Haiti steckt mitten in einem umfassenden Programm der Säuberung der Wahlmechanismen und -institutionen. Diese Säuberung verletzt grundlegende Menschenrechte, wie sie von den UN- und interamerikanischen Pakten und Konventionen garantiert werden. Sie verletzt auch die Standards, die in anderen Ländern und bei früheren Wahlen in Haiti gelten und gegolten haben. Die Verfolgung politischer Oppositioneller und die Maßnahmen, mit denen sie ihrer zivilen und politischen Rechte beraubt werden, geschehen offen, sind notorisch und passieren unter den Augen der internationalen Öffentlichkeit. Die Unterdrückung Andersgesinnter ist nicht das Ergebnis von Schwäche einer Regierung, die außerstande ist, angemessene Sicherheiten zu garantieren, sondern eine absichtsvoll geführte und vielfältige Kampagne der Interimsregierung. Finanziert wird diese Regierung vor allem von den US-amerikanischen SteuerzahlerInnen.

Politische Oppositionelle, vor allem AnhängerInnen der gestürzten verfassungsmäßigen Regierung unter Aristide, werden mit Verboten belegt und eingeschüchtert. Zum Beispiel mussten sich alle PräsidentschaftskandidatInnen bis zum vergangenen 15. September einschreiben. Lavalas-Kandidaten konnten diese Bedingung nicht erfüllen, weil sie im Gefängnis saßen. Reverend Gérard Jean-Juste, von dem allgemein angenommen wird, dass er der populärste Kandidat sein würde, wurde am 21. Juli ohne Haftbefehl festgenommen. Er sitzt seither auf Grund konstruierter Vorwürfe im Gefängnis, obwohl 29 Abgeordnete des US-Repräsentantenhauses seine Freilassung gefordert haben, ebenso wie Amnesty International, Human Rights First und Hunderte von Persönlichkeiten weltweit. Yvon Neptune, Haitis letzter konstitutioneller Regierungschef, ist seit Mai 2004 im Gefängnis.

US-Botschafter James Foley hat Neptunes Haft als „Menschenrechtsverletzung, Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch“ bezeichnet. Er verglich die Behandlung des ehemaligen Premierministers mit der schnellen Freilassung von Jodel Chamblain, einem Führer der Todesschwadronen und verurteilten Mörder. Als am 19. September schließlich formal Anklage gegen Neptune erhoben wurde, war der Prozess bereits gespickt mit Unregelmäßigkeiten. Weniger prominente Dissidenten sind verhaftet worden, weil sie, heißt es explizit, „dem vorherigen Regime nahe stehen“. Die Verhaftungen behindern die Betroffenen direkt in ihrer politischen Aktivität und schrecken viele andere davor ab, sich politisch zu engagieren. Während der wahrscheinlich erfolgreichste potentielle Kandidat ausgeschlossen wurde, haben sich 54 KandidatInnen von 45 Parteien aufstellen lassen. Das ist kein Zeichen des Vertrauens in die Wahlen, sondern spiegelt die weit verbreitete Annahme wieder, dass die Wahlen so undemokratisch sein werden, dass fast jeder gewinnen kann. Unter den eingeschriebenen Präsidentschaftskandidaten sind Spitzenfunktionäre vergangener Diktaturen, ein Paramilitär-Führer, der in den USA als Drogenhändler identifiziert wurde, und ein US-Bürger in Texas, der sich eingeschrieben hat, obwohl die haitianische Verfassung dies verbietet.

Die Regierung hat auch die Wahllisten gesäubert und Wählerinnen mit Einschüchterungen und durch bürokratische Hürden, die vor allem die Armen betreffen, davon abgehalten, sich einzuschreiben. Kurz vor Ende der Einschreibefrist haben sich nur ca. 2,4 Millionen von 4,5 Millionen Wahlberechtigten in die Wahlregister eingetragen. Zu einem Gutteil ist der Mangel an entsprechenden staatlichen Dienstleistungen verantwortlich für dieses magere Ergebnis. Während Haitis demokratische Regierung bei früheren Gelegenheiten 10 000 Büros zur Registrierung und Wahllokale zur Verfügung gestellt hatte, plant die provisorische Regierung gerade mal 424 solcher Servicestellen. Wie andere Hürden auch treffen diese Unzulänglichkeiten vor allem die Armen in Stadt und Land. Bis Mitte Juli, als die Registrierungsfrist bereits halb abgelaufen war, gab es in Petionville, einem Reichen-Vorort von Port-au-Prince, drei Registrierungsbüros und im Departement Plateau Central, einem ausgedehnten ländlichen Distrikt, ebenfalls drei. Bis heute gibt es kein einziges dieser Büros im Stadtteil Cité Soleil, einem Armenviertel mit 300 000 EinwohnerInnen. In Bel-Air, einem anderen Armenviertel der Hauptstadt, gibt es gerade mal ein Büro. Mit einer Kombination von politischen Maßnahmen und brutalen Polizeieinsätzen sind politische Aktivitäten der Opposition unterbunden worden. Am 17. September erließ die provisorische Regierung ein allgemeines Demonstratonsverbot bis zum 2. Oktober, wohl wissend, dass für den 30. September eine oppositionelle Demonstration zum Jahrestag des ersten Putsches gegen Präsident Aristide im Jahre 1991 angemeldet war. Ein solches Demonstrationsverbot ist in Haiti genauso verfassungswidrig wie in den Vereinigten Staaten.

Wieder und wieder hat die haitianische Polizei mit tödlicher Gewalt auf Demonstrationen von RegierungsgegnerInnen reagiert. Am 18. Mai 2004 fiel die Polzei über eine Demonstration her unter dem Vorwand, sie sei nicht angemeldet gewesen, was ein paar Tage später dementiert werden musste. Am 28. Februar dieses Jahres schoss die Polizei unter den Augen der internationalen Medien und der UN-Friedenstruppen in eine friedliche Demonstration. Das Fußball-Massaker am 20. August 2005 im Stadtteil Grande Ravine illustriert sowohl die Brutalität der Polizei als auch die Nutzlosigkeit, die haitianische Regierung mit Waffenlieferungen und Geld reformieren zu wollen. Begleitet von mit Macheten bewaffneten Zivilisten griff die Polizei die ZuschauerInnen eines Fußballspiels an und erschoss oder erschlug mindestens sechs, aber wahrscheinlich bis zu 30 Menschen. Steuergelder aus den USA waren auf beiden Seiten der Tragödie involviert. Das Fußballspiel wurde aus einem Programm für friedliche Nachbarschaft der US-Entwicklungshilfeagentur USAID gesponsert. Und die US-Regierung unterstützt auch die Mörder, die Nationalpolizei Haitis, mit Waffen und Ausrüstungen, trotz der 18 Monate langen Geschichte von Polizeimorden. Als das Repräsentantenhaus am vergangenen 28. Juni eine Vorlage der Abgeordneten Barbara Lee für ein Waffenembargo gegenüber Haiti verabschiedet hatte, reagierte das Außenministerium am 9. August mit der Ankündigung einer Waffenlieferung im Wert von 1,9 Millionen US$ für die haitianische Polizei – vor den Wahlen und vermutlich vor der Abstimmung über besagte Resolution im Senat.

Über die Teilnahme von Fanmi Lavalas, Haitis größter und populärster Partei, an den kommenden Wahlen hat es viele Diskussionen gegeben. Die offizielle Position der Partei geht davon aus, dass das hohe Maß an politischer Repression faire Wahlen weitgehend unwahrscheinlich macht. Weil aber die internationale Gemeinschaft entschlossen zu sein scheint, den Wahlen im November ihr Gütesiegel aufzudrücken, auch wenn sie dann noch so unfair waren, steht die Partei vor einem Dilemma. Entweder sie legitimiert einen Wahlprozess voller Unregelmäßigkeiten und Wahlbetrug durch ihre Teilnahme oder sie weigert sich teilzunehmen und lässt die Gewinner, die das haitianische Volk nicht vertreten, die nächsten Jahre das Land regieren. Das ist wahrlich die Wahl zwischen zwei Übeln, und wenn sich Fanmi Lavalas für eines entscheidet, wird das nicht bedeuten, dass das dann weniger übel ist.

Angesichts der komplexen Lage vor den Wahlen in Haiti ist die Versuchung groß, den einfachsten Weg zu gehen – ein Vorgehen hinzunehmen, das nicht von der Verfassung gedeckt ist, KandidatInnen zu aktzeptieren, die nicht so ganz den Verfassungsnormen entsprechen, Wahlen um ihrer selbst willen durchzuführen. Aber die Geschichte Haitis zeigt, dass die einfachen Wege zu keinen Lösungen für die Probleme des Landes führen, sondern Ursachen solcher Probleme sind. In den 200 Jahren seit der Unabhängigkeit sind fast alle Alternativen zur konstitutionellen Demokratie ausprobiert worden: ein Kaiserreich, ein Königreich, ausländische Besatzung und ausländische Marionetten, Präsidenten auf Lebenszeit, Interimspräsidenten, „Regierungen der nationalen Einheit“, Militärdiktaturen, Paramilitärdiktaturen. Allesamt haben sie zunehmendes Elend über das haitianische Volk gebracht.