Paraguay hat seit dem 22. Juni 2012 mit dem gelernten Chirurgen Federico Franco de facto einen neuen Staatspräsidenten. Fernando Lugo (*1951), der bisherige Präsident, wurde in einem Schnellverfahren abgesetzt. Das Verfahren wird von den Regierungen Lateinamerikas einmütig als „parlamentarischen Putsch“ gewertet.
Die Gründe für die Abwahl dieses ehemaligen Bischofs des armen und abgelegenen Bistums San Pedro sind innenpolitisch vor allem in der Frage der Verteilung des Landbesitzes bzw. der Agrarreform zu suchen. Zwei Prozent der Bevölkerung besitzen mehr als 80 Prozent des Landes. Von brasilianischen und paraguayischen Agrarfirmen wird auf weiten Teilen des Landes Soja industriell für den Export nach Europa und Asien angebaut. Die dabei eingesetzten Pestizide provozieren nach Ansicht von Ärzten genetische Schäden bei den landlosen Bauern, die in den Dörfern am Rande der Sojafelder leben. Andere Teile des Landes werden ausschließlich für die Fleischproduktion als Weideland genutzt oder liegen brach, während die landlosen Bauern kein Land finden, um Nahrungsmittel für ihren eigenen Lebensunterhalt anzubauen.
Als Lugo am 15. August 2008 sein Amt als Staatspräsident antrat, hatte er sich mit 40 Prozent der Wählerstimmen gegen eine Kandidatin (Blanca Ovelar, 30%) und einen Kandidaten (Lino Oviedo 22%) von den Colorados durchsetzen können. Die Colorados – ihr offizieller Name lautet Asociación Nacional Republicana-Partido Colorado (ANR) – stellen seit ihrer Gründung 1887 die Regierung Paraguays, mit Ausnahme von ca. 40 Jahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auf diese rechtsextrem-nationalistische Partei stützte sich der deutschstämmige Diktator Alfredo Stroessner, der von 1954 bis 1989 als Staatschef für schwerste Menschenrechtsverletzungen verantwortlich war. In dieser von Kumpanei und internem Streit bestimmten Vereinigung wurden und werden die Posten in Partei, Armee und Verwaltung hin- und hergeschoben. Je größer dabei der Grundbesitz ist, den jemand erbt oder sich aneignet, desto größer ist sein Prestige in ihren Reihen.
Die große Konkurrenzpartei sind die Liberalen. Bei ihnen sind Vetternwirtschaft und Korruption eine Nummer kleiner als bei den Colorados. Während der Herrschaft von Stroess-ner traten sie für die Einhaltung von Menschenrechten ein, ihre Repräsentanten wurden deshalb politisch bekämpft.
Die politische Allianz, auf sich die Lugo bei der Wahl vom 20. April 2008 stützen konnte, bestand aus mehreren kleinen Mitte-Links-Parteien. Die Liberalen stellten vermutlich ca. 60 Prozent seiner Wählerstimmen. Gründe für die Entscheidung auch der Liberalen, Lugo als gemeinsamen Anti-Colorado-Kandidaten zu präsentieren, waren vor allem sein Ansehen in der Bevölkerung, das größer war als das der anderen KandidatInnen, sowie die Tatsache, dass er keine eigene politische Hausmacht mitbrachte.
Die Hausmacht aber brachten die Liberalen ein, die 2008 die Gunst der Stunde nutzten, um viele große und kleine Posten mit Menschen ihrer Couleur, nämlich der Farbe Blau, zu besetzen. Federico Franco, der liberale Vizepräsident, war jederzeit bereit, die Macht im Lande zu übernehmen, und er ließ Lugo das auch mehrfach öffentlich wissen.
Das Ergebnis der Parlamentswahl ähnelte 2008 dem Ergebnis der Präsidentenwahl. Lugo hatte in beiden Kammern des Parlaments keine Mehrheit. Er, der eine Politik für die Armen machen wollte, musste sich seine Vorhaben von den Colorados und von den Liberalen genehmigen lassen, die beide eher an die Vermehrung ihres Reichtums als an das Überleben der Mittellosen dachten. Lugo konnte sich nur einer kleinen Gruppe von Abgeordneten oder Senatoren sicher sein, wie jetzt die Abstimmungen über seine Absetzung in beiden Kammern des Parlamentes zeigten.
Was von der Regierung Lugos bleiben wird, ist vor allem eine Reform des Gesundheitssystems, durch die vielen Armen der kostenfreie Zugang zu ärztlicher Versorgung, Krankenhäusern und Apotheken ermöglicht wird.
Die Frage, wie mit den indigenen Völkern umgegangen wird, die früher das ganze Land besaßen und die nun vielfach in Kunststoffzelten am Rande der großen Landstraßen leben, bleibt ebenso offen wie die Frage der Landreform. Es ist bezeichnend, dass Lugo in dem Text, mit dem seine Abwahl begründet wird, der Vorwurf gemacht wird, er habe stets bei Landbesetzungen durch Campesinos die Rechte der Besitzenden nicht verteidigt. Dabei haben Untersuchungsausschüsse festgestellt, dass sich Colorados und vermutlich auch Liberale große Flächen des Landes außerhalb der Legalität angeeignet haben.
So fängt z. B. ein Artikel in der deutschsprachigen paraguayischen Zeitung „Das Wochenblatt“ vom 19.04.2012 mit dem Satz an: „Der Abgeordnete Magdaleno Silva (ANR), der selbst im Besitz von 1395 Hektar im Bereich von Antebi Cue zwischen den Provinzen Amabay und Concepción ist, bereitete still und leise ein Gesetzesprojekt mit vor, wodurch aktuelle Besitzer straffrei davonkommen, obwohl sie sich illegal Land angeeignet haben, das für eine Agrarreform vorgesehen war.“ Die Agrarreform im Bereich von Antebi Cue hatte im Juni 1996 mit einer Landbesetzung begonnen. An der Messe, die der damalige Bischof Lugo im Juni 1997, also ein Jahr nach Beginn der Besetzung, zelebrierte, nahmen hochrangige Vertreter der Colorados und der Liberalen teil, um anschließend über die Legalisierung der Besetzung, die Schaffung der kommunalen Infrastruktur und über Kredite zu verhandeln, mit denen der angeblich rechtmäßige Besitzer des Landes von den Besetzern entschädigt werden sollte. Die Konflikte um die Landbesetzung von Antebi Cue dauern weiterhin an. Sie werden grundsätzlich gewaltfrei ausgetragen.
Antebi Cue ist das Muster für viele Landkonflikte in Paraguay. Da die in der Verfassung des Landes vorgeschriebene Landreform sich dahinschleppt, versuchen die Landlosen von unten Druck zu machen. Immer wieder besetzen sie den verwahrlosten Teil eines Großgrundbesitzes, um so die rechtlich vorgesehene Übereignung des Gebietes an sie zu erreichen.
Dass bei der Besetzung des Landes in der Gegend von Curuguaty Mitte Juni 17 Menschen getötet wurden, hat das Land erschüttert. Die Untersuchungskommission, die Lugo zu diesem Vorfall einberufen hatte, wurde von seinem Nachfolger abberufen. Er wird die Gründe kennen.
Ein anderer Vorwurf betrifft die Außenpolitik.. Ende des Jahres 2011 unterzeichnete Lugo den Ushuaia II genannten Vertrag des Gemeinsamen Marktes (Mercosur), in dem sich die Regierungen gegenseitig verpflichten, gemeinsam gegen Putsche vorzugehen. Lugo habe damit die Souveränität Paraguays verletzt, denn er habe das Parlament nicht um die Genehmigung für diese Unterschrift gebeten, warfen ihm die Colorados und nun auch die Liberalen vor.
Alle Staaten Lateinamerikas einschließlich Chile und Honduras erkennen den Putschisten Franco nicht als legitimen Präsidenten Paraguays an. Sie hoben die Mitgliedschaft Paraguays in verschiedenen internationalen Organisationen vorübergehend auf. Venezuela stoppte die Lieferung von preiswertem Erdöl. Der De-facto-Präsident Franco ist außenpolitisch isoliert, während die lateinamerikanische Staatengemeinschaft Kontakt mit der in Asunción tagenden abgesetzten Regierung Lugo hat. Entsprechend lud die südamerikanische Staatengemeinschaft UNASUR Lugo, ihren amtierenden Präsidenten, zur nächsten Versammlung ein, nicht aber den De-facto-Präsidenten Franco.
Zu den ersten Ländern, die die De-facto-Regierung in Paraguay anerkannt haben, gehören Spanien, der Vatikan und Deutschland, heißt es in Paraguay, denn Bundesminister Niebel sprach als erster ausländischer Minister mit dem neuen De-facto-Präsidenten. Die Frage, ob das aus Mangel an Klugheit oder aus Absicht geschah, ist noch nicht definitiv beantwortet. Er sagte der De-facto-Regierung 8,75 Millionen Euro Entwicklungshilfe zu. Vielleicht war ihm die für den 23. Juni geplante Zusammenkunft des Ministers mit Vertretern der deutschen SRH-Holding und der Union Industrial Paraguaya (Paraguayische Industrie-Vereinigung) so wichtig, dass er staatsrechtliche Bedenken wegschob. Thema der Versammlung war die Gründung einer weiteren Privatuniversität in Asunción als Tochterunternehmen der privaten Fachhochschule Heidelberg. Berücksichtigt man aber die Haltung des Ministers Niebel 2009 zum Staatsstreich in Honduras, spricht vieles dafür, dass Niebel sehr genau wusste, was er tat.
Seit Beginn des Absetzungsverfahrens protestieren viele landlose Bauern in Asunción gegen den parlamentarischen Putsch. Sie werden von einem starken Polizeiaufgebot mit Hilfe von Wasserwerfern und Tränengas bekämpft. Viele Intellektuelle stehen auf ihrer Seite.
Der Kampf geht weiter. Im April 2013 stehen die nächsten Wahlen des Präsidenten und der beiden Kammern des Parlaments an.