieht“, dass er Menschen als links und antiklerikal beschuldigt, die bis zur Verhaftung ihrer Kinder mehrheitlich fromme Katholiken waren und die „nur“ wissen wollen, was mit ihren Familienangehörigen geschah. Er weiß, dass die Amtskirche (nicht nur) in Argentinien diese Verhaftungen faktisch gebilligt hat.

Die Glaubwürdigkeit von Papst Franziskus hängt davon ab, ob er nach einem Bekenntnis der Schuld der Kirche durch Handeln oder Unterlassungen alle Familienangehörigen der „Verschwundenen“ um Vergebung bittet. Die entsprechenden Archive der Kirche im Vatikan und in Argentinien sind zu öffnen. Es ist dann zusammen mit den Familienangehörigen nach denen zu fragen, die von der Militärdiktatur profitiert haben. Viele Menschen guten Willens, die sich mit den Opfern der Militärdiktatur identifizieren und die Lombardi und andere als „links und antiklerikal“ beschimpfen, wie Horacio Verbitsky, werden gerne bereit sein, an dieser Aufgabe der Erneuerung der katholischen Kirche mitzuwirken. Mit der Begeisterung für Papst Franziskus dürfen die Opfer der Militärdiktatur nicht endgültig vergessen werden.