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Plädoyer für einen revolutionären Universalismus

„Hegel und Haiti“ von Susan Buck-Morss

Der erste Essay „Hegel und Haiti“ war bereits im Sommer 2000 in der Zeitschrift Critical Inquiry erschienen und stellte „eine Art intellektuelles Ereignis“ (S. 7) dar, eine kleine wissenschaftskritische Bombe, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Denn sie brachte einen der im Westen meistdiskutiertesten Texte der Philosophiegeschichte, die Herr-Knecht-Dialektik aus Hegels Phänomenologie des Geistes, in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Revolution in Haiti – was, zumindest für die westliche Hegelforschung, eine deutliche Provokation darstellte. Wieso konnte diese Verbindung bis heute übersehen werden, nachdem der Text in unzähligen Publikationen nach allen Seiten hin ausgeleuchtet worden war? Anfang 2005 erschien in Buenos Aires eine spanische Übersetzung des Textes unter dem Titel Hegel y Haití. La dialéctica amo-esclavo: una interpretación revolucionaria, die große Beachtung fand. Kaum wahrgenommen wurde hingegen 2004 die erste deutsche Teilübersetzung im Katalog zu der Berliner Ausstellung „Black Atlantic“ im Haus der Kulturen der Welt. 2009 ergänzte Buck-Morss den Aufsatz „Hegel und Haiti“ um einen Text zur „Universalgeschichte“ und schildert einleitend in dem nun vorliegenden Buch, wie sie „zufällig“ auf den Hegel-Haiti-Link gestoßen ist.

Angesichts der hegemonialen neoliberalen Ideologie des Marktes und der Wirtschaft fragte sie danach, woraus eigentlich „dieses körperlose Phantasma, das wir ‚Wirtschaft’ nennen und das zum Objekt einer derart fetischistischen Verehrung wurde“, besteht (S. 16). Unter Anspielung auf Marx’ Kritik des Werts als einer „gespenstigen Gegenständlichkeit“, die einen eigenartigen „Fetischismus“ der Waren, des Gelds und des Kapitals mit sich bringt, spürt sie der Entstehungsgeschichte dieses scheinbar eigenständigen Felds der Ökonomie nach. Fündig wird sie bei Adam Smith und dessen Einfluss auf die westliche intellektuelle Welt an der Wende zum 19. Jahrhundert. So notiert Hegel nach der Lektüre von Smith in höchst aktuell klingenden Worten: „Das Bedürfnis und die Arbeit“ schaffen „ein ungeheures System von … gegenseitiger Abhängigkeit“, das „in seiner Bewegung blind und elementarisch sich hin und her bewegt und als ein wildes Tier einer beständigen strengen Beherrschung und Bezähmung bedarf“ (S. 18). Das wilde Tier der globalen Ökonomie und zusammenbrechender Finanzmärkte, das heute Millionen von Menschen in den Ruin treibt und die Regierungen der Nationalstaaten wie hilflose Marionetten aussehen lässt, scheint heute weniger denn je bezähmbar zu sein. Woran aber heute wieder erinnert werden muss, ist die Tatsache, dass für Hegel und seine Zeitgenossen das neue „System der Bedürfnisse“ und die „ungeheure“ wechselseitige Abhängigkeit ganz offenkundig das Kolonialsystem und seine völlig neuen Produkte waren – im Deutschen hielt sich die Bezeichnung „Kolonialwaren“ noch erstaunlich lange. Es waren in erster Linie Zucker, Kaffee und Tabak, die im 17. und 18. Jahrhundert zu Waren des Massenkonsums in Europa wurden und mit denen der erste große Akkumulationsschub des Frühkapitalismus verbunden war.

Hier stoßen wir auf das Rätsel, von dem der erste Essay ausgeht. Die frühe Entwicklung dessen, was wir als „Wirtschaft“ bezeichnen und das in vielfältiger Weise das Alltagsleben in Europa veränderte, beruhte in umfassender Weise auf versklavter Arbeit und dem profitträchtigen Handel mit Sklavinnen und Sklaven aus Afrika, aus denen die lebendige Arbeit im modernen Plantagensystem in der Karibik „herausgepumpt“ (Marx) wurde. Aber während im Diskurs der Aufklärer „Sklaverei“ die große Metapher ist, der das Ziel der Freiheit entgegengestellt wird, taucht die ganz reale millionenfache Versklavung, auf der die Ökonomie der damaligen Zeit beruhte, an keiner Stelle auf. Dieser selbstgefällige Freiheitsdiskurs wird von der 1791 einsetzenden Revolution in der französischen Kolonie St. Domingue, dem wirtschaftlich bedeutendsten Außenposten Frankreichs, nachhaltig erschüttert. In einer Art detektivischer Spurensuche kann Buck-Morss nachzeichnen, wie überwältigend der Eindruck dieser erfolgreichen Revolution auf die europäischen Debatten war und dass Hegel sie bei seiner morgendlichen Zeitungslektüre gar nicht hatte übersehen können. Daher ist es durchaus plausibel, dass seine Dialektik von Herr und Knecht, in der in einem „Kampf auf Leben und Tod“ um die „Anerkennung“ gerungen wird, eben diese und nicht die Französische Revolution im Sinn hatte. Denn der Universalismus des Sklavenaufstands überbot das Freiheitsbestreben der Jakobiner, indem er den blinden Fleck ihrer „Freiheit“ offenlegte.

Das auch für die postcolonial studies methodisch Interessante an ihrer Analyse liegt darin, dass sie es nicht bei diesem Nachweis bewenden lässt, sondern in der Aufspaltung in Einzelwissenschaften einen der Gründe dafür ausmacht, wie solche Zusammenhänge ausgeblendet werden: „Während der Arbeit an dem Aufsatz motivierte, ja ärgerte mich eine Sache immer stärker: Das wachsende Bewußtsein dafür, daß die wissenschaftliche Arbeitsweise unserer Vorstellungskraft Grenzen setzt, so daß das Phänomen ‚Hegel’ und das Phänomen ‚Haiti’, die ursprünglich nicht durch eine undurchlässige Grenze voneinander getrennt waren (Zeitungen und Monatsschriften der Zeit dokumentieren dies eindeutig), im Zuge ihrer Überlieferungsgeschichte zu vollkommen unabhängigen Ereignissen werden konnten.“ (S. 27) In seinem gerade auf Deutsch erschienenen vierten Band seiner Geschichte des kapitalistischen Weltsystems (Der Siegeszug des Liberalismus, 1789-1914) hat Immanuel Wallerstein die Herausbildung und Institutionalisierung der Einzelwissenschaften – an den Beispielen Ökonomie, Soziologie, Politikwissenschaft und Ethnologie – als Bestandteil der Hegemonie des Liberalismus als globalem und imperialen Herrschaftskonzept herausgearbeitet. Die damit einhergehende methodische Zerreißung des Gegenstands dient zugleich, wie „Hegel und Haiti“ zeigt, dazu, die Zusammenhänge zwischen Kolonisierern und Kolonisierten oder Versklavten unsichtbar zu machen und scheinbar getrennt voneinander erzählbare Geschichten zu hinterlassen. 

Selbst Marxisten wie Eric Hobsbawm gelang es, so der haitianische Historiker Michel-Rolph Trouillot in seiner einflussreichen Schrift Silencing the Past. Power and the Production of History, sein Zeitalter der Revolutionen zu schreiben, ohne in nennenswerter Weise auf die haitianische Revolution Bezug zu nehmen. Buck-Morss fährt fort: „Man könnte an dieser Stelle natürlich das Gespenst des Eurozentrismus die Bühne betreten lassen, aber damit würde man die Frage vernachlässigen, wie der Eurozentrismus selbst historisch konstruiert wurde und welche Rolle Haiti dabei möglicherweise gespielt hat.“ (S. 27f.) Auch dies demonstriert sie an Hegel, der sich in seinen späten Schriften abfällig über die Entwicklung Haitis äußert und zu einer pragmatischen Rechtfertigung von Kolonialismus und Sklaverei gelangt, für deren nur allmähliche Abschaffung er plädierte. Damit folgte Hegel der Politik der neuen globalen Hegemonialmacht, des britischen Empires, das sich in Reaktion auf die haitianische Revolution und der von ihr ausgehenden Unruhe in allen Sklavenökonomien für eine Politik der Regulierung und Einschränkung des Sklavenhandels entschied, um als neuer Regulator produktiver Klassenbeziehungen auftreten zu können. Eurozentrismus wird so als Reaktion der Herrschenden auf ein von Anfang an bestehendes Kampfverhältnis kenntlich gemacht.

Der zweite Essay zur Universalgeschichte ist auch eine Antwort auf Einwände, die aus den Reihen der postcolonials gegen ihren Hegel-Haiti-Aufsatz erhoben wurden: Sie lese Hegel zu unkritisch und plädiere doch wieder für einen universalistischen Humanismus. Und genau darum geht es ihr, „die Idee einer universellen Geschichte der Menschheit aus den Händen derer zu retten, die sie allzulange im Sinne der weißen Vorherrschaft mißbraucht haben. Wenn es gelingt, die Freiheit betreffende historische Tatsachen aus den Narrativen der Sieger herauszulösen und für unsere Zeit zu bewahren, dann gibt es keinen Anlaß, das Projekt der universellen Freiheit aufzugeben, sondern es gilt vielmehr, dieses Unterfangen zu rehabilitieren und auf einer neuen Grundlage wieder auf die Beine zu stellen.“ (S. 105)

Im ersten Abschnitt, „Haiti und die Erschaffung Europas“, konfrontiert sie die gewohnten Erzählungen der europäischen Geschichte mit dem Blick aus Haiti: „Ist es vorstellbar, daß die Sklaverei auch in Europa, also in den Metropolen der Kolonialmächte selbst, hätte Fuß fassen können?“ (S. 119) Sie erinnert daran, dass im Übergang von der mittelalterlichen Leibeigenschaft zur „doppelt freien“ und daher auch unfreien Lohnarbeit des Kapitalismus die Sklaverei sehr wohl eine Option war. Die durch die Einhegungen der Allmenden von ihren Subsistenzmitteln „befreiten“ ehemaligen Bäuerinnen und Bauern mussten erst durch „grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert“ werden, wie Marx im Kapital schreibt. Die Situation der proletarisierten Massen in Europa und der versklavten ProletarierInnen, die aus Afrika in die Karibik verschleppt worden waren, unterschied sich daher keineswegs derart, wie es die späteren Erzählungen erscheinen lassen: „So bestand das eigentliche Problem (und in Wahrheit gilt das auch noch heute) nicht darin, auf welche Weise man die Arbeiter am gründlichsten ausbeuten konnte, sondern darin, wie sie sich dazu bewegen ließen, sich freiwillig in ihr Schicksal zu fügen“ (S. 122). Die Existenz der Sklaverei auf den Plantagen wurde zur ideologischen Folie, vor der die Ideologie der „freien Lohnarbeit“ erst richtig zur Geltung kam und die strukturellen Zwänge der „Lohnsklaverei“ verdeckt werden konnten. Umgekehrt wurde der rassistische Diskurs umso intensiver, je stärker die Versklavten gegen ihre Unfreiheit rebellierten – oder in den Worten des karibischen Historikers Eric Williams von 1944, die sie zitiert: „Die Sklaverei ist kein Ergebnis des Rassismus; vielmehr war der Rassismus die Folge der Sklaverei.“ (S. 123)

Nach der Revolution in Haiti waren die neuen Herrscher Toussaint-L’Ouverture und Dessalines bemüht, die exportorientierte Plantagenwirtschaft durch eine Militarisierung der Arbeit aufrechtzuerhalten, um die Macht des jungen Staats zu retten – was ihnen letztlich nicht gelang. Diese Bemühungen wurden von den Abolitionisten in England aufmerksam verfolgt, da es nicht um Sklaverei an sich, sondern um die Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin ging. Unter Bezug auf die Studie von David Brion Davis zeigt Buck-Morss, wie das britische Empire, eben indem es sich zum heldenhaften Überwinder der Sklaverei stilisierte (1807 wurde der Sklavenhandel in England verboten), den Begriff der Freiheit untrennbar mit der Ideologie der freien Lohnarbeit verbinden konnte, die die Niederlage der englischen Arbeiterbewegung besiegelte. Freiheit bedeutete ab nun „freies Eigentum plus freier Arbeiter plus freier Handel“, zusätzlich untermauert durch rassistische Vorstellungen der Differenz, womit dem antikapitalistischen Impuls der Bewegung die Basis entzogen wurde (S. 134).

Im nächsten Schritt geht sie darauf ein, wie beide Seiten dieses „freien“ Klassenverhältnisses, Kapital und Lohnarbeit, durch die Entwicklungen in der Karibik geprägt waren. In einer kurzen, aber weitreichenden Skizze weist sie auf die neuere Forschung zu Fabrik und Arbeitsdisziplin hin, die deren Ursprünge nicht in der glorreichen industriellen Revolution Englands, sondern im Plantagensystem des 17. und 18. Jahrhunderts ausmacht – was Sidney Mintz in seiner Geschichte des Zuckers, Die süße Macht, 1985 bereits angedeutet hatte. Für die Seite der Arbeit bezieht sie sich vor allem auf das Buch Die vielköpfige Hydra von Peter Linebaugh und Marcus Rediker, in dem ein lebendiges Bild des „buntscheckigen Haufens“ aus zwangsverpflichteten Iren und Engländern, entflohenen afrikanischen Sklaven und rebellischen Seeleuten gezeichnet wird, deren Kämpfe die große Bedrohung für die kapitalistische Expansion im atlantischen Raum vor der industriellen Revolution darstellten. Sie sehen darin einen „Universalismus von unten“, dessen Gefährlichkeit erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch die Aufspaltung in eine „weiße“ Arbeiterbewegung in den Metropolen und „black power“ im Süden fragmentiert und eingedämmt werden konnte.

Angesichts der heutigen Globalisierung des Kapitals hält es Buck-Morss für aktuell und dringlich, wieder einen Weg zu diesem – auch in der Geschichtsschreibung – verschütteten Universalismus von unten zu finden, und sieht daher auch in der hier beispielhaft praktizierten Kritik der „Geschichte“ als akademischer Disziplin einen Schritt auf diesem Weg. Dabei geht es um nicht weniger als die praktische Kritik an der kolonial-postkolonialen Ausbeutung wieder mit der von Marx keineswegs metaphorisch, sondern im Wortsinn verstandenen „Lohnsklaverei“ zu verbinden. Dazu plädiert sie für eine Universalgeschichte als unabschließbares „Projekt“, um „die Grenzen unserer Imagination Stein für Stein abzutragen und so allmählich jene Form der kulturellen Einbettung zu lockern, die die Bedeutung der Vergangenheit in einer Weise festlegt, die unsere Freiräume in der Gegenwart einschränkt. Wir leben hinter kulturellen Grenzzäunen, und es ist ein Segen für die Politiker, daß diese gut bewacht werden“ (S. 205). 

Damit richtet sie sich nicht nur gegen einen Menschenrechtsuniversalismus, mit dem heute die neuen Kriege gegen den Süden begründet werden, sondern auch gegen einen kulturellen Relativismus, der nach hybriden Formen als Überwindung der Spaltungen sucht. Ihr Vorschlag ist es, an den Rändern, in den Rebellionen und Aufständen nach Ansatzpunkten eines neuen Humanismus zu suchen, der dessen eurozentristische Prägung überwinden kann. Sie nennt dies „die Porosität eines globalen sozialen Feldes, auf dem individuelle Erfahrungen nicht in erster Linie hybrid, sondern schlicht menschlich sind“ (205). An dem scheinbar kleinen, aber welthistorisch gigantischen Beispiel der haitianischen Revolution hat Susan Buck-Morss eindrucksvoll gezeigt, wie sich solche „Ausgrabungsarbeiten …, bei denen es überhaupt keine Grenzen gibt“ (S. 207), vielleicht durchführen ließen.

Susan Buck-Morss, Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte, edition suhrkamp, Berlin 2011, 222 Seiten, 16,- Euro

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