Raúl Argemí hat die Hölle gesehen. Zehn Jahre verbrachte er in den Kerkern der argentinischen Militärjunta, und es gibt wohl kaum eine menschliche Perversität, die ihm erspart geblieben wäre. Zweifelt er deshalb an dem Guten im Menschen? Liegen deshalb das Gute und das Böse bei ihm nahe beieinander und gehen ineinander über? In Interviews redet der Autor nicht gern über seine lange Gefangenschaft in der Todeszelle, über die erlebten und erlittenen Grausamkeiten. Es sei nicht dasselbe, ob man als normaler Häftling sitzt oder als politischer Gefangener.
In seinem Roman „Chamäleon Cacho“ tauchen sie auf, all die Ekel erregenden Foltermethoden aus den geheimen Kellern und Verliesen der argentinischen Militärs, ihre unglaublichen Methoden, die Opfer verschwinden zu lassen, die schmutzigsten Taten aus dem argentinischen guerra sucia (Schmutziger Krieg), all die Verbrechen, für die sich etwa 1978, auf dem Höhepunkt der Barbarei, eine Fußball begeisterte Weltöffentlichkeit kaum interessierte. Der Roman, in Patagonien angesiedelt und in Spanien beendet, ist so etwas wie eine Verarbeitung der erlebten Brutalitäten, die Befreiung von einer Last. „Abstand hilft, wenn man Schlimmes erlebt hat“, sagt Argemí dazu. Es braucht Zeit und Distanz, um das Erlebte zu verdauen.
In dem komplex strukturierten Roman gibt es mindestens drei Handlungsstränge. Der Roman beginnt fast wie Kafkas „Verwandlung“: Manuel Carraspique erwacht im Bett, ohne Gefühl in den Beinen, paralysiert, bei dumpfem Bewusstsein. Er schlägt die Augen auf und glaubt neben sich zu stehen, beobachtet sich selbst im Krankenbett. Er hatte einen schweren Autounfall, findet sich in einem Krankenhaus in der argentinischen Provinz wieder und kann sich nur an seinen Namen und daran erinnern, dass er Journalist ist. Nur langsam erholt er sich von seinen schweren Verletzungen. Sein Krankenzimmer teilt er sich mit einem Sterbenden, den alle Prudencio Márquez nennen und der so schwere Verbrennungen erlitten hat, dass er bis zur Unkenntlichkeit entstellt ist. Márquez ist Mapuche und angeblich Exorzist, im Wahn der Teufelsaustreibung soll er seine Familie erschlagen und sich selbst angezündet haben.
Manuels professionelle Neugierde ist jedenfalls geweckt. Er wittert eine interessante, spannende Story, dringt mit hartnäckigen Fragen in seinen Zimmergenossen ein und entlockt ihm fürchterliche, haarsträubende Geschichten um eine Person namens Cacho, der, einem Chamäleon gleich, eine beeindruckende Fähigkeit zur Verwandlung besitzt und seine ZeitgenossInnen glauben macht, je nachdem, was gerade am zweckdienlichsten ist, er sei Priester, Arzt, Drogendealer, Soldat, Guerillero oder Folterknecht. Cachos Horrorstories liefern sozusagen den dritten Handlungsstrang des Romans.
Cacho ist der eigentliche Protagonist des Romans, der Verbrecher, aus dessen Perspektive erzählt wird. Zu Zeiten der Diktatur war er Folterknecht, misshandelte unzählige Gefangene, ohne ein Psychopath zu sein. Vielmehr erfüllte er wie ein treuer Staatsdiener und Beamter seine Pflicht, hielt sich an seine Dienstzeiten, verhörte zu bestimmten Uhrzeiten, begleitete seine Gefangenen auf Flügen über den Atlantik, von denen diese dann nicht mehr zurückkehrten, schrieb fleißig Berichte und machte pünktlich Feierabend. Zu Zeiten der Demokratie nimmt er verschiedene Identitäten an, um ungestört seinen krummen, kriminellen Geschäften nachgehen zu können.
Der Roman ist ein Meisterwerk, ein roman noir, eine novela negra par excellence, die einem Chandler oder Hammett alle Ehre machen würde. Es fehlt allerdings der Kommissar, der die Verbrechen untersuchende, ermittelnde und aufklärende Polizist. Polizisten mag Argemí nicht, ebenso wenig wie Privatdetektive, keine an Gerechtigkeit glaubenden Philip Marlowes. Die seien in Argentinien einfach unglaubwürdig, so Argemí. Es geht ihm eben nicht um die Aufklärung eines Verbrechens, sondern allein um dessen Schilderung sowie um die Psychologisierung des Kriminellen. Es fehlen Belehrungen und Botschaften, die LeserInnen sollen durch das Geschilderte zum Nachdenken angeregt werden.
Wie andere lateinamerikanische Romanciers bedient sich Argemí also des Krimis, um politische und soziale Zustände zu beschreiben. Die thematischen Aspekte sind vielfältig: Es geht um Rassismus gegen die Mapuche, Drogen und Korruption, politische Gewalt und Straflosigkeit, Politik und Verbrechen. Auch steht Argemí mit seinem Roman in bester argentinischer Tradition: Borges und Bioy Casares, Arlt und Walsh. Denn über allem ist der Roman spannend erzählt, kurz und knapp konzipiert, und am besten in einem Rutsch zu lesen, damit er seine maximale Wirkung entfalten kann.
Raúl Argemí, Chamäleon Cacho, Unionsverlag, Zürich 2008, 160 Seiten, 14,90 Euro