Im Dezember 2008 wurden die Weichen für eine neue Regierungsperiode gestellt. Der Kongress der F.A. – an die 2000 Delegierte der Basiskomitees – wählte mit großer Mehrheit José Mujica zum Präsidentschaftskandidaten. Pepe, wie er von den Seinen genannt wird, war in den sechziger Jahren ein Führer der Tupamaro-Guerilla; darauf 14 Jahre in Geiselhaft der Armee und nach der Wiederkehr der Demokratie in der Leitung der linken MPP (Movimiento de Participación Popular), die seit 1995 die Linksallianz F.A. ist. Seine Wahl entsprach den programmatischen Richtlinien, die von den Kongressdelegierten in fünf Kommissionen erarbeitet worden waren.
• In Uruguay productivo wurde der Akzent auf eine aktive und wegweisende Rolle des Staates gesetzt; die Förderung der kleinen und mittleren Unternehmen sowie der Arbeiterkooperativen, zumeist vom Unternehmer verlassener Betriebe, war angesagt; Landaufkauf durch ausländische Gesellschaften sollte gebremst und über Landzuteilung von 250 000 Hektar an kleinere uruguayische Landwirte gegengesteuert werden.
• In Uruguay social richtete man die Entwicklung der Wirtschaft auf die Bedürfnisse der Bevölkerung aus sowie auf eine Reduzierung nicht nur der Armut, sondern auch der Ungleichheit.
• In Uruguay democrático wurde die Beteiligung der gesamten F.A. an der von den Gewerkschaften initiierten Unterschriftensammlung für ein Referendum zur Aufhebung der Militäramnestie von 1986 beschlossen.
• In Uruguay integrado war eine Stärkung der regionalen Bande mit den lateinamerikanischen Ländern Thema: außer der Vertiefung des MERCOSUR und der UNASUR, ein Zugehen auf die ALBA.
• In Uruguay cultural wurde ein Mindestanteil uruguayischer AutorInnen und Produktionen im nationalen Fernsehen angesetzt.
Hier sind von den Hunderten von Programmpunkten nur die angeführt, die in der bisherigen Regierungszeit der F.A. (seit 2005), obwohl angebahnt, oft nur ungenügend oder widersprüchlich durchgeführt wurden. Insofern zeigte sich die Tendenz, weiter links als bisher zu agieren, was seinen politischen Ausdruck in der Wahl von Mujica fand. Denn dessen Gegenkandidat, Danilo Astori, hatte als Wirtschaftsminister die führende Rolle im bisherigen Kabinett gespielt. Mit seiner Wirtschaftspolitik hatte Mujica als Landwirtschaftsminister einige Auseinandersetzungen gehabt. Die Unterschiede der Flügel in der F.A. liegen in der Reichweite der Maßnahmen, die das Ziel haben, die gegebenen Verhältnisse zu transzendieren und auf eine solidarische Wirtschaft und Gesellschaft zuzusteuern. Wobei die Sektoren, die hinter Astori stehen, auf kleineren Schritten bestehen. Was zuweilen die Polemik in der F.A. anheizte. Der krasseste Fall war ein von Astori erwogener Freihandelsvertrag mit den USA, der – von fast der gesamten F.A. abgelehnt – bald von der Tagesordnung verschwand.
Im Jahr 1999 hatten die traditionellen Parteien mit ihrer damaligen Mehrheit die Verfassung geändert, um eine Regierungsübernahme der F.A. zu verhindern. Bis dahin hatte die relative Mehrheit einer Partei zur Regierungsbildung genügt, und die F.A. hätte diese bei den Wahlen im Jahr 2000 gewiss erreicht. Also schrieb man als Bedingung die absolute Mehrheit vor: Erlangte keine Partei im ersten Wahlgang mehr als 50 Prozent, so sollte in einer zweiten Runde eine Stichwahl zwischen den beiden KandidatInnen mit den meisten Stimmen stattfinden.
Dies sollte den beiden bürgerlichen Parteien die Gelegenheit geben, ihre Stimmen in der zweiten Runde zu vereinen, um die F.A. auszustechen. Was ihnen mit 54 Prozent gegen 46 Prozent im Jahr 2000 noch gelang. Die Blancos hatten im zweiten Wahlgang den Colorado-Kandidaten Jorge Batlle unterstützt. Bei den Wahlen 2004 erreichten dann die F.A. und ihr Präsidentschaftskandidat Tabaré Vázquez schon im ersten Wahlgang 50,4 Prozent der abgegebenen Stimmen. Das waren 52 Prozent der gültigen Stimmen.
Die Aufstellung der Präsidentschaftskandidaten einer jeden Partei hatte zuvor im Juni des Wahljahres zu erfolgen. Bei den Blancos waren Luís Alberto Lacalle und Jorge Larrañaga zur Vorwahl angetreten. Der erste war schon einmal Präsident der Republik von 1990 bis 1995 und hatte eine harte neoliberale Politik angebahnt. Seine Privatisierungsgesetze scheiterten freilich an den von den Gewerkschaften und der F.A. eingeleiteten Volksabstimmung. Jorge Larrañaga wird hingegen als Mitte-links – jedoch eher Mitte als links – eingestuft.
Bei den Colorados waren drei Bewerber angetreten, aber der einzige mit Aussicht auf Erfolg war Pedro Bordaberry. Sein Vater war der Präsident, der 1973 zusammen mit der Armee den Staatsstreich machte, die Diktatur einleitete und zur Zeit noch in Untersuchungshaft sitzt. Sein Sohn Pedro gibt sich als Demokrat, wiewohl er sich zu der Vergangenheit seines Vaters nie geäußert hat, doch hat er die stark heruntergekommene Colorado-Partei, die hoffnungslos vergreist war, verjüngt. Wenn sich zwei starke Fronten gegenüberstehen, so suchen die, die sich in der polarisierten Situation für keine Seite entscheiden können, eine Position dazwischen. Daher formierte sich schon vor zehn Jahren eine kleine Partido Independiente, bisher nur mit einem Abgeordneten im Parlament. Sie ist nicht links und ist nicht rechts, nach beiden Seiten offen. Diesmal kam sie auf zwei Abgeordnete und bietet sich bei der Stichwahl als „Zünglein an der Waage“ an.
Die parteiinternen Wahlen vom 28. Juni bestätigten bei der Frente Amplio das Ergebnis des Kongresses der F.A. Mit einer Mehrheit von 54 Prozent wurde Pepe Mujica zum Präsidentschaftskandidaten gewählt. Der unterlegene Danilo Astori wurde Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten. Bei den Blancos gewann der rechte Kandidat, Lacalle, und bei den Colorados, wie erwartet, Bordaberry. Nach allen Meinungsumfragen zu jener Zeit wurde klar, dass der bevorstehende Wahlkampf vor allem zwischen Mujica und Lacalle stattfinden würde, wobei der erste zehn Punkte vor dem zweiten lag und Bordaberry ganz hinten rangierte. Am Wahltag lag Mujica schließlich mit 20 Punkten vorn.
Der Wahlkampf war zeitweilig sehr hitzig. Mujica und Astori zogen Tag für Tag durch das weite Land und die Basiskomitees und Einzelparteien der F.A. proklamierten allerorten die Errungenschaften der fünf Regierungsjahre und warben mit ihrem Programm für die zweite Regierungsperiode. Mit mehr und vor allem teurerer Propaganda – im Fernsehen – machten Lacalle und Larrañaga, dieser nun ebenfalls als Kandidat für die Vizepräsidentschaft, ihre Kampagne. Die F.A. konnte erstmals nicht nur ein linkes Programm, sondern auch dessen Realisierung vorweisen. Das ist überzeugender besonders zu einer Zeit, wo Worte von Politikern nicht sehr hoch im Kurs stehen. Jetzt konnte die F.A. die Erfolge ihrer Regierungszeit seit 2005 denen des damaligen Präsidenten Lacalle (1990-1995) gegenüberstellen.
Doch Zahlen alleine genügen nicht, wenn die Erinnerung über Jahre hinweg blasser wird, und alles kann auch relativiert werden. Dass das Wirtschaftswachstum der letzten fünf Jahre über 32 Prozent lag, so hoch wie noch nie zuvor, rechnete die Opposition nur der Weltkonjunktur zu, obwohl die Welt seit einem Jahr, nicht aber Uruguay, in tiefer Wirtschaftskrise steckt. Ebenso die Reallohn- und Rentenerhöhung von 24 Prozent – während in der Regierungsperiode Lacalle es nur vier Prozent waren, damals ebenfalls zur Zeit einer Hochkonjunktur.
Dass die Zahl der unter der Armutsgrenze Lebenden von 32,5 auf 21,7 Prozent und die Arbeitslosigkeit von 13,4 auf sieben Prozent herunterging, wurde unter den Tisch gekehrt. Lacalle machte sich darüber lustig: mit dem Bürgereinkommen für die, die weniger als zwei Dollar pro Tag Einkommen hatten, habe man nur Geld für Pennbrüder und Müßiggänger herausgeschmissen. Er werde in die Armenviertel Duschen und Friseure bringen. Auf diese Beschimpfungen von immerhin zehn Prozent der EinwohnerInnen hin, inszenierte man einen „Marsch der Pennbrüder“.
Den Plan Ceibal (für jedes Schulkind einen kostenlosen Lap-top) banalisierte Lacalle mit der Gleichsetzung mit der – seinerzeit von ihm eingeführten – „Jugendkarte“ für verbilligte Kredite. Diese und andere Entgleisungen kosteten Lacalle und seine Partei viele Stimmen; Prozente, die freilich nur teilweise der F.A. zugute kamen. Man sprach von „Irrtümern“ und danach versuchte er einige Korrekturen. Aber im Grunde war all dies ein Ausdruck seiner neoliberalen Ideen und aristokratischen Denkart. Plädierte er doch auf derselben Linie für „eine Motorsäge, um die hohen Staatsausgaben zu fällen“, überhaupt die Intervention des Staates in die Wirtschaft zu beenden und in den Schoß des IWF zurückzukehren. Ebenso war seine Aussage, es habe ja nur ein halbes Dutzend Verschwundener unter der Diktatur gegeben, keine zufällige Fehlleistung, sondern Ausdruck der Verachtung der über 200 von den Militärs Verschleppten. Andererseits waren die „Irrtümer“ von Mujica ein Zeichen seiner spontanen Aufrichtigkeit, einer ungeschliffenen Rede, einer Volkstümlichkeit, die in der mittelständisch geprägten Linken Uruguays eher ungewöhnlich ist, was nicht wenige alte F.A.-AnhängerInnen argwöhnisch machte. So brachte ihn die Veröffentlichung eines Buches, eine Sammlung verschiedener Interviews eines Journalisten mit Mujica, in eine schiefe Lage zu führenden Persönlichkeiten der F.A., auch mit Tabaré Vázquez. Natürlich schlugen seine Gegner daraus Kapital und Meinungsumfragen notierten einen Punkt weniger für die F.A. Manche meinten, mit einem Kandidaten Astori hätte es weniger solche Rückschläge gegeben.
Allerdings gab es auch objektive Gründe für die leichten Stimmverluste der F.A. Die von der F.A.-Regierung eingeführte Einkommenssteuer, eine ziemlich gemäßigte Umverteilung von oben nach unten, mit einem Spitzensteuersatz von 25 Prozent, sorgte für böses Blut. Blancos und Colorados verdammten sie als „Raubüberfall auf die Einkommen der Arbeiter und Rentner“. Lacalle versprach sie wieder abzuschaffen. Dabei liegen 82 Prozent der Bevölkerung unter der steuerfreien Einkommensgrenze oder zahlen weniger als vordem mit der Lohn- und Rentnersteuer (Kapitaleinkommen und freie Berufe zahlten damals überhaupt nichts). Zudem hatte die F.A.-Regierung zugleich die unsoziale Mehrwertsteuer um vier Prozent gesenkt. Etwas mehr zahlen müssen dagegen Teile der Mittelschichten, die 2005 auch zu einem beträchtlichen Teil die F.A. gewählt hatten. Einige MittelständlerInnen mögen das als Skandal empfinden und haben deshalb diesmal die Blancos oder Colorados gewählt. Leute, die nur solange für soziale Gerechtigkeit und Solidarität stehen, wie es ihnen nicht an den besser gefüllten Geldbeutel geht.
Das andere Thema, aus dem die Rechte reichlich Nutzen ziehen konnte, war das der Sicherheit der BürgerInnen. In Wahrheit ist die Kriminalität so hoch wie eh und je. Kein Wunder bei der Marginalisierung weiter Volksschichten im Laufe dreier Jahrzehnte neoliberaler Wirtschaftspolitik. Das konnte auch die neue Regierung in fünf Jahren nicht meistern. Mit der Verdopplung der miserablen Gehälter der PolizistInnen und der Bekämpfung der Korruption in der Polizei, mit einer auf das Zehnfache erhöhten, aber immer noch unzureichenden Beschlagnahmung von Drogen konnte man allenfalls Ansätze machen. Wahr ist auch, dass die Linke, da sie die Kriminalität stets nur aus der sozialen Perspektive, von ihren Ursachen her, betrachtete, kein klares Konzept für die Praxis erarbeitet hatte und mit der Repression vor Neuland stand.
Eine entgegengesetzte Kritik kam von einem Sektor der radikalen Linken, der vor einem Jahr aus der F.A. ausgetreten und zur Wahl mit eigenen Kandidaten in einer neuen Partei, Asamblea Popular, angetreten war. Sie maß die Regierung nicht an den erlangten Veränderungen, sondern an allem, was von dem Alten noch geblieben war. Sie nahmen das Ziel, die Überwindung des kapitalistischen Systems, zum Maßstab, und das fehlte natürlich. Während alle anderen Sektoren der F.A. – obwohl auch verschiedener Meinung über die möglichen und die durchgeführten Veränderungen – den Maßstab an den Ausgangspunkt, die Situation bei der Regierungsübernahme, legten: die wirtschaftliche und soziale Misere nach der Krise von 2002, nach 30 Jahren Entindustrialisierung, Korruption und administrativem Chaos. Und von da aus gesehen, war der Wandel enorm.
Für hochpolitisierte Linke mag ein Notstandsprogramm wie der PANES (BürgerInneneinkommen für die Ärmsten sowie Gesundheits- und Ausbildungshilfe) nicht viel zählen. Für die aber, die vordem hungerten, war es Brot. Für auf ihre Ideale fixierte AntikapitalistInnen sind die Strukturänderungen im Lohntarif-, im Steuer- oder Gesundheitssystem nicht relevant, für die ArbeiterInnen, RentnerInnen oder Kranke bedeuten sie die Verbesserung ihres Lebensstandards. So ist es zu verstehen, dass die Senkung der Armut, die Lohn- und Rentenerhöhung, die Verdopplung des Unterrichtsetats, die Verdreifachung des Gesundheitsbudgets 60 Prozent Zustimmung für den Präsidenten Tabaré Vázquez und seine Regierungspolitik brachte, zehn Prozent mehr als bei seiner Wahl 2004. Was sich allerdings nicht gleichermaßen auf den gegenwärtigen Präsidentschaftskandidaten Mujica niederschlägt. Ein gemäßigteres Image scheint bei den UruguayerInnen breiteren Zuspruch zu finden. Das mag sein oder auch nicht. Fest steht aber, dass eine linke Partei stets der mehrheitlichen Meinung des Volkes Rechnung tragen muss. Radikale Veränderungen erfordern deshalb ein entsprechendes Verständnis von unten.
Die strukturellen Veränderungen im Gesundheitssystem und die abgestuften Steuern waren gut und vonnöten, doch die Partei hatte es versäumt, in jenen fünf Jahren Überzeugungsarbeit zu leisten, auf ein Umdenken hinzuwirken. Unabdingbar in einer Zeit eingefleischten neoliberalen Gedankenguts. So wie überhaupt wesentliche gesellschaftliche und wirtschaftliche Alternativen ohne eine parallele kulturelle Revolution wenig Chancen haben, Wurzeln zu schlagen. An dieser ungenügenden ideologischen Arbeit der F.A. liegt wohl auch der Verlust der drei Prozent Stimmen gegenüber den Wahlen von 2004. Ein Monat Propaganda ersetzt zwar nicht langjährige Bildungsarbeit, doch da explodierte der Enthusiasmus der Basis, die während der Regierungsjahre im Schlepptau der Exekutive gestanden hatte. Unter so diversen, teils widersprüchlichen Umständen vollzog sich der Wahlkampf, unter eben diesen wurde er gewonnen, auch wenn der Sieg Mujicas im zweiten Wahlgang noch perfekt gemacht werden muss. Ohne die Einheit der F.A. in all ihrer Verschiedenartigkeit wäre ihr großes Projekt nur Rhetorik geblieben und die Realität Uruguays unverändert. Dank dieser schwierigen, aber lange schon verinnerlichten Einheit wurde der Wandel möglich, wurden reale Alternativen geschaffen.
Gleichzeitig mit den Wahlen für Parlament und Präsidentschaft fanden zwei Volksabstimmungen statt.
Die eine, die es den UruguayerInnen, die im Ausland leben, ermöglichen sollte, an künftigen Wahlen teilzunehmen. Das sind – geschätzt – 600 000 Menschen. Diese Einführung einer Briefwahl kam jedoch nicht durch, weil sie nur 36,93 Prozent Zuspruch bekam. Das andere Referendum sollte die Straffreiheit der Mörder in Uniform, für Verbrechen gegen die Menschenrechte unter der Diktatur (1973-1985) aufheben. Doch auch dafür fand sich keine Mehrheit, nur 47,36 Prozent der UruguayerInnen stimmten dafür. Es war vor allem die Gewerkschaftszentrale PIT-CNT, die sich für dieses Plebiszit eingesetzt hatte. Wenige Tage vor der Wahl demon-strierten dafür Hunderttausende, in der Mehrheit Jugendliche, mit einem Schweigemarsch durch die zwei Kilometer lange Hauptstraße Montevideos. In allen Wahllisten der F.A. lagen auch die zwei „Sí“ zur Briefwahl und zur Aufhebung des Straffreiheitgesetzes, doch weder die Reden von Mujica noch von Astori riefen ausdrücklich dazu auf. Über dem politischen Ziel der Erlangung der Regierungsmacht vergaßen sie die enorme moralische Bedeutung dieser Volksabstimmung für Menschenrechte.
Das Wahlergebnis bezogen auf alle abgegebenen Stimmen
Frente Amplio | 48,16% |
Partido Nacional | 28,90% |
Partido Colorado | 16,66% |
Partido Independiente | 2,47% |
Asamblea Popular | 0,60% |
Ungültige | 2,60% |
Noch auszuzählen | 0,90% |